Das Supergras: Wunderwaffe gegen Klimawandel, Fischsterben – und Schlafprobleme
Unter Wasser bindet Seegras CO2 und schützt den Fischnachwuchs. Aber auch als welker, brauner Haufen am Strand, ist die Unterwasserpflanze wertvoll. Wie gut sich Seegras als Material für Kissen und Matratzen oder für die Dämmung von Häusern eignet, wird gerade wiederentdeckt.
Seegras ist, so viel lässt sich sagen, die gute Nachricht in trüben Tagen: Es rettet Dorsch und Hering, es löst das CO2-Problem, es beschützt die Küsten vor zunehmenden Sturmfluten, es senkt die explodierenden Heizkosten und ganz nebenbei heilt es Wunden, lindert Nackenschmerzen und kuriert Allergien oder Schlafmangel.
Nun gut, vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Vielleicht ist das neue Supergras nicht die alleinige Lösung für all diese Probleme. Aber der Imagewandel der Meerespflanze ist schon erstaunlich: Der Aufstieg vom stinkenden, Touristen vergraulenden, braunen Abfallhaufen am Strand zum Klimaretter, Bewahrer der Artenvielfalt und biologischen Supermaterial war ein steiler.
Dabei sind die meisten Eigenschaften zumindest an den Küsten seit langem bekannt. „Mit Seegras konnte man schon immer – selbst auf einem räudigen Fischkutter im Winter vor den Lofoten – eine saubere und warme Schlafstätte bauen“, sagt Kristian Dittmann. Der Kappelner fing als einer der ersten in Schleswig-Holstein wieder an, in kleinem Stil Seegras zu sammeln, es aufzubereiten und Kissen damit zu polstern. Eigentlich ein altes Handwerk. „Fünf Mark gab es früher für einen vollen Schlei-Kahn“, weiß Dittmann, der sich viel mit der Geschichte des Seegrases beschäftigt hat und die Vorteile des Materials wie eine Litanei herbeten kann: Es brennt nicht, es schimmelt nicht, hat keine Milben und ist für Allergiker geeignet. Außerdem nehme es den Schweiß auf, habe eine antibakterielle Wirkung und – sorge für erholsamen Schlaf. Menschen, die auf Seegraskissen schlafen, würden weniger schwitzen, weniger Nackenschmerzen haben und weniger schnarchen, so Dittmann.
Besser träumen auf Seegraskissen
Dass das Seegras selbst in völlig trockenem Zustand nicht entflammbar ist und nicht schimmelt, weiß man schon lange. Auch der Einsatz als natürliches Dämmmaterial in Gebäuden ist nicht neu. Dass die Seegraswiesen in der Ostsee aber jedes Jahr gänzlich unbemerkt 30 bis 60 Kilotonnen Kohlendioxid speichern, hat man erst vor kurzem sehr grob abgeschätzt. „Die sammeln CO2 im Wurzelwerk und im Sediment an – ähnlich wie in Hochmooren“, erklärt Thorsten Reusch, Biologe am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel. Nimmt man alle Seegraswiesen der Ostsee zusammen reicht die jährliche Menge immerhin aus, um den CO2-Fußabdruck von einigen Tausend Bundesbürgern zu neutralisieren. Das ist nicht genug, um das Emissionsproblem zu lösen, aber es könnte ein einfaches und lohnendes Teilstück im Kampf gegen den Klimawandel sein.
Denn ganz nebenbei dienen die Unterwasserwiesen ja auch noch als „Oasen“ für die Meeresfauna. Im Keller des Geomars lassen sie sich trockenen Fußes bestaunen: In weißen Tanks und unter hellem LED-Licht wiegen sich dort die langen grünen Blätter im Takt der künstlich erzeugten Wellen. Wilde Aufhäufungen von Wattwürmern, Krebse und Schnecken sind hier und da zu entdecken. In der Ostsee selbst dürfte man sich noch Seesterne, Muscheln und viele kleine Fische dazu vorstellen. Denn Seegraswiesen sind wahre Hotspots der Biodiversität. Der Hering klebt mit Vorliebe seine Eier an die Blätter und viele andere Fische nutzen den Unterwasserdschungel als geschützte Kinderstube für den Nachwuchs. Junge Dorsche sind langfristig lebensfähiger, wenn sie einige Zeit im Seegras verbracht haben.
