Lehren aus der Corona-Katastrophe
Artenreichtum und das Funktionieren von Ökosystemen sind mehr als ein schöner Luxus. Sie sind überlebenswichtig für die Menschheit
Die SARS-CoV-2-Pandemie ist durch die Übertragung des Virus von einem Wildtier auf den Menschen entstanden, vermutlich über einen Zwischenwirt. Das war einfach, weil die anhaltende Zerstörung von Lebensräumen und der Handel mit Wildtieren eine immer größere Nähe zwischen wilden Tieren und Menschen schaffen und zugleich die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen gefährden. Die Lehre aus der Krise: Artenreichtum und intakte Biodiversität sind mehr als ein schöner Luxus. Sie sind überlebenswichtig für die Menschheit.
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Vor mehr als 15 Jahren steckten Wissenschaftler aus zahlreichen Ländern und aller möglichen Fachrichtungen im Auftrag der EU-Kommission ihre Köpfe zusammen. Ihre Aufgabe: Das Undenkbare zu denken. Unter dem bezeichnenden Projektnamen ALARM sollten sie herausfinden, wodurch die biologische Vielfalt und damit auch die Lebensgrundlage für Menschen am stärksten gefährdet wird. Die Forscher entwarfen auch mehrere Schock-Szenarien, in denen durchgespielt wurde, was passiert, wenn durch ökologische, wirtschaftliche oder soziale Krisen der Normalbetrieb unserer Gesellschaft entgleist.
Klima-Schock und Ölpreis-Schock bringen im Planspiel von Wissenschaftlern eine Krise, der Pandemie-Schock bringt die Katastrophe
Ein „Klimaschock-Szenario“ arbeitete mit der Annahme, dass der Golfstrom zusammenbricht und ein „Energieschock-Szenario“ spielte die Folgen für den Fall durch, dass durch den ungebremsten Verbrauch fossiler Brennstoffe Energie knapp wird und die Ölpreise außer Kontrolle geraten. Beide Szenarien führten zu massiven ökologischen und ökonomischen Belastungen. Den totalen wirtschaftlichen Kollaps mit unabsehbaren Folgen für Mensch und Umwelt erwarteten die Wissenschaftler in diesen Szenarien aber nicht. Diese Katastrophe blieb einem dritten im ALARM-Projekt durchgespielten Schock-Szenario vorbehalten: Dem einer sich ungebremst ausbreitenden Pandemie.
Ein Szenario erwartet den totalen Wirtschaftskollaps, wenn ein Fünftel der Bevölkerung aus den Produktions- und Vertriebsprozessen aussteigen würden: Weil sie tot oder krank sind, mit der Pflege kranker Angehöriger beschäftigt oder auf der Flucht vor dem Virus.
„Szenarien sind keine Prognosen“, betonten die Wissenschaftler zwar. Aber das Pandemie-Szenario liest sich stellenweise dennoch wie die Beschreibung dessen, was wir seit einigen Wochen nun auch in Europa erleben. Die erwartete Massenflucht aus den Städten auf das Land mit einer weiteren Verbreitung des Virus etwa hat ihr aktuelles Gesicht in den Bildern von langen Staus zunächst um Rom und später Paris. Ob auch die im Szenario ermittelten dramatischen ökonomischen Folgen eintreten, bleibt abzuwarten. In der glimpflichen Variante des Szenarios führt die Krise zu einer vorübergehenden Rezession mit einem Einbruch des BIP um mehr als 10 Prozent und einem anschließenden langsamen Aufschwung. Die weniger glimpfliche Variante geht von einem in der modernen Geschichte beispiellosen völligen Zusammenbruch des Wirtschaftsgefüges aus.
Die Forscher ermittelten sogar einen Schwellenwert, ab dem mit dieser Variante zu rechnen sei – und der scheint angesichts dessen, was sich in den kommenden Wochen noch abspielen kann, keineswegs aus einer anderen Welt zu sein. Der Kollaps komme, wenn ein Fünftel oder mehr der Bevölkerung aus den Produktions- und Vertriebsprozessen aussteigen würden: Weil sie tot oder krank sind – oder mit der Pflege kranker Angehöriger beschäftigt. Die meisten aber fielen aus, weil sie versuchen, einer Ansteckung zu entgehen, indem sie alle Ereignisse vermeiden, bei denen viele Menschen aufeinander treffen: durch Flucht aus den Städten aufs Land oder durch Selbstisolation in ihren Wohnungen und Häusern ohne Home Office. Die Schlagwörter aus der Realität im Frühling 2020 dazu lauten: Ausgangsbeschränkungen, Heimquarantäne, Schul- und Kitaschließungen, Herunterfahren des öffentlichen Lebens – oder kurz: Social Distancing.
