Pilze: Forscher errechnen globalen Wert von 55 Billionen Dollar (ja, Billionen) für ihre Leistungen

Ohne sie gäbe es kein Bier, kein Brot und kein Penizillin. Sie speichern Kohlenstoff und kommen als Baumaterial zum Einsatz. Forscher haben die ökonomische Leistung von Pilzen berechnet – und kommen auf eine atemberaubende Summe.

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Speisepilze mit brauner Kappe im Wald.

Ohne sie gäbe es kein Bier, kein Brot und kein Penizillin. Sie speichern Kohlenstoff und kommen als Baumaterial zum Einsatz. Forscher haben die ökonomische Leistung von Pilzen berechnet – und kommen auf eine atemberaubende Summe.

Ohne sie gäbe es kein Bier, kein Brot und keinen Camembert. Ihre Stoffwechselprodukte wirken antibakteriell, cholesterinsenkend oder stimmungsaufhellend. Viele Baumarten brauchen sie, um Kohlenstoff zu speichern und wachsen zu können. Und neuerdings sind sie sogar im Gespräch als umweltfreundliche Verpackung, als Baumaterial und als Ersatz für Leder. Doch wenn es um Artenschutz und Biodiversität geht, kommen Pilze im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren schlecht weg.

„Pilze werden fast überall vernachlässigt“, sagt der Mykologe Marc Stadler vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). „Naturschützer kennen jeden Singvogel, aber von Pilzen hört man kaum etwas, und in Politik und Wirtschaft tauchen sie überhaupt nicht auf“, kritisiert der Forscher, der ab 2024 für vier Jahre die International Mycological Association leiten wird. Dieser globalen Vereinigung der Pilzexperten gehören rund 30 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an, die sich mit den faszinierenden Lebewesen beschäftigen.

Anders als Tiere haben Pilze kein Gehirn, anders als Pflanzen betreiben sie keine Fotosynthese. Sie bilden ein eigenes Reich innerhalb des Stammbaums des Lebens. Ihre oberirdischen Fruchtkörper, die viele als labberige Beilage auf dem Teller kennen, sind nur der sichtbare Teil eines riesigen unterirdischen Geflechts, des Myzels. Pilze gehören gleichzeitig zu den größten Organismen des Planeten (das Gewicht des schwersten bekannten Pilzes der Welt wird auf 600 Tonnen geschätzt) und zu den kleinsten (einzellige Hefepilze etwa haben einen Durchmesser von fünf bis zehn Mikrometern). Es gibt mehrere Millionen Arten und erst ein kleiner Teil davon ist erforscht.

Ihre Macht zeigt sich im Verborgenen

Die mangelnde Wertschätzung für Pilze soll jetzt eine Zahl beseitigen, die Marc Stadler zusammen mit zehn weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermittelt und im Journal „Fungal Diversity“ veröffentlicht hat: Auf knapp 55 Billionen Dollar beziffert das Team den Wert all der Leistungen, die Pilze für die Menschheit erbringen. Das entspricht der Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts, also des Geldwerts sämtlicher Waren und Dienstleistungen, den alle Staaten zusammengenommen pro Jahr erwirtschaften.

Die Forschenden haben dazu all die Wirtschaftsbereiche identifiziert, in denen Pilzprodukte jedweder Art – von extrahierten medizinischen Wirkstoffen über mikroskopisch kleine Hefepilze bis zu großen Speisepilzen – eine Rolle spielen, und dann versucht, für jeden Bereich einen Marktwert zu ermitteln. Dafür wurden entweder direkte Angaben aus Branchenberichten herangezogen, etwa für alkoholhaltige Getränke, oder aber Schätzungen aufgrund von Referenzpreisen angestellt, wie zum Beispiel bei der Kohlendioxid-Speicherung. „Wir behaupten nicht, dass die Rechnung auf den Dollar genau stimmt“, sagt Stadler, „aber es ist unseres Wissens nach die erste Gesamtrechnung dieser Art und soll als Grundlage für weitere Berechnungen dienen.“

