Studie prognostiziert geringeren Meeresspiegelanstieg durch Gletscher
Eine globale Analyse des Gletschereises findet ein Fünftel weniger Eis als gedacht. Beim Blick in die Details schwinden die Abweichungen zu älteren Berechnungen, doch andere Probleme werden sichtbar.
Rund 217.000 Gletscher gibt es auf der Erde. Viele von ihnen schmelzen infolge der Klimaerwärmung. Fachleute beobachten das mit Sorge, denn das Gletscherwasser würde den Meeresspiegel weiter ansteigen lassen. Dem jüngsten Bericht des Weltklimarats zufolge haben Gletscher einen Anteil von 22 Prozent am Meeresspiegelanstieg infolge der Klimakrise. Nun lässt eine neue Studie zum Gletschereis aufhorchen: Anhand von hochauflösenden Satellitendaten der Jahre 2017 und 2018 hat ein Forschungsteam die Fließgeschwindigkeiten für 98 Prozent aller Gletscher ermittelt und daraus deren Volumina berechnet. Im Ergebnis erwartet die Studie infolge der Gletscherschmelze einen mittleren globalen Meeresspiegelanstieg, der mit 257 Millimetern um ein Fünftel geringer wäre, als bisherige Berechnungen prognostiziert haben.
Deckung mit früheren Studien durch Unsicherheit möglich
Grund zur Entwarnung wäre das noch lange nicht. Doch an der Studie nicht beteiligte Experten gehen einen Schritt weiter und bewerten die neue Analyse zumindest hinsichtlich des Meeresspiegels als keine echte Neuigkeit gegenüber den bisherigen Daten. So erläutert Ben Marzeion, Professor für Klimageographie an der Universität Bremen, dass die neue Studie das Eisvolumen – im Gegensatz zum Meeresspiegelanstieg – lediglich elf Prozent geringer einschätze als frühere Analysen. „Berücksichtigt man, dass die vorigen Zahlen in etwa dem Eisvolumen des Jahres 2000 entsprechen und dass seitdem die Gletscher Eis verloren haben, bleiben nur etwa sieben Prozent Differenz übrig.“ Das sei kein signifikanter Unterschied zur vorigen Abschätzung, wenn man die Unsicherheiten einbeziehe. Auch Thorsten Seehaus, Geograph an der Universität Erlangen-Nürnberg, kommentiert im Vergleich zur bisherigen Referenz: „Alle Annahmen unterliegen einer gewissen Unsicherheit, die auch immer mit angegeben wird. Schaut man sich die Unsicherheiten beider Studien an, sieht man, dass sich die Ergebnisse von beiden Studien in diesem Unsicherheitsbereich klar überlappen.“ Unter Berücksichtigung der Unsicherheit liegt der Meeresspiegelanstieg durch die Gletscherschmelze in der neuen Studie demnach irgendwo zwischen 172 und 342 Millimetern. Die bisherige Referenz ging von 240 bis 400 Millimetern aus.
Marzeion weist außerdem auf eine Besonderheit der neuen Studie hin: „Der um 20 Prozent verringerte potenzielle Beitrag zum Meeresspiegel rührt lediglich daher, dass die aktuelle Studie größere Teile des Eises in der Antarktis dem Eisschild zuschlägt – statt den vom Eisschild unabhängigen Gletschern.“ Entsprechend erhöhe sich der potenzielle Beitrag des antarktischen Eisschilds um den gleichen Betrag. „Ich halte daher die Angabe eines um 20 Prozent verringerten Potentials des Meeresspiegelanstiegs für grob irreführend – die ‚Umbuchung‘ des Eises von der einen Kategorie in die andere hat keinerlei Auswirkungen auf den tatsächlich zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels.“
Genauigkeit der Gletscherdaten steigt
Für die Qualität einer satellitengestützten Studie über das Volumen von Gletschern ist die Kalibrierung der Daten sehr wichtig, also der Abgleich mit Beobachtungsdaten, die vor Ort gewonnen wurden. Der größte Teil der Gletscher der Erde ist jedoch nicht oder nur unter großen Mühen für entsprechende Forschungsexpeditionen zugänglich. Zugleich sind die Kosten für Radarmessungen oder Tiefenbohrungen oft ein Hemmnis. Inzwischen gibt es aber eine internationale Datenbank der Gletscherforschung, deren Informationsbestand kontinuierlich wächst. Trotz aller Unsicherheiten, die auch die neue Studie nicht umgehen kann, sind sich die hier zitierten Fachleute deshalb einig, dass die vorliegende Analyse vor allem auch die regionale Genauigkeit der Gletscherdaten weiter verbessert hat.
