„Unsere Arroganz ist atemberaubend“
David Boyd fordert eine juristische Revolution, um Erde und Natur eigene Rechte zu geben.
In letzter Zeit haben weniger Regierungen den Schutz von Erde und Umwelt vorangebracht als Gerichte. Ob Rodungsstopp im Hambacher Forst oder Fahrverbote gegen die Luftverschmutzung: Umweltschützer hatten ihre wichtigsten Siege Richtern zu verdanken, die geltendes Recht umsetzten. Ähnlich in den USA. Dort hat jüngst ein Bundesrichter den Bau der umstrittenen Pipeline Keystone XL blockiert, während es der Präsident im Weißen Haus mutwillig darauf ankommen lässt, den Verbrauch fossiler Brennstoffe noch zu steigern.
In Neuseeland streckt das Recht noch auf viel grundlegendere Weise seine schützende Hand über der Natur aus. Seit vier Jahren ist dort der „Te Urewera Act“ in Kraft, benannt nach einem großen Waldgebiet auf der Nordinsel des Pazifiklandes. Das Gesetz erkennt vielmehr „den inhärenten Wert von Te Urewera an“ und spricht dem Gebiet „all die Rechte, Vollmachten, Verpflichtungen und Verantwortungen einer juristischen Person“ zu. Die Natur selbst wird zur Rechtsperson. Ähnlich verhält es sich in Neuseeland mit zwei Flüssen, dem Whanganui und dem Waikato. Letztere wird in einem Gesetz als „einziges, unteilbares Wesen“ beschrieben.
Absurde Einteilung in Menschen und Dinge
Dieser Ansatz sollte dem Umweltexperten und Rechtsgelehrten David Boyd zufolge weltweit Schule machen. In seinem Buch „Die Natur und ihr Recht“ erzählt er die Geschichte eines grundlegenden Umbruchs im Verhältnis von Menschen und Umwelt. Er sieht Neuseeland – und auch südamerikanische Länder wie Ecuador – als Pioniere einer Entwicklung an, die an frühere Revolutionen anschließt. Boyd zitiert die Expertin Elaine Hsiao so: „Wie Frauen und Sklaven hat sich auch der Whanganui River von einem Besitz zu einer juristischen Person gewandelt.
Boyd betrachtet das Thema einerseits aus einer akademischen Perspektive, er ist Professor an der University of British Columbia. Zugleich hat er aber eine politische Rolle inne, denn er wurde vor kurzem vom UN-Menschenrechtsrat zum Sonderberichterstatter für Menschenrechte berufen. Das gibt seinem Buch ein besonderes Gewicht, denn Boyd möchte diese Rolle nutzen, Menschenrechte auch durch Naturrechte zu stärken. Weltweit sind nämlich die Gebiete indigener Völker bedroht. Der neue brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat vor seinem Sieg zu einem regelrechten Eroberungsfeldzug gegen die indigenen Völker des Amazonas aufgerufen. Naturrechte sind Boyd zufolge der beste Weg um angestammte Sichtweisen von Ureinwohnern in der kapitalistischen Welt von heute zu stärken.
Boyd macht nichts weniger, als ein Fundament unserer Rechtsordnung infrage zu stellen. „Die Vorstellung, dass die Natur lediglich eine Sammlung von Dingen ist, die dem Menschen zur Verfügung stehen, ist eine der universellsten und akzeptiertesten der menschlichen Gesellschaft“, schreibt er und stellt zugleich diesen Besitzanspruch von Menschen auf jeden Quadratmeter Erde zur Disposition: „Wenn man einmal darüber nachdenkt, ist unsere Arroganz atemberaubend.“ Die Einteilung des Lebens in zwei Kategorien – Menschen und Dinge – sei eine wesentliche Ursache des katastrophalen Raubbaus an der Umwelt.
Was uns der Schneckenflitzer lehrt
Boyd hält nicht weniger als eine „juristische Revolution“ für nötig, um das Leiden fühlender Tiere zu mindern, das vom Menschen verursachte Artensterben zu beenden und die lebenserhaltenden Systeme des Planeten zu schützen.
„Die Natur und ihr Recht“ widmet sich in weiten Teilen Beispielen von neuen Ansätzen in der Rechtsprechung, die nicht-menschlichem Leben einen höheren Stellenwert oder gar den Rang einer eigenen juristischen Person geben. Boyd zeichnet die Konflikte nach, die etwa dazu geführt haben, dass sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten mit dem Schneckenflitzer beschäftigte, einer unscheinbaren Fischart, die durch einen Staudamm bedroht war. Im Schlussteil beschreibt er den Prozess, der dazu geführt hat, dass die Rechte von „Mutter Erde“ in der bolivianischen Verfassung verankert sind.
Diese Beispiele werden spannend und lehrreich erzählt. Sie führen vor, was möglich wäre, wenn Gesetzgeber und dann Richter ein neues Denken einüben würden. Allerdings kommen in dem Buch die rechtlichen und rechtsphilosophischen Grundlagen des Themas nur arg kurz zur Sprache. Wenn es wirklich einer „juristischen Revolution“ bedarf, dann hätte Boyd als ihr Fürsprecher noch etwas tiefer bohren und das intellektuelle Fundament für den grundlegenden Wandel legen sollen. Zudem hätten Probleme, die sich aus dem neuen Denken ergeben, stärker beleuchtet werden können: Hat sich der Schutz der Natur in Bolivien und Neuseeland wirklich verbessert? Welchen realen Effekt hatte die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung in Deutschland? Das wäre eine nähere Untersuchung wert gewesen, statt nur Ideale zu zelebrieren.
Das vermeintlich Selbstverständliche hinterfragen
Dennoch bietet „Die Natur und ihr Recht“ eine anregende und wichtige Lektüre für alle, die sich fragen, wie Klimawandel und Schwund der Artenvielfalt überhaupt noch aufgehalten, wie das Schlimmste vermieden werden kann. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas, das als selbstverständlich gilt, aber es eigentlich nicht sein sollte. Späteren Generationen könnte das heute überall unsichtbar eingeflochtene dualistische Denken – der Mensch als Eigentümer der Erde hier, die Natur als Gegenstand dort – als eine der Hauptursache ökologischer Krisen überdeutlich werden.
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