Zu den medizinischen Anwendungen von Pilzen zählen nicht nur die bekannten Antibiotika wie Penizillin und Cephalosporin, die Bakterien abtöten, indem sie den Aufbau von deren Zellwänden blockieren. Statine, die den Cholesterinspiegel im Blut absenken sollen, werden ebenfalls aus Pilzen extrahiert oder nach dem Vorbild solcher Stoffe synthetisiert. Allein sie haben den Pharmakonzernen weltweit im Jahr 2021 einen Umsatz von gut 14 Milliarden Dollar beschert. Der Wirkstoff Cyclosporin A, der die Immunabwehr unterdrückt und bei Transplantationen zum Einsatz kommt, wird aus dem bodenbewohnenden Schlauchpilz Tolypocladium inflatum isoliert. Bezeichnenderweise stammen auch viele Wirkstoffe, die gegen Pilzinfektionen zum Einsatz kommen, selbst aus Pilzen, da verschiedene Arten und Gruppen im Wettbewerb miteinander stehen und dafür chemische Abwehrstoffe entwickelt haben. In der medizinischen Forschung werden große Sammlungen von Pilzorganismen angelegt, kultiviert und chemisch gescreent. Insgesamt, so heißt es in der Studie, haben die Medikamente, die auf Pilzen beruhen, einen Marktwert von jährlich rund 50 Milliarden Dollar.

Rund 2000 verschiedene Speisepilze kommen weltweit auf den Tisch

Noch deutlich größer ist das Einsatzgebiet von Pilzen, um Nahrungs- und Genussmittel herzustellen. Hier reicht das Spektrum von Backwaren, die mithilfe von Hefen entstehen, über Käse, der durch verschiedenste Pilze wie etwa Penicillium roqueforti oder Penicillium camembertizum Reifen gebracht wird, bis hin zu Alkoholika wie Wein, Bier, Gin und Whisky, die es ohne die Hilfe verschiedenster Stämme von Saccharomyces nicht gäbe. Auch bei der Verarbeitung von Schokolade, Kaffee, Essig und Kombucha sowie bei der Herstellung von Sojasoße kommen Pilzorganismen zum Einsatz. Hinzu kommen Nahrungszusatzstoffe, etwa das Konservierungs- und Säuerungsmittel Zitronensäure. Es wird in riesigen industriellen Mengen ausgerechnet mithilfe von kultiviertem Schwarzschimmel Aspergillus niger gewonnen, der sonst als Feind von Lebensmitteln bekannt ist.

Hand hält Stück Waldboden mit weißen Fäden.
Pilzgeflecht im Waldboden: Wichtig für die Kohlenstoffspeicherung

Pilze werden natürlich auch direkt gegessen. Rund 60 Arten von Speisepilzen werden der Studie zufolge in Kulturen angebaut, 2000 wild wachsende Arten gelten als genießbar und werden hobbymäßig oder kommerziell gesammelt. Vor allem in China nehmen Pilze eine zentrale Stellung in der Esskultur wie auch in der traditionellen Medizin ein. Eine besonders wertvolle Art ist der Chinesische Raupenpilz, der laut Studie bis zu 60 000 US-Dollar pro Kilogramm einbringen kann. Ophiocordyceps sinensis befällt im Hochland von Tibet Schmetterlingsraupen und ersetzt deren Gewebe von innen her durch eigenes, bis die Tiere nur noch als Gehäuse des Myzels fungieren. Die Raupen werden anschließend aus dem Boden ausgegraben. Sie gelten als Delikatesse und sind Quelle für zahlreiche Produkte der chinesischen Medizin. Der Gesamtwert der mit Pilzen produzierten Nahrungs- und Genussmittel beläuft sich der Studie zufolge auf zwei Billionen Dollar.

Weniger bekannt ist dagegen die Rolle von Pilzen für die Kosmetikindustrie und die Biotechnologie. Aus Pilzen gewonnene Enzyme, die es ermöglichen, chemische Reaktionen bei niedrigeren Temperaturen statt mit rein chemischen Lösungen stattfinden zu lassen, kommen bei der Herstellung von so unterschiedlichen Produkten wie Biosprit, Papier, Textilien, Fruchtsaft und laktosefreien Milchprodukten zum Einsatz. Auch dieser Markt hat laut der Studie ein Volumen von vielen Milliarden Dollar.

