Aufgescheucht: Freizeitdruck im Winter bringt Rehe und Hirsche in Lebensgefahr

Durch die Corona-Maßnahmen haben die Menschen ihren Drang raus in die Natur und in den Wald wiederentdeckt. Das verschärft ein altes Problem: Wildtiere verlieren wichtigen Rückzugsraum. Das Rotwild wird dauerhaft gestresst und in der Winterruhe gestört.

vom Recherche-Kollektiv Tierreporter:
11 Minuten
Ein Hirsch hält die Augen geschlossen und liegt entspannt und ruhig gebettet auf Schnee.

Die Hirschkuh sieht das Weiß, wie jedes Jahr spürt sie es nass und kalt unter ihren Hufen. Der erste Schnee fällt meist im November und wirkt wie ein Signal: Jetzt wäre es Zeit zu wandern, ein letztes Mal vor Wintereinbruch. Sie sollte ihr Kalb und die anderen Hirsche ihres Rudels vom Berg führen. Ins Tal, wo es für den Durst Flüsse gibt und für den Hunger Gras und Kraut, Eicheln und Nüsse. Aber dort lebt jetzt der Mensch. Und wer sich diesem Zweibein-Wesen nähert, der ist bald tot.

Sie bleiben auf dem Berg. Die Leitkuh führt ihr Rudel weiter durch den Fichtenwald, zu Lichtungen mit üppigem Gras und zu nahrhaften Heidelbeersträuchern. Sie müssen auf Vorrat fressen, solange es noch genug zu finden gibt. Der Winter naht.

Das nächste Signal gibt ihr einen Monat später das Licht. Zur Wintersonnenwende ist der Tag kurz wie nie, jetzt muss der Vorrat reichen. Es ist Instinkt, der ihren Körper nun über Tage hinweg verändert, ihn anpasst für die Winterruhe: Ihr Pansen, der mächtigste der vier Wiederkäuer-Mägen, schrumpft auf weniger als die Hälfte seiner Sommergröße, und auch ihr Herz, das sonst 60 Mal in der Minute pumpt, wechselt in einen langsameren Takt – 50…, 40…, schließlich 30 Schläge. Das Blut wärmt die lebenswichtigen Organe vom Kopf bis zu den Mägen und hält sie bei 35 Grad Celsius. Aus den meisten Stellen des Körpers hat es sich fast gänzlich zurückgezogen, dort fällt die Temperatur auf 15 Grad. Die Beine werden steif, fast starr. Benutzt werden sollen sie jetzt ohnehin kaum noch, denn Bewegung verbraucht Energie, und die ist knapp im Winter.

Das Weiß fällt jetzt dichter, das Laufen wird schwer, höchstens ein paar Hundert Meter führt die Hirschkuh ihr Rudel noch durch den Wald, den Rest des Tages ruhen sie im Stehen oder Liegen, entspannen sich, dösen, schlafen fast, lassen sich einschneien.

Schnee knirscht. Zweige brechen. Stimmen. Dieser Geruch. Sie kommen. Menschen!

„Ansturm“ auf das Naherholungsgebiet

Die Corona-Maßnahmen der vergangenen Jahre trieben die Menschen wieder raus in die Natur, bundesweit titelten Zeitungen von „Allzeithoch“ oder „Ansturm“ auf das Naherholungsgebiet Wald. Der Ansturm hat sich gehalten. Und das ist ein Problem für die Wildtiere. Jägerverbände warnen, der sogenannte „Freizeitdruck“ sei lebensgefährlich für das Schalenwild – Reh und Hirsch brauchen im Winter dringend Ruhe.

Besonders heftig trifft dieser Konflikt den Schwarzwald und seinen Nationalpark: Etwa 800.000 Touristen kommen während eines normalen Jahres in das Schutzgebiet, um zu wandern, Mountainbike zu fahren oder um im Winter auf Schneeschuhen oder Ski die verschneiten Pfade und Hänge zu erkunden. In den Monaten zum Jahresende kommen zeitweise drei Mal so viele Besucher, wie im Rest des Jahres. Der Andrang ist so groß, dass Hotelbetreiber die Situation im Nordschwarzwald als „völlig krank“ bezeichnen und Polizisten ab Wintereinbruch regelmäßig die stark befahrene Hochwaldstraße sperren, um ein Verkehrschaos zu verhindern.

Gleichzeitig ist der Schwarzwald ein Rotwildgebiet. Die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg schätzt, dass alleine im Nordwald etwa 400 Tiere leben.

Marvin Schade ist Jäger und Forstbeamter des Landes Baden-Württemberg.
Marvin Schade ist Jäger und Forstbeamter des Landes Baden-Württemberg. Das von ihm betreute Revier grenzt an den Nationalpark Schwarzwald.
Der verschneite Schwarzwald.
Der verschneite Schwarzwald. Hier leben Rothirsche in einem Naturraum, der ihrem Körperbau eigentlich gar nicht entspricht.
Friedrich Burghardt ist der stellvertretende Leiter der Schalenwild-Forschung im Nationalpark Schwarzwald.
Friedrich Burghardt ist der stellvertretende Leiter der Schalenwild-Forschung im Nationalpark Schwarzwald.

Ein Wald ohne Tier ist kein richtiger Wald

Marvin Schade, Forstbeamter

Zu sehen ist der verschneite Schwarzwald nahe der Hochwaldstraße
Der Schwarzwald mit Schnee
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