Der Herr der Raben

Das Schicksal Grossbritanniens hängt an ein paar Kolkraben. Der ehemalige Soldat Christopher Skaife kümmert sich um sie – rund um die Uhr.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
21 Minuten
ein Paar schwarze Krähen auf einem grünen Rasen [AI]

Wer meint, Premierministerin Theresa May trage in Grossbritannien wegen des Brexits derzeit eine schwere Last auf ihren Schultern, liegt nicht falsch. Doch in London lebt auch ein Mann, dem eine mindestens ebenso grosse Verantwortung zukommt. In seiner Obhut stehen nämlich nicht nur sieben eigenwillige Kolkraben, in seinen Händen liegt auch das Schicksal des gesamten britischen Königreichs.

Christopher Skaife lautet sein Name. Er ist der „Ravenmaster“, der Herr der Raben, genauer gesagt der Betreuer der Kolkraben, die im Tower of London leben, der fast 1000 Jahre alten Befestigungsanlage mitten in der britischen Hauptstadt. Früher ein Schauplatz vieler blutiger Hinrichtungen, ist sie heute ein Anziehungspunkt für jährlich rund drei Millionen Besucher aus der ganzen Welt. Gemäss einem angeblichen Dekret von Charles II. aus dem 17. Jahrhundert müssen sich im Tower immer mindestens sechs Kolkraben aufhalten. Sterben die Raben oder fliegen sie davon, wird das Königreich untergehen und Grossbritannien mit ihm. Entwischen Christopher Skaife also ein paar Vögel, hat er ein grösseres Problem.

ein schwarzer Vogel, der auf Gras steht [AI]
Eindrückliche Erscheinung: Mit einer Flügelspannweite von bis zu 1,5 Metern und dem kräftigen Schnabel passen die Kolkraben bestens zum Tower of London.

Die Bewältigung dieser Aufgabe verlangt daher eine sowohl körperlich als auch psychisch gestählte Persönlichkeit. Und so kann nur Ravenmaster werden, wer mindestens 22 Jahre ehrenhaft der britischen Armee gedient hat. Christopher Skaife hat sogar 24 Jahre Dienst hinter sich, als Maschinengewehr-Spezialist und „Drum major“ (Tambouren-Major). Die korrekte Berufsbezeichnung von Skaife lautet allerdings nicht „Ravenmaster“. Er ist vielmehr ein „Yeoman Warder of her Majesty’s Royal Palace and Fortress the Tower of London“ sowie Mitglied der „Sovereign’s Body Guard of the Yeoman Guard Extraordinary“.

Oder einfacher gesagt: Skaife ist einer von fast 40 Wächtern, die mit ihren Familien im Tower of London arbeiten und leben. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, die dort untergebrachten Kronjuwelen zu bewachen, sie kümmern sich auch um den Unterhalt der Festung und erfüllen vor allem auch zeremonielle Pflichten und führen die Touristen durch die Gemäuer. Einem „Yeoman Warder“ – oder „Beefeater“ wie sie umgangssprachlich genannt werden – obliegt die Betreuung der Kolkraben. Seit 2011 versieht Christopher Skaife dieses Amt.

Die Raben bestimmen, wer nach ihnen schaut

Ein Ravenmaster sucht sich seine Aufgabe nicht selber aus. Neben den Vorgesetzten reden auch die Raben ein Wort mit, wer sich rund um die Uhr um ihr körperliches und seelisches Wohl kümmern darf. Zumindest war dies bei Skaife der Fall, der Tiere zwar schon immer gemocht hat, bis vor ein paar Jahren aber von Tierpflege keine Ahnung hatte. Nach seiner Dienstzeit in der Armee bewarb er sich um eine Stelle als Yeoman Warder und trat den Posten 2005 an.

Kurz darauf wandte sich der damalige Herr der Raben an Skafie und sagte, er habe den Eindruck, die Raben würden ihn mögen. Zur Prüfung seiner Vermutung schickte er Skaife in ein Gehege, in dem zwei der grössten Tower-Raben während der Nacht untergebracht waren. Ein Kolkrabe ist eine eindrückliche Erscheinung: Er erreicht eine Flügelspannweite von bis zu 150 Zentimeter und bringt gut 1,2 Kilogramm auf die Waage. „Schau ihnen nicht direkt in die Augen“, gab der alte Ravenmaster seinem potenziellen Nachfolger mit auf den Weg: „Sie finden das bedrohlich.“

Skaife empfand es genau andersrum. Nie zuvor war er so nahe an derart grosse Vögel herangetreten. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, er fürchtete sich vor den langen und kräftigen Schnäbeln. Doch er bestand den Test. Die beiden Raben fühlten sich sichtlich wohl in seiner Nähe, was sie mit Wiegen des Kopfes, Schütteln der Flügel und einem Krächzen bekundeten. Skaife wurde zunächst zum Assistenten des Ravenmaster ernannt und übernahm das Amt acht Jahre später.

