Im Reich der Seevögel – Birding auf Skomer
Die Insel Skomer gilt zu Recht als einer der besten Orte auf den Britischen Inseln, um Seevögel in ihren Brutkolonien nahe zu kommen. Ein Besuch lohnt sich.
Wer Papageitaucher aus nächster Nähe erleben möchte, der bzw. dem bietet sich in Wales eine einzigartige Möglichkeit. Im äußersten Südwesten, in Pembrokeshire, erheben sich die Felsen der Insel Skomer aus der Keltischen See. Dort brüten jeden Sommer neben diversen anderen Seevögeln zehntausende Papageitaucher. Die Vögel sind an menschliche Besucher gewöhnt. Auf schmalen Fußwegen bewegt man sich durch die Brutkolonien.
Das Wetter bestimmt, wann es nach Skomer geht
Wer nach Skomer will, lernt schnell: Hier geben Wind und Wellen die Regeln vor. Bei günstigem Wetter trennen nur 15 Minuten gemächliche Bootsfahrt die Insel vom Festland. Doch bläst der Wind zu stark aus nördlichen Richtungen, schlagen die Wellen schnell zu hoch. Selbst wenn das Wetter vom Festland aus freundlich wirkt, twittert das Fährunternehmen dann: „There will be no no boats to Skomer tomorrow.“
Genau das passiert am Wochenende vor meinem geplanten Besuch auf der Vogelinsel, entsprechend nervös checke ich immer wieder die Wettervorhersage für den Montag. Doch dann kommt Sonntagabend eine Nachricht von Vogel-Guide Dave Astins: Unser Boot kann am nächsten Morgen wie geplant fahren.
Exklusive Begegnungen auf der Vogelinsel
Alle Touren nach Skomer beginnen in Martin's Haven, einer kleinen, felsigen Bucht am Festland. Dort treffen sich an diesem Morgen 15 Naturbegeisterte, die eine Vogelexkursion auf die knapp 300 Hektar große Insel gebucht haben. Montag ist auf Skomer ein besonderer Tag: Es sind keine Tagesbesucher erlaubt, bis auf die Exkursion, die Dave Astins im Auftrag des Wildlife Trust of South and West Wales anbietet. Wir 15 haben die Pagageitaucher und anderen Vögel auf der Insel an diesem Tag also nahezu für uns allein. Auf dem Boot sind außer uns nur einige Freiwillige, die eine Woche lang ehrenamtlich helfen werden, die Insel zu pflegen und den gefiederten Bewohnern und den zweibeinigen Besucherinnen und Besuchern ein gutes Miteinander zu ermöglichen.
Und noch jemand ist mit an Bord der „Dale Queen“, dem nagelneuen Schiff, das seit dem Frühjahr 2022 die Besucher zur Insel bringt: Annette Fayet – Seevogelforscherin von der Uni Oxford. Ein Zufall, über den ich mich freue. Über ihre Arbeit habe ich schon berichtet: Fayet untersucht seit einigen Jahren unter anderem, wo Papageitaucher den Rest des Jahres verbringen, wenn sie nicht an Land brüten. Fayet hat Vögel verschiedener Kolonien mit Geolokatoren ausgestattet: Papageitaucher von Skomer, von den Westmänner-Inseln in Island sowie norwegische Vögel von der Insel Røst. „Das hier ist dieses Jahr mein erster Besuch auf Skomer“, erzählt mir Fayet auf der Überfahrt. Die Landestelle für das Boot in North Haven kommt in Sicht und damit auch direkt schon ein Teil der Hänge, in denen die Papageitaucher ihre Bruthöhlen haben. „Die Hänge sehen sehr trocken aus. Letztes Jahr war es auch schon sehr trocken. Ich hoffe, dass bald etwas Regen kommt, damit sich die Vegetation erholt.“ Von früheren Besuchen kenne ich diese Hänge bewachsen mit Grasbüscheln, doch jetzt dominiert nackte Erde.
