Moose! Warum der Winter die beste Jahreszeit ist, die Multitalente der Pflanzenwelt zu entdecken
Schmuddelwetter, Kälte, nichts los in der Natur? Es gibt (mindestens) einen Grund, trotzdem rauszugehen. Eine kleine Hymne an die immergrünen Multitalente der Pflanzenwelt
Der Januar ist eine eher karge Zeit für Naturbeobachter. Bäume und Büsche sind kahl, die meisten Singvögel in ihre südlichen Winterquartiere verschwunden, und was sonst noch flattert, krabbelt oder sprießt, hat sich schon vor Wochen in den Boden oder unter Baumrinden zurückgezogen.
Aber die Natur liegt nicht komplett im Winterschlaf. Jetzt ist die beste Zeit, eine Artengruppe zu entdecken, die in ihrer Mehrheit ganzjährig präsent ist, aber meist übersehen, achtlos mit Füßen getreten oder gar mit Gift und Hochdruckreiniger bekämpft wird: Moose.
Ich hatte vor Kurzem Gelegenheit, einige Tage lang bei einem der besten Moos-Experten Deutschlands in die Lehre zu gehen: dem Botaniker Dr. Carsten Schmidt aus Münster. Er leitete einen Moos-Bestimmungskurs im Rahmen des Projekts KennArt zur Förderung der Artenkenntnis. Durch diesen Kurs bin ich zwar nicht zur Mooskennerin geworden – dafür sind ein paar Tage entschieden zu kurz – aber mein Blick auf die Natur hat sich deutlich erweitert. Ich empfinde das Bestimmen von Moosen als ideales Kontrastprogramm zum Vogelbeobachten, allein schon deshalb, weil man die Beobachtungsobjekte in aller Ruhe aus nächster Nähe betrachten kann.
Es gibt viele Gründe, sich von Moosen faszinieren zu lassen. Hier ist eine (unvollständige) Liste:
1. Moose sind schön!
Wer immer das Wort „moosgrün“ erfunden hat: Er oder sie hat sich nie die Mühe gemacht, Moose genauer wahrzunehmen. Denn das Farbspektrum der insgesamt 16.000 weltweit bekannten Arten reicht von dunkelbraun über kupferrot bis weizengelb; dazwischen liegt eine Skala von Grüntönen, für die man ein eigenes Sortiment von Adjektiven erfinden müsste.
Tiefes Tannendunkel ist ebenso dabei wie kühle Türkis-, frische Apfel- und stechende Neontöne. Es gibt sogar Arten mit eingebautem Leuchteffekt, wie Schistostega pennata, das Leuchtmoos, das nicht überraschenderweise vor allem in Eingängen von Höhlen und Tierbauten vorkommt.
Die besondere Schönheit der Moose aber liegt in ihrer Formenvielfalt. Die erkennt man meist erst unter der Lupe: Da erscheinen zarte, kaum zentimeterdicke Kissen plötzlich wie Kronendächer mächtiger Wälder, die, je nach Art, mit fein verzweigten Nadel- oder Laubbäumen bestückt sind. Manche Moose erinnern auch an Farnwedel, windzerzauste Kornfelder oder eine Ansammlung anmutig gebogener Tierpfötchen.
Um diese Vielfalt zu erleben, muss man übrigens nicht um die halbe Welt reisen, nicht mal in ein Naturschutzgebiet fahren. Man kann sie meist direkt vor der Haustür finden. Denn das Tolle ist:
2. Moose sind überall.
Es gibt nur wenige Biotope, die komplett moosfrei sind: Salzwasser etwa, Eisflächen und Sandwüsten. Alle anderen Lebensräume haben Moose sich erobert, wozu sie auch genug Zeit hatten: Vor 450 bis 400 Millionen Jahren entwickelten sie sich aus jenen Urpflanzen, die erstmals den Übergang vom Wasser aufs Land schafften; Farne und Blütenpflanzen tauchten erst Millionen Jahre später auf. Gegenüber diesen haben Moose den Vorteil, dass sie keine Wurzeln schlagen; sie können also auch Oberflächen besiedeln, die für Gefäßpflanzen undurchdringlich sind.
Moose gedeihen auf Baumstämmen, Zaunpfählen, Erdwällen, auf dem Grund von Gewässern, auf nackten Felsen und an Gemäuern aller Art. Ob aus Kalk-, Sandstein oder auch Beton – Mauern sind ideale Moos-Habitate, vorausgesetzt, sie werden nicht mit Hochdruckreinigern behandelt. Ordnungsliebende Denkmalpfleger sind die natürlichen Feinde aller Moosliebhaber.