Beispielsweise resümiert Matthias Huss, Gletscherforscher an der ETH Zürich: „Diese Studie ist eindeutig ein großer Schritt vorwärts, da sie sich auf viel detailliertere Satellitendaten stützt als frühere Untersuchungen. Die Methodik ist innovativ und dieser Ansatz konnte nun das erste Mal auf globaler Skala angewendet werden.“ Im Vergleich zu den ersten Studien, die die globale Eisdicke schätzten, seien die 4 700 Gletscher mit Messungen ein gewaltiger Fortschritt: „Vor zehn Jahren kannte man erst rund 300 Gletscher mit direkten Messungen der Dicke.“ Es sei genau die Herausforderung, die sich der Wissenschaft stellt, aufgrund von unvollständigen Informationen möglichst gute Aussagen machen zu können. „Die Fernerkundung liefert keine Daten zur Eisdicke, sondern nur Daten, mit welchen sich die Eisdicke mit Rechenmodellen ableiten lässt. Hier macht die Studie einen großen Fortschritt im Hinblick darauf, dass nun die ganze Breite der Fernerkundungsdaten in die Berechnung eingebunden werden kann.“ Dennoch findet auch er: „Grundsätzlich bleibt das Bild, das wir von der Verteilung des Eisvolumens haben, aber immer noch ähnlich, auch wenn die Zahlen nun immer genauer quantifiziert werden können.“
Konsequenzen für Hunderte Millionen Menschen in Gebirgsregionen
In den verbesserten regionalen Informationen liegt wohl der größte Wert der neuen Studie. So summieren sich die Gletscher der Anden den Satellitendaten zufolge auf 27 Prozent weniger Eis als bislang angenommen. Die Gletscher im Himalaya kommen dagegen auf 37 Prozent mehr Eis. Diese Erkenntnisse weichen von der bisherigen Referenzstudie ab und haben direkte Auswirkungen auf das Leben von Hunderten Millionen Menschen, deren Heimatorte nur existieren können, weil es dort von Gletschereis gespeiste Flüsse gibt. „Das Gletschervolumen bestimmt zum Beispiel, wie viele Wasserreserven in einem Einzugsgebiet vorhanden sind und potenziell schmelzen können, wenn sich die Gletscher – wie erwartet – weiter zurückziehen“, erläutert Regine Hock, Professorin für Hydrologie an der Universität Oslo. „Wenn die Eisvolumen wesentlich geringer sind als bisher angenommen, kann das erhebliche Auswirkungen auf die Frischwasserressourcen haben.“ Letztlich könnten sogar Kriege um Trinkwasser die Folge sein.
Die möglichen Konsequenzen erklärt Celia Baumhoer vom Earth Observation Center des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt: „Beispielsweise besteht laut dieser Studie ein größeres Süßwasservorkommen im Himalaya als bisher angenommen. Ob dieser Vorrat aber auch wirklich länger reichen wird oder es zu einem verstärken Abfluss kommt, muss mit regionalen Modellierungen überprüft werden.“ Wie schnell ein Gletscher abschmelze, werde nicht nur durch die Eisdicke und Größe bestimmt, sondern auch durch viele weitere Faktoren und Rückkopplungen – zum Beispiel Exposition, Schneeakkumulation, Albedo, Morphologie, Höhenlage, Topographie, Strahlung und Schuttbedeckung. Für Deutschland gehen die meisten Fachleute davon aus, dass die letzten Gletscher der Alpen noch in diesem Jahrhundert abgeschmolzen sein werden. Daran ändern auch die neuen Daten nichts.