Seither hat Skaife einige Berühmtheit erlangt und sich im Internet eine Fangemeinde aufgebaut. In den sozialen Medien dokumentiert er das Treiben der sieben Kolkraben; er verfügt über eine Homepage und hat soeben ein Buch über sein Leben mit den Tower-Raben veröffentlicht. Das Buch ist nicht nur eine kurzweilige, mit viel Humor geschriebene Sammlung von Anekdoten und Wissenswertem über die Geschichte der Londoner Kolkraben. Es ist auch eine Liebeserklärung an diese sozialen und intelligenten Vögel sowie ein Plädoyer, die Rabenvögel nicht nur im Tower of London, sondern auf der ganzen Welt zu achten und zu schützen.

Ravenmaster werde als der eigenartigste Beruf Grossbritanniens betrachtet, schreibt Skaife. Für ihn sei es aber der beste. Nicht wenige Soldaten kämen nach ihrer Dienstzeit mit dem eigenen Leben nicht mehr zurecht, sie verlören ihre festen Strukturen sowie ihre Freunde, begännen zu trinken und liessen sich scheiden. Der Tower und die Raben seien für ihn die Rettung vor einem möglichen Absturz gewesen, schreibt Skaife. Lange habe er nicht verstanden, wieso die alten Raben-Meister dauernd über ihre Vögel gesprochen hätten. Nun verstehe er es, die Raben seien jetzt auch sein Leben geworden.

Tauben schlachten vor den Augen der Touristen

Von morgens früh bis abends spät kümmert sich Skaife, der mit seiner Frau in einer der „Yeomen Warder“-Wohnungen innerhalb der Festungsmauern wohnt, um Munin, Merlina, Erin, Rocky, Jubilee II., Gripp II. sowie Harris, wie die Kolkraben heissen. Die Nacht verbringen die Raben in Volieren, jeder hat dort seinen eigenen Platz.

Bevor er die Vögel morgens entlässt, füttert er sie mit toten Ratten, Küken, Innereien, gekochten Eiern, Nüssen, Fischen, Kaninchen sowie mit ihrer Lieblingsnahrung: in Blut getränkte Hundekekse. Das dient nicht nur ihrer Gesundheit, die Raben sollen mit einer reichlichen Fütterung auch davon abgehalten werden, sich allzu sehr über die Abfälle der Touristen herzumachen. Allerdings verhindern die Leckereien nicht, dass die Raben mitunter eine Taube schlagen, wobei sie wenig Rücksicht auf zartbesaitete Besucherinnen und Besucher der Festungsanlage nehmen und die erbeuteten Tauben nicht zu Tode hacken, sondern gleich vor den Augen der Touristen bei lebendigem Leibe auffressen.

Einen ständigen Kampf führt Skaife gegen die grösste Bedrohung der Raben: die Füchse, die sich in London wie in vielen anderen Städten Europas stark ausgebreitet haben. 2013 gelang es einem schlauen Fuchs dennoch, in die Festung einzudringen und sich gleich zwei Raben zu schnappen. Doch Skaife muss auch darauf achten, dass die Raben anderen nicht gefährlich werden, etwa Kindern oder Hunden, die ihnen zu nahe kommen. Einen zarten Kinderfinger entzweibeissen? Kein Problem für einen Raben!

Ausgiebig beschreibt Skaife die verschiedenen Charaktere der Raben. Es besteht eine klare Hierarchie in der Gruppe. Die einen mögen sich, die anderen gehen einander aus dem Weg. Dasselbe gilt für das Verhältnis zu ihrem Meister: Manche Raben lassen sich gerne und ausgiebig von Skaife streicheln, andere bleiben lieber etwas auf Distanz. Und einige spielen gerne Streiche wie Merlina, die sich immer wieder einmal regungslos mit gekrümmten Flügeln auf den gepflegten Tower-Rasen legt und damit für helle Aufregung unter den Touristen sorgt, die sie fälschlicherweise für tot halten.

Ganz freiwillig leben die Kolkraben allerdings nicht im Tower of London. Regelmässig stutzt Skaife den Vögeln die Federn, damit sie den Tower nicht verlassen und das Königreich ins Unglück stürzen können. Wer nun „Betrug“ ruft, sollte bedenken: Wilde Kolkraben gibt es in London schon lange nicht mehr.

Einst waren sie in ganz Grossbritannien verbreitet und als Aasfresser durchaus geschätzt, doch im 19. Jahrhundert wurden sie in der Landwirtschaft als Schädlinge wahrgenommen und stark bejagt. Inzwischen sind die Kolkraben in Grossbritannien geschützt und ihr Bestand hat sich in weiten Teilen der Insel erholt. In Grossstädten sind sie weiterhin eine Ausnahmeerscheinung. Das letzte Londoner Kolkrabenpaar brütete 1826 im Hyde Park. Doch etwas Hoffnung besteht auf eine baldige Rückkehr. In den vergangenen Jahren wurden wilde Raben lediglich 50 Kilometer vom Tower entfernt beobachtet.