Schon an den Mauern eines einzigen Häuserblocks finden sich oft Dutzende verschiedener Spezies – vorausgesetzt, die Häuser stehen schon ein paar Jahrzehnte. Und wenn man einen halbwegs naturnahen Garten inspiziert, kann man noch weitere entdecken. Denn:
3. Deutschland ist ein Moos-Eldorado.
Die Natur Mitteleuropas ist im globalen Vergleich eher karg. Keine noch so üppig blühende Magerwiese, kein totholzreicher Naturwald kann mit der Artenfülle tropischer Regenwälder oder Korallenriffe konkurrieren. Bei Moosen jedoch sieht das Bild etwas anders aus. Zwar finden sich in Tropen und Subtropen die meisten Arten; diese machen jedoch nur einen kleinen Teil der gesamten Pflanzenvielfalt aus. Je weiter nördlich eine Region liegt, desto mehr kehrt sich das Verhältnis um: In der arktischen und antarktischen Tundra dominieren die Moose bei weitem, sowohl nach der Zahl der Arten als auch ihrer Biomasse. Im gemäßigten Mitteleuropa stellen die Moose immerhin noch ein gutes Viertel aller Pflanzenarten; insgesamt 1150 kommen in Deutschland vor.
Wer auch nur einen Teil der bei uns heimischen Spezies kennenlernen und sicher bestimmen will, hat eine spannende Lebensaufgabe vor sich. Denn auch wenn Moose sich ganzjährig und in Ruhe betrachten lassen – sie machen es ihren Beobachtern keineswegs leicht. Vielmehr ist ihre Bestimmung eine Herausforderung, vor der selbst gestandene Naturkenner gelegentlich kapitulieren. Aber genau das macht auch ihren Reiz aus. Wer sich darauf einlässt – und das kann man auch als Nicht-Botaniker – wird erleben:
4. Moosbestimmung trainiert Wahrnehmung und Spürsinn.
Wer bei einem Waldspaziergang zufällig auf Mooskundige trifft, wird sie womöglich für Kriminalbeamte der Abteilung Spurensicherung halten. Meist knien oder hocken sie auf dem Boden, eine Lupe vor Augen, um aus nächster Nähe den Bewuchs auf Baumstämmen, Felsblöcken oder Erdwällen zu inspizieren. Ohne Lupe gehen Moos-Interessierte nie aus dem Haus; sie hilft, die meisten Gewächse zumindest einer Gattung zuzuordnen. Deren Name bezieht sich oft auf Details wie die Form und Erscheinungsbild der millimetergroßen Sporenkapseln, die über die Zweige hinausragen: Apfelmoos, Kurzbüchsenmoos, Glockenhutmoos, Zackenmützenmoos.
Der korrekte Name einer Art lässt sich oft erst mithilfe eines Binokulars ermitteln, dessen 40fache Vergrößerung die Ränder und die Struktur der winzigen Moosblätter erkennen lässt. Manche Moose geben ihre Identität sogar erst beim Blick durch ein mehrhundertfach vergrößerndes Mikroskop preis – und nach ausgiebigem Blättern in dickleibigen Bestimmungsbüchern.
Aber diese Arbeit lohnt sich. Denn Artenkenntnis erschöpft sich ja nicht darin, einem Lebewesen einen bestimmten Namen zuordnen zu können. Es heißt im Idealfall auch, die Eigen-Art dieses Wesens zu kennen: wo es gedeiht, welche Ansprüche es an seine Umwelt stellt, welche ungewöhnlichen Eigenschaften und Fähigkeiten es hat. Bei Moosen sind das eine ganze Menge. Denn:
5. Moose sind Multitalente.
Die Luft europäischer Großstädte soll schon bald merklich besser werden: durch City Trees, Holzkonstruktionen mit Mooseinlage, die Schadstoffe aus der Luft filtern und ihre Umgebung um bis zu vier Grad kühlen. Wie effektiv das funktioniert, wird sich erst bei dauerhaftem Einsatz an verschiedenen Standorten herausstellen. Ein Langzeitversuch an einer stark befahrenen Straße in Stuttgart lässt vermuten, dass Mooswände zumindest kein Ersatz für eine konsequente Verkehrswende sein können. Unbestritten ist jedoch, dass Moose, dank ihrer großen Oberfläche, sowohl reichlich Feinstäube filtern als auch Wasser speichern können, je nach Art das sieben- bis 30fache ihres Trockengewichts.
Auch die üppigen Moosteppiche in den Wäldern tragen dazu bei, dass die sommerlichen Höchsttemperaturen dort bis zu vier Grad unter denen in der offenen Landschaft liegen. In den dichtverzweigten Polstern finden viele Kleintiere Unterschlupf; Vögel nutzen die weichen Fasern als Nistmaterial und nähren sich manchmal auch von ihnen.
Die Namen mancher Arten erinnern daran, dass Moose auch für Menschen nützlich sind. Das Gewöhnliche Gabelzahn- oder Besenmoos (Dicranum scoparium) wurde früher zum Besenbinden verwendet, Schlafmoos (Hypnum cupressiforme) diente als Kissenfüllung, wegen seiner (nicht belegten) schlaffördernden Wirkung und seiner (nachgewiesenen) Fähigkeit, auch in getrocknetem Zustand Körperschweiß aufzusaugen. Deshalb, aber auch weil sie das Wachstum von Mikroben hemmen, wurden manche Moosarten von indigenen Völkern als Windeln und Wundkompressen genutzt.