Auf Skomer geht es den Papagaitauchern so gut wie noch nie seit Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Jahr wurden dort knapp 39.000 der Vögel gezählt. Tendenz seit rund 15 Jahren kontinuierlich steigend. Das ist etwas Besonderes, wie Annette Fayet aus eigener Anschauung weiß. „Auf den Westmänner-Inseln und auf Røst gehen die Bestände seit Jahren zurück.“ Auch in manchen schottischen Populationen sieht es nicht besser aus. „Rund um Skomer finden Papageitaucher genügend Sandaale zum Fressen und zum Füttern ihrer Küken. Das ist nicht in allen Brutkolonien im Atlantikraum so. Die Elterntiere fangen zu wenig, um ihre Küken groß zu bekommen, selbst wenn sie zum Fischfang weit fliegen.“ Die Ursachen für diese Entwicklungen erforschen Annette Fayet und andere Wissenschaftlerïnnen noch: Veränderte Meeresströmungen könnten regional ebenso eine Rolle spielen wie der Klimawandel und Überfischung.
Am Landungssteg trennen sich unsere Wege. Annette Fayet wird ein paar Tage mit einer Doktorandin zusammen Papageitaucher mit Geolokatoren ausstatten. Und ich steige mit Dave und der Gruppe die Treppe zur Hochebene von Skomer hinauf. Schon nach wenigen Stufen wartet ein besonderer Anblick. In den Felsen direkt neben der Treppe sitzt gut sichtbar zwischen den erwachsenen Trottellummen ein flauschiges schwarzweiß geschecktes Lummen-Küken. Denn auf Skomer haben nicht nur Papageitaucher ihre Kinderstuben, sondern unter anderem auch Lummen, Tordalke, Eissturmvögel und sogar einige Sturmwellenläufer.
Ein besonderes Beobachtungshighlight sind außerdem Alpenkrähen, Verwandte der Alpendohlen. Von diesen unterscheiden sie sich durch ihren leuchtend roten Schnabel – Alpendohlen haben einen gelben. Auf Skomer und an der Festland-Küste von Pembrokeshire finden die Vögel noch die Lebensbedingungen, die sie brauchen: Felsnischen zum Nisten und möglichst kurzen, mageren Rasen zum Jagen von Insekten. Auch Papageitaucher-Wohngebiete scheinen sich dazu zu eignen. Dave zeigt uns Alpenkrähen, die mitten durch die Brutkolonie staksen. „Das sind Elterntiere mit ihren Jungen. Sie bringen ihnen bei, Futter zu finden.“
Skomer ist höhlenreich
Unterwegs auf der Insel gilt: Immer schön auf dem Weg bleiben und nie einen Rucksack am Wegrand abstellen. Denn das Erdreich ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse, und zwischen Mai und Juli kann man davon ausgehen, dass nahezu jedes Loch im Boden bewohnt ist. Nicht nur von Papageitaucher-Nestlingen und Kaninchen, sondern auch von den heimlichen Herren von Skomer: den Atlantiksturmtauchern. Auf Skomer brüten rund 350.000 Paare in Erdhöhlen. Eine im ersten Moment unfassbare Zahl für eine Insel von kaum drei Quadratkilometern. Weitere Vögel nisten auf den nahegelegenen Inseln Skokholm und Ramsey. „Diese drei Inseln zusammen vereinen rund Zweidrittel des Weltbestandes der Atlantiksturmtaucher“, erklärt Dave Astins.
Doch den Trubel des Tages mit menschlichen Besuchern und hungrigen Heringsmöwen überlassen diese Vögel den Papageitauchern. Die Manxies, wie sie hier nach ihrem englischen Namen Manx Shearwater liebevoll genannt werden, pendeln immer nur nachts zwischen ihren Nisthöhlen und dem Meer hin und her. Eine Vorsichtsmaßnahme. „Manxies können hervorragend schwimmen und fliegen, aber an Land sind sie unglaublich unbeholfen. Ihre Beine sind ganz weit hinten am Körper, sie können nicht aufrecht stehen“, erklärt Dave. So werden sie leicht zur Beute von Mantelmöwen oder Kolkraben. Trotz ihrer großen Zahl werden wir an diesem Tag nur einige tote Atlantiksturmtaucher auf den Inselpfaden sehen, die ihren Jägern beim Starten oder Landen nicht entkommen sind.