Kein unwürdiges Rumhopsen mehr

Wer im Tower of London Raben halten will, muss sie entweder einsperren oder ihre Flugfähigkeit einschränken. Früher wurden die Federn der Kolkraben derart stark gestutzt, dass sie lediglich auf den rund sieben Hektaren der Festungsanlage rumhopsen konnten. Das passt aber so gar nicht zu diesen prächtigen Vögeln.

Christopher Skaife hat diese Praxis geändert und greift weniger stark in ihre Bewegungsfreiheit ein. Er erlaubt den Raben, kurze Strecken innerhalb der Festungsanlage zu fliegen. Doch damit nimmt er ein grösseres Risiko in Kauf, einen Raben zu verlieren und das Schicksal Grossbritanniens aufs Spiel zu setzen. Dies sei die grösste Herausforderung seines Berufs, schreibt Skaife: Den Raben ein möglichst freies und wildes Leben zu ermöglichen und gleichzeitig mit gutem Futter und angemessener Pflege genügend Anreize zu schaffen, dass sie im Tower verbleiben.

Im Oktober 2010 war es dann dennoch so weit. Munin, ein über 20 Jahre altes Rabenweibchen, war eines Tages unauffindbar. Bereits in früheren Jahren waren immer wieder einmal Raben verschwunden. Manchmal wurden sie gefressen, wenn nicht von Füchsen, dann von Hunden: 1995 fiel der Rabe Charlie bei einer Sicherheitskontrolle einem ebenfalls auf den Namen Charlie hörenden Bombenspürhund zum Opfer. In der Regel werden tote Raben sogleich durch neue Raben ersetzt, die aus einheimischen Vogelzuchten stammen.

Doch bei Munin war dies zum Glück nicht nötig. Ein paar Tage nach ihrem Ausflug aus dem Tower wurde sie in Greenwich nahe Londons gesichtet. Der Beobachter hatte sich sofort beim Tower gemeldet und nachgefragt, ob dort ein Rabe fehle. Die Beschreibung passte auf Munin, und einem mutigen Anwohner gelang es, das Rabenweibchen zu fangen und in einen Sportsack zu sperren. Kampflos lassen die Briten ihr Königreich nicht untergehen.

ein Mann in einem Gewand mit Kindern [AI]
Das erste Bild des Tower of London mit Raben stammt aus dem Jahr 1883.

Und selbst wenn es eines Tages dazu kommen sollte – der Ravenmaster wird gewiss nicht daran schuld sein. Denn das königliche Dekret, das die Anwesenheit der Raben im Tower mit dem Sein oder Nichtsein Großbritanniens verknüpft, ist offensichtlich frei erfunden. Die Legende stammt nicht einmal aus dem 17. Jahrhundert, sondern vermutlich aus der zweiten Hälfte des 19., einer Zeit, in der es unter dandyhaften Briten Mode war, Raben als Haustiere zu halten. Nicht zufällig heisst einer der Tower-Raben Grip: Diesen Namen gab der Schriftsteller Charles Dickens auch einem seiner zahmen Raben.

In der Kunst tauchten damals an vielen Stellen die schwarzen und symbolhaften Vögel auf. Berühmtestes Beispiel ist das Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allen Poe, das viele Künstler beeinflusste. Das erste Bild des Tower of London, auf dem Raben zu sehen ist, stammt aus dem Jahr 1883. Gut möglich also, dass auch einige Wächter zahme Raben hielten, die im Tower herumstolzierten. Den Zweiten Weltkriegs überlebte lediglich ein Kolkrabe im Tower, worauf der damalige Premierminister Winston Churchill befahl, den Bestand wieder auf mindestens sechs Tiere zu erhöhen. Erst in der Nachkriegszeit ist der informelle Titel „Ravenmaster“ gebräuchlich geworden.

Dennoch: Die Geschichte der Kolkraben, die das Schicksal des Königreichs unter ihren Flügeln haben, ist zu gut, um sie einfach beiseite zu schieben – auch aus touristischen Gründen, weshalb Christopher Skaife und seine Kollegen sie weiterhin auf ihren Touren durch den Tower zum Besten geben. Und es kann auch nicht schaden, am Tag des Austritts Grossbritanniens aus der EU einen Blick zum Tower of London zu werfen, um sich zu vergewissern, ob alle Raben noch dort sind.

Literatur:

Christopher Skaife: The Ravenmaster. My Life With The Ravens At The Tower Of London. Harper Collins 2018. Im März erscheint voraussichtlich die deutsche Übersetzung im Piper-Verlag.

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