Die Konsequenz aus den Schock-Szenarien: „Die Biologische Vielfalt muss raus aus der Nische“
Auch die Analyse dessen, warum sich das Virus so rasch ausweiten kann, klingt vertraut. Anfängliche Ignoranz, Zögerlichkeit beim Handeln und Überforderung umschreiben die Forscher mit dem Begriff „Überraschungsfaktor“. „Das Ignorieren aufkommender Bedrohungen bei der Entscheidungsfindung kann die Widerstandsfähigkeit eines Systems verringern und seine Verwundbarkeit erhöhen, wodurch das, was ein geringfügiger zusätzlicher Druck hätte sein können, zu einem wahren Schock werden kann“, heißt es in der Analyse. Im Klartext: Der Umgang mit der Pandemie entscheidet über das Ausmaß der Katastrophe.
Wie teuer es eine Gesellschaft zu stehen kommt, die biologische Vielfalt ungehemmt weiter zu zerstören, kann man also seit vielen Jahren nachlesen. Ebenso wie die Ratschläge der Forscher, wie dies zu verhindern sei. Denn als Konsequenz aus den Planspielen forderten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, den Schutz der biologischen Vielfalt zu einer internationalen politischen Priorität zu erheben. Biodiversitätsschutz müsse aus der Nische der Naturschutzpolitik herauskommen, um wirksam zu sein.
„Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Belange der biologischen Vielfalt in die alltäglichen Arbeitsmechanismen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu integrieren, und zwar über Reparaturmaßnahmen wie die Einrichtung von Schutzgebieten hinaus“, lautete die Forderung aus dem größten Forschungsprojekt in der EU zum Schutz der Biodiversität. Die Bewahrung der biologischen Vielfalt müsse durch wirtschaftliche Anreize und rechtliche Rahmenbedingungen fester Bestandteil in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft sein.
Umweltzerstörung und Corona-Krise gehören zusammen
Das Planspiel zeigt drastisch auf, wie grundlegend ökologische Krisen die Gesellschaft verändern können und wie hoch der Preis für ihre Bewältigung ist. Aber wie hängen Umweltzerstörung und die gegenwärtige Corona-Krise zusammen?
Der Schlüsselbegriff hier lautet Zoonose – also Krankheiten, die sich von Tieren auf Menschen übertragen. Das erfordert Nähe und Kontakt. Beides wird durch die immer stärkere Nutzung natürlicher Lebensräume durch Menschen gefördert. Die Gleichung ist im Prinzip simpel: Je mehr natürlicher Lebensraum für Tiere vernichtet wird, desto mehr Zoonosen gibt es, weil den überlebenden Tierarten nichts anderes übrig bleibt, als in größerer Nähe zu Menschen zu leben. „Wenn Menschen in neue Gebiete eindringen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie mit Arten konfrontiert werden, die ihnen neu sind und gegen die deshalb bisher keine Immunabwehr besteht“, sagt Joachim Spangenberg im Interview mit RiffReporter. „Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien steigt mit zunehmender Vernichtung von Ökosystemen und Biodiversität“, sagt der Biologe und Wirtschaftswissenschaftler, der maßgeblich am ALARM-Projekt beteiligt war.
„Studien haben gezeigt, dass kleiner werdende Lebensräume und damit einhergehende Verhaltensveränderungen von Tieren zum Risiko der Übertragung von Krankheiten von Tieren auf Menschen beitragen“, unterstreicht auch Josef Settele, der als Co-Chair das Global Assessment des Weltbiodiversitätsrates IPBES zum Zustand der biologischen Vielfalt mit geleitet und das ALARM-Projekt koordiniert hat.