Die Alternative zu einem Bootsausflug sind zwei oder drei Nächte auf Skomer, im Hostel am alten Farmhaus. Dort gibt es einige Zimmer für Übernachtungsgäste. Der Vorteil für Dave Astins: „Man kann dann abends mit einer Rotlicht-Taschenlampe raus und die Manxies um sich herum erleben. Mitten der Nacht in der größten Manxie-Kolonien der Welt zu sein, ist ein unglaubliches Erlebnis.“
Am alten Farmhaus befinden sich auch die einzigen (Kompost-)Toiletten. Dort ist man zu dieser Jahreszeit allerdings nicht allein. Durch die offenen Türen fliegen Rauchschwalben ein und aus, die unter anderem in den Toilettenräumen brüten. Das alte Farmhaus selbst ist eine Ruine, die als Unterstand zum Picknicken dient. Noch bis 1958 wurde auf Skomer Landwirtschaft betrieben, danach kaufte eine staatliche Naturschutzbehörde die Insel. Seitdem werden die Vögel auf der Insel systematisch erforscht und die Insel wird inzwischen vom Wildlife Trust of South and West Wales gemanagt. Zum Glück scheinen auf der Insel trotz Landwirtschaft keine Ratten gelebt zu haben. „Hier gibt es keine Tiere, die in Bruthöhlen gehen und Eier oder Küken fressen“, erklärt unser Guide.
Zuflucht auch für selten gewordene Arten
Auch das Inselinnere bietet Vogelbegegnungen. Auf dem üppig wachsenden Farn sitzt ein Wiesenpieper mit Futter im Schnabel. Und wir haben Glück und erhaschen einen Blick auf eine Sumpfohreule. In den vergangenen Jahren hat immer mindestens ein Paar dieser Eulen auf der Insel gebrütet. Zwischen Farnkraut und Roten Lichtnelken suchen Austernfischern mit Jungen nach Futter. Und über uns fliegen zwei Große Brachvögel hinweg. „Wir haben dieses Jahr drei Brutpaare“, erzählt Dave. „Letztes Jahr haben sie ihre Jungen nicht allerdings durchbekommen. Das sind die letzten Großen Brachvögel, die wir im Pembrokeshire noch haben. Auf dem Festland fehlen den Vögeln aufgrund der landwirtschaftlichen Praxis inzwischen die richtigen Lebensbedingungen.“
Ein Herz für Möwen
Auf den Felsen, die sich aus dem Farnwald erheben, sitzen Mantelmöwen und Heringsmöwen. Ein Blick durch Daves Spektiv macht kleine, farblich perfekt getarnte Federflausche sichtbar – junge Heringsmöwen-Küken. Die Birder-Gruppe ist angetan, sehr zur Freude unseres Guides: „Ich habe Euch schon vor der Mittagspause dazu bekommen, Möwen zu mögen. Rekord!“ Dave hat ein Herz für Möwen. Er beobachtet schon sein ganzes Leben lang Vögel. Verstärkt wurde das noch, nachdem seine Familie Ende der 1980er Jahre von England nach Pembrokeshire zog. Wie Dave schmunzelnd erzählt, traf diese Entscheidung bei ihm „zunächst nicht unbedingt auf große Begeisterung“, doch seitdem hat es ihm die Vogelwelt im Südwesten von Wales besonders angetan.
An der Nordküste von Skomer angekommen, sehen wir Möwen und einige Basstölpel über einer Stelle im Wasser kreisen. Offenbar schwimmt dort ein Fischschwarm. Und auch ein Schweinswalweibchen mit seinem Kalb taucht an der Stelle immer wieder kurz aus dem Wasser auf. In einer Nachbarbucht sehen wir zwei Kegelrobben. Skomer ist auch bei ihnen eine beliebte Kinderstube. Die Weibchen nutzen später im Jahr kleine Buchten rund um die Insel, um ihre Jungen zu großzuziehen.
