Schüsse in die Bratpfanne

Ein Stunde Wald, die Sie nie wieder vergessen. Spurensuche in der Natur des 21. Jahrhunderts.

von Gerhard Richter
7 Minuten
Links unten im Bild steht eine Schreibmaschine auf einer Holzbank in einem Mischwald. Es ist ein Blatt Papier eingezogen.

Es ist genauso, wie ich befürchtet habe. Ich sitze in der freien Natur, lausche auf die Stimme von Mutter Erde. Höre auch Vogelgezwitscher, aber niemand spricht zu mir. Aber was hatte ich erwartet?


Field Writing. Draußen sein und schreiben.

Erst mal alles beiseitelassen, was ich weiß und gelesen habe. Nichts von dem wiedergeben, was andere erzählt oder geschrieben haben. Nur spüren, was mir der Moment mitteilt. Am schönsten wäre es – und das ist schließlich irgendwo in meinen Genen eingeschrieben – wenn ich mal wieder spürte, dass ich Teil von etwas unglaublich Großem bin: Der Natur. Aber ich merke nichts. Ich bin nur ein Mensch, der sonntags durch den Wald radelt, dabei seinen eigenen Gedanken nachgeht, blind und taub für die Debatten und Sorgen der übrigen Geschöpfe.

So ein „Naturerlebnis“, wie es mir vorschwebt, braucht vermutlich doch etwas mehr Zeit. Ich muss einsinken. Wenn es so etwas wie einen Sinn für die Sprache der Tiere gibt, dann ist er nach den vielen Jahren am Schreibtisch völlig verschüttet. Mein Sensor für das Gewimmel der Lebewesen ist getrübt, meine Antenne für die uralten Weisheiten des Waldes abgeknickt. Oder kann es sein, dass die Natur verstummt, wenn sich ein Mensch nähert? So wie auf dem Schulhof, wenn sich der Klassentrottel dazustellt und alle auf den Boden starren und schweigen. Na gut, wenn die Natur nicht mit mir sprechen will, dann plaudere ich halt einfach los. Für die Natur ist es ja auch neu, dass hier jemand sitzt, eine Schreibmaschine auf den Knien balanciert, und hinein tippt, was er sieht und denkt. Wir müssen uns halt einfach erst mal wieder kennenlernen, die Natur und ich. Bei einer Party mit fremden Menschen und alten Bekannten würde man sagen: Ankommen, auf die Atmosphäre einlassen.

Jenseits des Feldwegs, genau mir gegenüber wächst eine Birke mit zwei Stämmen. Sie trägt frisches Grün. Ihre Rinde ist unten grob und grau, erst in drei Metern Höhe beginnt sie weiß zu leuchten. Sie wächst an einer Böschung vor freiem Feld. Darauf ein grüner Flaum junger Keime. Obwohl ich schon seit 20 Jahren auf dem Land lebe, weiß ich erst, ob es Raps, Mais oder Roggen ist, wenn mir die Pflanzen schon an die Knie reichen. Hinter dem Feld beginnt der Kiefernwald. Kiefern erkenne ich sofort. Ich überlege, wie viele Bäume ich unterscheiden kann: Ahorn, Eiche, Birke, Kiefer, Weide, Pappel, Linde, Lärche und Kastanie. Schwieriger wäre es, wenn ich sagen müsste, ob ein Baum jetzt eine Fichte oder Tanne ist, eine Robinie oder Akazie, eine Erle oder Esche.

Die Kiefer hinter mir ist mir sehr vertraut.

Gibt’s massenhaft in Brandenburg. Dieses Exemplar ist hoch, bestimmt 20 Meter. Ihre Äste schließen sich über mir zu einem lichten Schirm aus seltsam abgewinkelten Ästen. Kiefern sehen immer irgendwie verkrüppelt aus, ihnen fehlt es an Symmetrie und Grundordnung. Mit ihren Verrenkungen erinnern sie mich an expressionistische Tänzer. Aber sie lassen viel Licht durch und auch viel Himmel. Das macht Kiefern sympathisch. Sie sind nicht so düster wie Fichten, die einen Schatten werfen wie ein Brett. Durch die Baumkrone der Kiefer hindurch sehe ich ein Flugzeug. Eigentlich sehe ich nur den Kondensstreifen von Ast zu Ast wandern. Der Höhenwind treibt ihn langsam nach Osten, wobei sich ganz gemächlich weiße Wölkchen daraus lösen und nach rechts und links davon driften – Schafe auf einer blauen Weide.