„Die Menschheit schafft geradezu die Bedingungen dafür, dass sich Krankheiten ausbreiten“
Er verweist auf einen weiteren Aspekt des Problems. Lebensraumverlust führe bei einigen Arten zu höheren Populationsdichten und damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit für einen Kontakt zu Menschen. Zudem überleben meist Arten wie Mäuse und Ratten, die ideale Krankheitsüberträger sind und die Nähe des Menschen suchen. „Die Menschheit schafft geradezu die Bedingungen dafür, dass sich Krankheiten ausbreiten. Wir reduzieren die Barrieren zwischen dem Menschen und den Wirtstieren, in denen solche Viren natürlicherweise zirkulieren“, warnt Settele. „Wir mussten und müssen von der Ausbreitung einer pandemischen Influenza ausgehen, genauso wie von vielen Todesfällen; und wir können damit rechnen, dass es weitere Pathogene mit zum Teil noch gravierenderen Auswirkungen geben wird.“
Übertragende Tierart für SARS-CoV–2 noch nicht gefunden
Dass es sich bei SARS-CoV-2 um einen zoonotischen Coronavirus handelt und nicht etwa um eine Laborzüchtung kann als gesichert gelten.
Welche Tierart beim Überspringen auf Menschen beteiligt ist, ist dagegen noch nicht abschließend geklärt. Gegenwärtig konzentrieren sich die Vermutungen vor allem auf zwei Tiergruppen: Fledermäuse und Schuppentiere. Die drei vorangegangenen schweren Ausbrüche zoonotischer Corona-Viren – SARS (Schweres Aktutes Atemwegssyndrom), MERS (Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus) und SADS (Swine Acute Diarrhoea Syndrome) wurden alle auf unterschiedliche Fledermausarten zurückgeführt. Mit SARS und SADS nahmen zwei von ihnen ihren Ursprung in China. Vor diesem Hintergrund warnten Forscher der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Wuhan – jener Stadt, in der die jetzige Pandemie ihren Ausgang nahm – vor fast auf den Tag genau einem Jahr im Fachjournal viruses mehr Forschungsanstrengungen an.
Tiermärkte und Massentierhaltung bieten Erregern ideale Verbreitungsmöglichkeiten
Es sei „sehr wahrscheinlich, dass künftige SARS- oder MERS-ähnliche Coronavirus-Ausbrüche von Fledermäusen ausgehen werden, und die Wahrscheinlichkeit, dass dies in China geschieht, steigt“, schrieben die Forscher. Andere Virologen weisen darauf hin, dass auch in illegal nach China importierten Individuen des Malaiischen Schuppentiers (Manis javanica) Corona-Viren gefunden wurden, die große Ähnlichkeit mit SARS-CoV-2 zeigten, wenn auch Fledermaus-Viren SARS-CoV-2 am ähnlichsten seien. Beide Tiergruppen müssten als natürliches Reservoir für das Virus gelten, schreibt auch ein Wissenschaftlerteam der Yunnan University in einer soeben veröffentlichten Studie. Aber der Übergang auf den Menschen wird erst dann wahrscheinlich, wenn wir die Bedingungen dafür schaffen, auf Tiermärkten oder in der Massentierhaltung, die ideale Verbreitungsmöglichkeiten für die Erreger bieten.
Während die Suche nach der unmittelbaren Überträgertierart andauert, ist der geografische Ursprung des Ausbruchs dagegen bis auf wenige Meter genau bekannt. Experten des chinesischen Amts zur Seuchenkontrolle konnten nach Ausbruch des Virus Anfang Januar auf dem inzwischen berüchtigten Huanan Seafood Market in der Stadt Wuhan in 33 Proben das Virus isolieren. 31 davon stammten aus Verkaufsständen im westlichen Teil des Markts, wie die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua meldete.
In der Konsequenz wurden alle Wildtiermärkte in China auf unbestimmte Zeit geschlossen. Die in ganz Asien verbreiteten Mischmärkte aus Wild- und Zuchttieren sind nicht nur aus Artenschutzgründen eine Katastrophe. Sie sind auch Katalysatoren für das Überspringen von Viren auf Menschen.
Vogelartenvielfalt schützt menschliche Gesundheit
Wie „systemrelevant“ der Erhalt der Biodiversität für die Sicherung auch der menschlichen Gesundheit gerade mit Blick auf die Verbreitung von Viren ist, zeigt das West-Nil-Virus. Aus Afrika gelangte es vor allem über Zugvögel in andere Teile der Erde. In den USA kam es schon ab dem Beginn der 2000er Jahre zu massiven Ausbrüchen, mehr als 1000 Menschen starben insgesamt daran. Bei der Untersuchung der Auswirkungen des Virus auf Vögel konnten US-Wissenschaftler einen aus anderen Bereichen der Infektionsbiologie bekannten Effekt bestätigen: Dort, wo es eine große Vielfalt von Wirtsarten für einen Krankheitserreger gibt, kommt es zu einer geringeren Häufigkeit von Krankheitsfällen durch den Erreger. Konkret fanden die Vogelforscher heraus, dass in Regionen, in denen die Vogelvielfalt größer war, es zu deutlich weniger Erkrankungsfällen bei Menschen mit dem West-Nil-Virus kam. Auch schritt die Ausweitung des Virus in vogelartenreichen Gegenden langsamer voran. „Unsere Untersuchung belegt eine wichtige Ökosystemleistung, die von der Biodiversität erbracht wird und unterstützt die Haltung, dass der Schutz der Biodiversität in den Plänen für öffentliche Gesundheit und Sicherheit berücksichtigt werden sollte“, schrieben die Forscher.