Basstölpel-Kolonie auf der Nachbarinsel
Vom Westende der Insel, Skomer Head, hat man an diesem Tag einen klaren Blick nach Grassholm. Die Insel sieht aus wie mit einer Sahnehaube bedeckt. Doch der weiße Überzug besteht aus rund 36.000 Basstölpel-Paaren, die auf Grassholm brüten. Die Insel gehört der Royal Society for the Protection of Birds. Den Inselbewohnern kann man nur auf einer Bootstour näher kommen. „Im Moment sind die Fachleute besorgt“, sagt Dave. „In Schottland ist unter anderem auf Bass Rock die Vogelgrippe H5N1 ausgebrochen und viele Basstölpel und andere Vögel sterben. Von Grassholm sind bislang keine Fälle bekannt, aber wir wissen durch Beringung, dass junge Basstölpel zum Teil zwischen den Brutkolonien hin und her fliegen.“ Noch ist die Seevogelwelt im Süden von Wales in Ordnung. Doch die aktuell im Nordseeraum grassierende Hochpathogene Aviäre Influenza (HPAI) wäre nicht nur für Basstölpel, sondern sicherlich auch für die ebenfalls eng beieinander brütenden Trottellummen und andere Seevögel eine große Gefahr.
Papageitaucher und Atlantiksturmtaucher pflegen aufgrund ihrer Nistpraxis ihren Bruthöhlen zwar immerhin eine gewisse Art von Social Distancing. Doch Papageitaucher schnäbeln untereinander regelmäßig und verbringen Zeit nah beieinander. Das lässt sich besonders gut an The Wick beobachten, einer Bucht im Süden von Skomer.
Dort kommen die menschlichen Besucher den Vögeln besonders nah. Die Papageitaucher tapern zum Teil zwischen den Beinen der Menschen hindurch zu ihrer Höhle. Wenn sie Sandaale im Schnabel haben, profitieren sie sogar ein bisschen vom Schutz durch die hochgewachsenen Zweibeiner. Die erschweren es nämlich Silber- und Heringsmöwen, den kleinen Alken ihren Fang abzujagen.
Das Konzert der Seevögel
Die Bucht von The Wick ist für die meisten wohl das Highlight ihres Besuchs auf der Insel. Denn dort lässt sich nicht nur das Treiben der Papageitaucher aus nächster Nähe erleben, die fast senkrecht abfallende Felswand an der Nordwest-Seite bietet auch einen Blick auf brütende Trottellummen, Tordalke, Eissturmvögel und Dreizehenmöwen. An The Wick zu stehen, ist auch akustisch ein Erlebnis: Ab und zu lässt sich ein einzelner Papageitaucher vernehmen. Er klingt für meine Ohren ein bisschen wie ein sehr laut knurrender Magen. Den akustischen Hintergrund liefern lautstark die Trottellumen. Unter ihr konstantes, trompetendes „Ha-ha-hahr“ mischt sich das Quäken der Dreizehenmöwen, die ihren englischen Namen rufen: „Kittiwake, Kittiwake, Kittiwake“.
„Dreizehenmöwen sind richtige Hochseemöwen. Man wird sie nie im Inland sehen. Wenn sie könnten, würden sie vermutlich noch auf dem Meer brüten“, erklärt Dave uns schmunzelnd.
Bei so schönem Wetter wie heute vergeht so ein Tag im Reich der Seevögel wie im Flug. Auf der Bootsfahrt zurück zum Festland versuche ich die Kamera Kamera sein zu lassen und richte meine Augen, Ohren und Nase noch mal auf die marine Naturkulisse um mich herum. Ich war schon mehr als ein halbes Dutzendmal auf Skomer. Aber diese Insel schafft es immer noch, mich zu begeistern und zu überraschen. Auf der Birding-Tour haben wir insgesamt 37 Vogelarten gesehen. Doch in dieser Nacht geistert vor allem eine Art durch meine Träume: kleine knurrende schwarz-weiße Kobolde mit orange-blauem Schnabel.