Gefährliche Kippelemente im Klimasystem: Was die Wissenschaft weiß – und was noch nicht

Wird der Amazonas zur Savanne? Schmilzt die Antarktis unweigerlich ab? Wissenschaftler erkunden kritische Elemente im Erdsystem, die bei fortschreitender Erwärmung unwiderruflich kippen könnten. Doch wie groß ist die Unsicherheit in den Risikoanalysen?

21 Minuten
Steiniger Tundraboden neben Eis, im Hintergrund ein Berg.

Eine Waldfläche, die zusammengenommen fast halb so groß wie Deutschland war, ging im Sommer 2023 in Kanada in Flammen auf. 2024 war die Erde erstmals im Jahresdurchschnitt um 1,5 Grad wärmer als noch vor Beginn der Industrialisierung. Die Eisfläche auf dem Meer rund um die Antarktis lag 2024 um 11 Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt, nachdem 2023 mit 15 Prozent ein neuer Negativrekord erreicht war. Bei Messungen im Atlantik zweifelten die Fachleute zunächst an ihren Instrumenten, so warm war das Wasser. Als „absolut verrückt“ stuften viele Wissenschaftler die Rekorde des Jahres 2023 schon ein, als es noch gar nicht vorbei war. „Wir betreten klimatisches Neuland“, hieß es.

Doch all das ist erst der Anfang der Klimakrise. Ohne tiefgreifende Änderungen steuert die Menschheit derzeit auf bis zu 2,8 Grad Celsius Erwärmung am Ende des Jahrhunderts zu. Spätestens jenseits von 1,5 Grad Celsius mehr im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung, warnen Klimaforschende, lauern extreme Gefahren für uns und die Natur: Überschwemmungen, Ernteausfälle und Dürren, die bisherige Desaster in den Schatten stellen.

Neuralgische Regionen unseres Planeten

Viele Menschen fragen sich: Wo soll das noch hinführen? Die Antwort könnte noch beunruhigender sein als gedacht. „Kippelemente“ werden bestimmte Regionen, Meeresströmungen und Lebensräume genannt, die überragend wichtig dafür sind, wie die Erde funktioniert und das jeweilige Weltklima entsteht. Ab einem gewissen Grad an Erwärmung, dem sogenannten Kipppunkt, warnen Experten, könnten an diesen neuralgischen Stellen lawinenartige Veränderungen ins Rollen kommen, die sich selbst verstärken und den Klimawandel zusätzlich anheizen. Die Veränderungen können über Tausende Jahre unumkehrbar sein, weil man etwa eine Meeresströmung nicht einfach wieder anschalten oder ein Ökosystem durch ein anderes ersetzen kann.

Ein Beispiel ist der Regenwald im Amazonas. Er trocknet wegen Niederschlagsmangels allmählich aus. Infolge der Dürre im November sank sein Pegelstand zeitweilig um 17 Meter. Das Austrocknen setzt große Mengen an Kohlenstoff frei, was die globale Temperatur zusätzlich nach oben treibt. Ab dem Kipppunkt wird der Regenwald zur trockenen Savanne – und bleibt auf unabsehbare Zeit in diesem Zustand. Bis zu 275 Milliarden Tonnen CO₂ könnten dadurch zusätzlich in der Atmosphäre landen und die Erde um weitere 0,2 Grad Celsius erwärmen.

Wald nach einem Brand. Im Vordergrund schwarze Äste, über der Landschaft liegt Rauch, im Hintergrund wenige Bäume, die noch stehen. Ein Anblick der Naturzerstörung.
Niedergebrannter Regenwald im Amazonasbecken: Fleischkonsum treibt die Zerstörung voran.

Weitere Kandidaten für solche Kippelemente sind die großen Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis, der Wald in der borealen Zone, die großen Meeresströmungen im Atlantik sowie die Permafrostgebiete. Sie unterscheiden sich stark darin, ab welcher Erwärmung sie zu kippen beginnen, wie schnell dies verläuft und um wie viel heißer die Erde dadurch wird.

Manche Umbrüche könnten nur Jahrzehnte brauchen

So könnte das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds schon bei einer Temperaturerhöhung von 1,5 Grad Celsius so in Gang kommen, dass der Prozess nicht mehr aufzuhalten ist. Ganz eisfrei wäre die Arktis erst in vielen Tausend Jahren. Aber schon bald gäbe es enorme globale Folgen, etwa einen starken Anstieg des Meeresspiegels. Bei der Verwandlung des Amazonaswalds in eine Savanne liegt die wahrscheinliche Schwelle mit 3,5 Grad Erwärmung deutlich höher. Aber der ganze Prozess könnte viel schneller, über nur 100 Jahre hinweg, verlaufen. Korallenriffe könnten dagegen sogar binnen weniger Jahrzehnte absterben, wenn es nur 1,5 Grad wärmer wird.

Der Klimawandel besteht also nicht einfach darin, dass es jedes Jahr ein bisschen wärmer wird. Es lauern Gefahren in weit entfernten Regionen des Planeten. Der Klimawandel könnte sich sogar ohne zusätzliche CO₂-Emissionen beschleunigen, weil die Natur selbst sich dramatisch verändert. Wo also liegen diese Kippelemente? Wann werden sie ausgelöst? Welche Auswirkungen hätte das, und wird es wirklich kritisch? Haben wir noch eine Chance, das Schlimmste zu verhindern und die Hände wieder von den Kippschaltern zu nehmen?

Bunte Häuser vor schneebedeckten Bergen.
Siedlung auf Grönland: Wie lange hält das ewige Eis?
Hohe Wellen unter grauem Himmel.
Die atlantische Meeresströmung versorgt Europa mit tropischer Wärme.
Bild mit zwei Hälften, links ein intaktes Riff, rechts ein ausgebleichtes.
Korallenbleichen werden häufiger unf Korallen erholen sich immer schlechter davon.
Luftaufnahme weiter grüner Tundra mit Seen und Fluss.
Die arktische Tundra ist heute noch von Permafrost geprägt.
Pinguine und Eislandschaft.
In der Antarktis gibt es rund 400 geographische Namen mit Deutschlandbezug.
Nördliche Waldlandschaft.
Boreale Wälder speichern große Mengen Kohlenstoff.
Ein buntes Boot auf einem Fluss im Amazonas.
Amazonas: Heute Regenwald, übermorgen Savanne?
Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!