Eine wertvolle Symbiose

Doch den mit Abstand größten Geldwert von Pilzen errechnete das Forscherteam nicht für klassische Handelsprodukte, wie sie tagtäglich den Besitzer wechseln. Diese machen an der Gesamtsumme von 55 Billionen Dollar lediglich einen Anteil von 2, 2 Billionen Dollar aus. Der bei Weitem größte Teil der astronomischen Summe kommt zustande, weil Pilze maßgeblich daran beteiligt sind, dass Bäume Kohlendioxid aus der Atmosphäre entnehmen und in andere Kohlenstoffverbindungen umsetzen. „Pilze sind für das Funktionieren und den Fortbestand von Ökosystemen, vor allen Dingen von Wäldern, unabdingbar“, sagt Mykologe Stadler. Indem sich Pilzfäden symbiotisch mit dem Wurzelwerk der Bäume verbinden, helfen sie aktiv dabei, Kohlenstoffdioxid (CO₂) zu binden. Dieser Fakt werde bisher in den Debatten um die Rolle von Wäldern beim Klimaschutz massiv unterschätzt.

Die sogenannte Mykorrhiza besteht aus weit verzweigten Netzen von Pilzgewebe, die den Bäumen bei der Aufnahme von Nährstoffen – vor allem Stickstoff und Phosphor – und von Wasser helfen, sie resistenter machen gegen Extrembedingungen wie Hitze und Trockenheit und sie teilweise auch vor Krankheitserregern schützen. Im Gegenzug bekommen die Pilze von den Pflanzen Kohlenhydrate zur Verfügung gestellt. „Die Mykorrhiza speichert selbst große Mengen Kohlenstoff im Boden und hilft den Bäumen dabei, zu wachsen und zu überleben“, sagt Stadler. In der Studie verweisen die Forscherinnen und Forscher auf Berechnungen des Weltklimarats IPCC, denen zufolge sich 69 Prozent des vom Wald gespeicherten Kohlenstoffs im Boden befinden. Rund 85 Prozent aller Pflanzen unterhalten eine Symbiose mit Pilzen.

CO₂-Emissionen werden inzwischen weltweit an diversen Handelsplätzen als Lizenzscheine gehandelt und bekommen dadurch einen Geldwert. Die Pilzforscher legten ihren Berechnungen einen Kurs von 86 Dollar pro Tonne zugrunde und kommen damit auf einen Wert von knapp 25 Billionen Dollar für das mithilfe von Pilzen oberirdisch und fast 28 Billionen Dollar für das im Boden unterirdisch gespeicherte Kohlendioxid. Die schwindelerregenden 55 Billionen Dollar, die Pilze weltweit angeblich erwirtschaften, kommen also hauptsächlich durch die Annahme zustande, man müsste für das mit ihrer Unterstützung gespeicherte Kohlendioxid Emissionslizenzen zu Marktpreisen kaufen.

Umweltökonominnen und -ökonomen reagieren auf die Studie einerseits beeindruckt, andererseits aber auch mit einer gewissen Skepsis. „Ich finde die Bewertung sehr interessant“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Terese Venus, Arbeitsgruppenleiterin Bioökonomie an der Universität Passau. „Sie ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer monetären Bewertung von Ökosystemen.“ Die Autoren zeigten auf, wie wichtig der Schutz und die Erhaltung der Pilzwelt sei, und lieferten „zahlreiche Beispiele für die Verbindungen zwischen Pilzen und verschiedensten Branchen und Produktionsprozessen“. Für eine grobe Abschätzung sei der gewählte Ansatz vertretbar, da es nur darum gehe, die wirtschaftliche Bedeutung von Pilzen zu unterstreichen. Wäre es hingegen das Ziel, konkrete Entscheidungen über Kosten-Nutzen-Verhältnisse, Steuern oder Ausgleichszahlungen zu treffen, seien deutlich detaillierte Analysen notwendig, bei denen die einzelnen Faktoren ermittelt und gewichtet werden müssten, sagt Venus.

Der Ökonom Moritz Drupp von der Universität Hamburg sieht es kritisch, dass Stadler und sein Team jeweils den Gesamtwert ganzer Branchen herangezogen haben, etwa bei der Bierproduktion. „Es ist sehr schwer, den Anteil der Hefepilze an der Wertschöpfung eines Liters Bier zu quantifizieren“, sagt Drupp, dessen Forschungsschwerpunkt die ökonomische Bewertung von Nachhaltigkeit ist. Es werde auch nicht hinreichend erläutert, welchen spezifischen Anteil Pilze an der Kohlenstoffspeicherung von Wäldern hätten.