Ich sitze auf einer Holzbank zwischen der Hohen Heide und Blandikow, zwei Dörfern im Nordwesten Brandenburgs. Die Holzbank ist roh gezimmert. Ihre Sitzfläche besteht aus einem halben Stamm, getragen von zwei runden Stücken. Die Bank ist alt, die Oberfläche verwittert. Ihr Holz ist fast schwarz, aufgesprungen und rissig. Sie ist bedeckt mit Kiefernnadeln und weißen Klecksen Vogelkacke. Ameisen und Asseln krabbeln durch die Furchen – und andere winzige Tiere, die ich nur wahrnehme, wenn sie sich bewegen. Die Bank steht an einem Feldweg, der fast so rot leuchtet wie Ziegel. Das habe ich hier in der Gegend um Blandikow öfters beobachtet. Die beiden Fahrspuren sind niedergewalzt, in den Schlaglöchern, wo sich die Feuchtigkeit sammelt, sind die Abdrücke grobstolliger Reifen. In der Mitte des Feldwegs, etwas erhöht, wuchert Gras.

Vor kurzem fegte ein Sturm über diese Gegend. Drei Kiefern liegen quer im Wald, umgerissen vom Wind, die Wurzelballen mit einer Scheibe Erde dran einfach hochgeklappt, wie ein Scharnier. Der Regen hat schon Sand abgespült. Wie auf einer Tafel aus dem Naturlehrpfad kann ich die Erdschichten studieren, von der Grasnarbe über die dunkelgraue Humusschicht bis zum rötlich gelben Sand, der offensichtlich zu wenig Halt geboten hat. Die langen Wurzeln, die bisher in der Erde nach Halt und Wasser suchen, sind abgerissen und ragen nutzlos in die Luft. Sie zeigen in die Richtung, aus der der Sturm kam, wie dünne anklagende Zeigefinger, oder die Fühler eines Frühwarnsystems, das zittert und vibriert, wenn der nächste Sturm heraufzieht und die übrigen Bäume sich mit ihren Wurzeln festkrallen in der Erde.

Die herausgerissene Erde erinnert mich an offene Wunden.

In einem der Löcher, in der mal die Wurzelscheibe stand, liegt eine Bratpfanne. Sie ist aus Edelstahl mit Mehrschichtboden aus Aluminium. Das sorgt auf dem Herd für gute Wärmeverteilung. Für ihren Besitzer war sie eine gute Zielscheibe – das zeigen die vier Einschusslöcher im Pfannenboden. Ich überlege, ob man das nun up- oder downcycling nennt.

Ein ungewöhnliches Geräusch reißt mich aus den Gedanken. Motoren. Zwei Quads knattern vorbei – diese offenen Geländefahrzeuge mit vier dicken Reifen und Verbrennungsmotor. Die Fahrer tragen papageienbunte Schutzkleidung. Sie sind ganz auf ihre Maschinen konzentriert und versuchen, den Schlaglöchern auszuweichen. Die Bodenbleche ihrer Fahrzeuge streifen die Spitzen der Grashalme in der Mitte des Feldwegs. Die beiden Fahrer scheinen mich nicht zu bemerken, wie ich da mit meiner Schreibmaschine sitze und alles aufschreibe. Als sie außer Sichtweite sind und der Lärm der Motoren langsam leiser wird, spüre ich eine Veränderung: Die beiden Fahrer haben mich von der Zivilisation entfernt. Als Beobachter von Wald und Quads fühle ich mich plötzlich dem Wald verwandter als meinen zwei motorisierten Artgenossen. Behutsam kehrt die Stille aus dem Wald zurück und hüllt mich ein.

Es stimmt also wirklich: Bei meinem ersten Feldschreibversuch bin ich der Natur ein kleines Stückchen näher gerückt. Erstaunt/Zufrieden/Benommen/Beglückt verstaue ich die Schreibmaschine in ihrem Blechkoffer und radle nach Hause.

Was mir vor allem in Erinnerung bleibt, ist die Bratpfanne mit den Einschusslöchern. Warum hat mir die Natur bei unserem ersten Date ausgerechnet so etwas Skurriles gezeigt?

eine Sand mit Schutzbrille und einer Flasche darin [AI]