Ihren größten Nutzen aber entfalten Moose, wenn sie in der Natur bleiben. Das haben als erste die Forschenden erkannt, die sich mit der Ökologie von Mooren befassen. Moore bestehen aus Torfmoosen, die praktisch unbegrenzt in die Höhe wachsen. Nur die oberste Schicht lebt, die absterbenden Teile darunter zersetzen sich nicht an der Luft, sondern bilden, da in Wasser eingelagert, mit der Zeit immer dickere Schichten. Diese speichern große Mengen CO2. Der Schutz noch intakter Moore und die Wiederbelebung der bereits entwässerten sind daher entscheidend, um das Fortschreiten des Klimawandels zumindest zu bremsen.
Ob sie nun eher Kohlenstoff speichern, Wasser aufsaugen oder Schadstoffe filtern – eines tun alle Moose gleichermaßen: Sie erzählen. Sie geben Auskunft darüber, ob der Boden unter ihnen wechselfeucht oder sumpfig ist, aus Silikat- oder Kalkstein besteht, wie viel Stickstoff der Regen enthält, der sie benetzt, und ob der Wald, in dem sie wachsen, regelmäßig durchforstet wird oder über lange Zeit unberührt geblieben ist. Wer Moosen „zuhören“ kann, gewinnt umfassende und hochdifferenzierte Informationen über den Zustand der Natur, und das auch noch das ganze Jahr über. Wenig überraschend daher:
6. Mooskundige sind gefragt wie nie.
Zurzeit gibt es in ganz Deutschland nicht viel mehr als ein Dutzend ausgewiesene Expertinnen und Experten für Bryologie, wie die Mooskunde wissenschaftlich heißt. „Wenn wir uns nur auf biologischem Wege vermehren könnten, wären wir längst ausgestorben“, sagt Carsten Schmidt scherzhaft über sich und seine Fachkollegïnnen.
Dass Moosexpertise so rar ist, hat seinen Grund: Die Universitäten bringen seit Jahrzehnten kaum noch artenkundigen Nachwuchs hervor. Taxonomie, Morphologie und Ökologie, einst Kernfächer für angehende Biologïnnen, sind aus dem Lehrangebot vieler Fakultäten verschwunden; Lehrstühle, die sich speziellen Bereichen der Botanik oder Zoologie widmeten, sind gestrichen oder zumindest stark reduziert worden.
Deshalb geben Moos-Experten wie Carsten Schmidt ihr Wissen jetzt vermehrt in Kursen und auf Exkursionen weiter. Der Zuspruch ist groß, auch weil sich herumspricht, dass Absolventïnnen mit fundierter Expertise auf Jahre hinaus gesucht sein werden. Von Naturschutzbehörden, die Rote Listen erstellen oder Monitoringprogramme auflegen, von Verbänden, die Schutzgebiete betreuen, von Umweltplanungsbüros, die Folgen von Eingriffen in die Landschaft abschätzen. Und natürlich von Forschenden, die untersuchen, wie Natur auf großräumige Veränderungen – etwa steigende Temperaturen, Wetterextreme und Schadstoffemissionen – reagiert.
Vor allem dazu können Moose eine Menge „erzählen“. Denn ihre Lebensbedingungen haben sich in den vergangenen 50 Jahren in vielerlei Hinsicht stärker verändert als in den 10.000 Jahren davor.
Zunächst hat der durch Luftverschmutzung verursachte saure Regen die Vielfalt der Moosflora vielerorts dramatisch reduziert und zugleich säureliebenden Arten zu starker Ausbreitung verholfen. Die sind mittlerweile, dank der Rauchgasentschwefelung, wieder auf dem Rückzug. Dafür erobern die Stickstoff-Liebhaber immer mehr Biotope. Denn was mittlerweile allein über Niederschläge an Stickstoff auf der gesamten Fläche Deutschlands niedergeht, entspricht in vielen Regionen dem, was Landwirte in den 1950er Jahren mit Festmist auf ihren Äckern ausgebracht haben.
1150 shades of green – zu beobachten vor allem im Winter
Auch der Klimawandel wird sich natürlich auf das Artenspektrum der Moose auswirken. Aber um herauszufinden, wie genau, wird es mehr kundige Beobachterïnnen brauchen als es zurzeit gibt.
Ich würde im Prinzip gern dazugehören, bin jedoch unsicher, ob ich Zeit und Energie aufbringen könnte, mir die dazu nötige Expertise anzueignen. Das braucht Monate, wenn nicht Jahre, wie mir Carsten Schmidt versichert hat.
Lieber nehme ich Moose als Motivation, auch an grauen Wintertagen nach draußen zu gehen. Zu dieser Jahreszeit wachsen sie am stärksten, weil durch die kahlen Bäume mehr Licht an den Boden dringt. Feuchtes Schmuddelwetter fördert ihr Wachstum zusätzlich. Und wenn dann doch mal die Wintersonne herauskommt, leuchten sie besonders intensiv – in allen Schattierungen der wunderbaren Farbe Grün.