Ebenfalls problematisch findet Drupp es, dass die weltweit großen Unterschiede bei der Bepreisung von Kohlendioxid nicht thematisiert worden seien und mit 86 Dollar pro Tonne nur ein Referenzwert aus der EU gewählt worden ist: „Zwar ist der EU-Emissionshandel der größte Markt für CO₂-Zertifikate, aber eben nur auf europäischer Ebene, und dies ist keinesfalls repräsentativ für eine globale Quantifizierung.“ Die Weltbank gebe für 2021 einen globalen Referenzwert von 30 Dollar pro Tonne an, wohingegen das Umweltbundesamt die sozialen Gesamtkosten einer Tonne CO₂-Emissionen mit 200 Dollar bepreise. Diese Bandbreite hätte Drupp zufolge genannt und analysiert werden müssen: „Eine bessere monetäre Bewertung und gesellschaftliche Wertschätzung von Pilzen ist wichtig. Aufgrund methodischer Schwächen habe ich aber kein Vertrauen in die vorgelegten Zahlen.“

Pilze sind „überlebenswichtig“

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Kathrin Rehdanz, Direktorin des Instituts für Umwelt-, Ressourcen- und Regionalökonomik an der Universität Kiel, hält es für „nicht verwunderlich, dass solche Studien zu sehr großen Werten führen“. Errechnet werde dabei, welche Werte der Gesellschaft verloren gehen, wenn etwas nicht mehr zur Verfügung steht. Diese Situation – dass sich also alle von Pilzen unterstützten Wälder in Luft auflösten – sei aber „eher unwahrscheinlich“. In der Umweltökonomik gehe es dagegen darum, den Wert konkreter Änderungen in Quantität oder Qualität zu errechnen, was in der Studie aber nicht berücksichtigt worden sei. Anders ausgedrückt: Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob etwa die Immobilienbranche den Gesamtwert aller existierenden Häuser und Wohnungen angibt oder lediglich die Summe der Verkäufe innerhalb eines Jahres.

Pilzforscher Stadler dreht das Argument um. „Es wird bisher in der Wirtschaftswissenschaft so getan, als gäbe es die Pilze nicht, dabei sind sie überlebenswichtig“, sagt er. Die Studie diene dazu, die Bedeutung der Organismen überhaupt erst sichtbar zu machen. Sie seien so grundlegend wichtig, dass es gerechtfertigt sei, ihnen die Wirtschaftsleistung ganzer Branchen zuzuschreiben: „Alkoholische Getränke herzustellen, geht ohne Pilze nicht“, sagt er. Das Team habe aber deutlich gemacht, dass es sich bei der Berechnung nur um einen „ersten Versuch“ handle, dem weitere Analysen folgen sollten. „Wir sprechen von einer Ausgangsbasis, die analysiert und verbessert werden kann“, sagt Stadler.

Mitglieder des Autorenteams halten eine höhere Wertschätzung für Pilze auch deshalb für wichtig, weil diese künftig sowohl zu Fortschritten in der Medizin als auch zum Klima- und Umweltschutz viel stärker als bisher beitragen könnten und enormes ökonomisches Wachstumspotenzial hätten. „Der allergrößte Teil der Pilze, die es auf der Erde gibt, ist bisher weder bekannt noch beschrieben oder gar isoliert – da wartet ein riesiges Potenzial an Naturstoffen darauf, genutzt zu werden“, sagt Mitautor Christopher Lambert.

Die HZI-Wissenschaftlerinnen und Mitautorinnen der Studie, Miriam Große und Hedda Schrey, rechnen mit einem Boom von Start-ups, die auf Pilzenzyme setzen, um energieaufwändige chemische Verfahren zu ersetzen, oder die gezüchtetes Pilzmyzel als Fleischalternative sowie als umweltfreundliches Verpackungsmaterial erforschen. „Wir erwarten, dass in den nächsten Jahren zahlreiche neue pilzbasierte Produkte den Markt erreichen“, sagt Große. Wenn Pilzprodukte dann wirklich verstärkt im Alltag auftauchen, steigen immerhin die Chancen, dass die Organismengruppe nicht länger im Verborgenen agiert.

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