Dieser Befund ist natürlich auch für Deutschland relevant. Hier wurde das West-Nil-Virus erstmals 2018 in Pferden und Vögeln nachgewiesen, im vergangenen Jahr wurden zum ersten Mal auch mehrere durch Mücken übertragene Erkrankungsfälle bei Menschen registriert.
Auch der Mensch braucht Ökosystemleistungen
Infektionskontrolle ist ein wichtiger, aber bei weitem nicht der einzige Beitrag sogenannter Ökosystemleistungen durch tierische und pflanzliche Artenvielfalt. Tiere, Pflanzen und selbst Kleinstlebewesen halten das Netz des Lebens auf dem Planeten in Gang.
Und sie liefern Menschen überlebenswichtige Ressourcen: Nahrungsmittel, Energie, Medikamente und genetische Vielfalt sind Beispiele. So sind 70 Prozent der gegen Krebs eingesetzten Medikamente natürliche oder synthetische Produkte, die von der Natur inspiriert sind.„Die Natur erhält durch ihre ökologischen und evolutionären Prozesse die Qualität der Luft, des Süßwassers und der Böden, von denen die Menschheit abhängt, verteilt Süßwasser, reguliert das Klima, sorgt für die Bestäubung und Schädlingsbekämpfung und reduziert die Auswirkungen von Naturgefahren“, heißt es dazu im Global Assessment des Weltbiodiversitätsrates mit Blick auf diese Ökosystemleistungen. „Die Natur untermauert alle Dimensionen der menschlichen Gesundheit und trägt zu den nicht-materiellen Aspekten der Lebensqualität bei…, die für die Lebensqualität und kulturelle Integrität von zentraler Bedeutung sind.“
Vitamin C gibt es natürlicherweise nur in Obst und Gemüse
Die vielleicht bekannteste Form der Ökosystemleistung ist die Bestäubung. Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen und 75 Prozent aller wichtigen Nutzpflanzen von Insekten bestäubt. Ohne diesen „Service“ würden wir verhungern oder anderweitig zugrunde gehen. Vitamin C beispielsweise gibt es natürlicherweise nur in Obst und Gemüse – und das ist bestäubungsabhängig. Der globale Wert der Bestäubung wird nach dem Bericht des Weltbiodiversitätsrats auf bis zu 600 Milliarden Euro pro Jahr beziffert.
Eine der wichtigsten Botschaften der Corona-Krise ist die Einsicht, dass Artenreichtum und das Funktionieren von Ökosystemleistungen mehr sind als ein schöner Luxus
Eine der wichtigsten Botschaften der Corona-Krise ist vielleicht die Einsicht, dass Artenreichtum und das Funktionieren von Ökosystemleistungen mehr sind als ein schöner Luxus. Intakte Ökosysteme sind überlebenswichtig auch für Menschen. Jüngste Forschungsergebnisse etwa zum Vogelschwund oder zu den weltweiten Einbrüchen der Insektenbestände bekommen vor dem Hintergrund der Corona-Krise eine neue Relevanz.
Fast alle Ökosysteme der Erde würden heute von menschlichem Einfluss dominiert, schrieben 2011 Settele und sein Kollege Volker Hammen in einer Analyse zum Zusammenhang zwischen Biodiversitätsverlust und menschlicher Gesundheit. Und sie erinnerten daran, dass auch die Menschen Teil des Netzwerkes des Lebens sind: „Aber alle Arten, auch die dominanten, sind immer noch auf die Leistungen und Funktionen angewiesen, die sie von den Ökosystemen benötigen, in denen sie leben.“ Das zu ignorieren, heißt Risiken, wie die durch Pandemien, in Kauf zu nehmen.