Mit Jiu-Jitsu gegen die Küstenerosion
Ob es um die CO2-Emissionen oder die dahinsiechenden Dorsch- und Heringsbestände geht, das Seegras ist sehr gut darin, zumindest ein Teil des menschlich verursachten Unheils abzumildern. Das gilt auch für steigende Meeresspiegel. Denn intakte Seegraswiesen können mit ihrer Jiu-Jitsu-Taktik wichtige Küstenschützer sein. Ganz nach dem Prinzip „Siegen durch Nachgeben“ schwingen die Halme zwar mit den Wellen mit, fangen durch ihr Blätterdach aber einen beträchtlichen Teil der Wellenenergie ab. „Und dann sind da noch die Wurzeln und die Rhizome im Boden, die das Sediment gegen Erosion schützen und festhalten“, erklärt Thorsten Reusch.
Küstenschutz, Fischaufzucht und Klimaschutz in einem – da sollte man meinen, der Mensch würde die Seegraswiesen pfleglich behandeln. Das versucht er mittlerweile auch, aber in der Vergangenheit sind rund zwei Drittel aller Seegraswiesen verschwunden. „Die Schlei war früher dicht mit Seegraswiesen bewachsen. Heute gibt es vielleicht noch ein oder zwei kleine Wiesen“, sagt Kristian Dittmann.
Die Gründe dafür sind schnell benannt: Der hohe Nährstoffeintrag durch die Landwirtschaft führt zu Algenwachstum und einer Trübung des Wassers. In einigen Gebieten fehlt dem Seegras daher einfach das nötige Licht. „Vor hundert Jahren wuchs es in der Ostsee noch bis in 17 Metern Wassertiefe. Heute ist nach sieben Metern Wassertiefe Schluss“, so Dittmann.
Klima-Opfer oder Klima-Retter?
Und dann ist da ja auch noch der Klimawandel. Das Seegras kann zwar einen Teil zum Klimaschutz beitragen – aber nur, wenn es den steigenden Temperaturen nicht selbst zum Opfer fällt. Ob sich Seegras an wärmeres Wasser anpassen kann, hat Geomar-Forscher Thorsten Reusch in den Tanks im Labor erprobt. „Leider sieht das nicht so aus“, fasst Reusch die Ergebnisse zusammen. Das Wachstum war bei allen Pflanzen geringer und ungefähr ein Viertel aller Sprösslinge starb ab. Nun will der Meeresbiologe versuchen, diejenigen Pflanzen auszuwählen und zu züchten, die mit der Wärme am besten zurechtkamen.
Doch gearbeitet wird nicht nur im Labor. Weil sich die Wasserqualität in der Ostsee zuletzt verbessert hat, versuchen Geomar-Forscher auch, Seegraswiesen wieder neu anzupflanzen. Weil das Seegras keine Alge, sondern eine Unterwasserpflanze ist, funktioniert das im Prinzip ganz ähnlich wie im eigenen Garten. „Die einfachste Technik ist es, mit Tauchern Stecklinge zu setzen“, sagt Reusch. Insgesamt 3000 Quadratmeter vor den Küsten von Kiel, Gelting und Maasholm konnten auf diese Weise bereits angepflanzt werden. Das ist ein guter Erfolg – ist aber nur ein winziger Bruchteil angesichts der riesigen verlorenen Flächen. In einem Citizen-Science-Projekt sollen daher demnächst auch Bürger mithelfen, Seegras wieder anzupflanzen. Allerdings stocke das Vorhaben gerade aufgrund diverser bürokratischer Hürden, berichtet Reusch. Und gegen Bürokratie ist noch kein Supergras gewachsen.