So funktioniert das Hinauszögern in der Klimakrise: Nicht ich, nicht jetzt, nicht so, zu spät
Vier Argumentationsmuster verzögern wirksame Klimaschutz-Maßnahmen. Zwei Psychologinnen erklären, wie sie funktionieren und was man dagegen tun kann.
Der Weltklimarat IPCC warnt, dass klimaschädliche Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich auf Null gebracht werden müssen. Seit Jahrzehnten verzögern oder verhindern Politik und Unternehmen mit den immer gleichen vier Argumenten wirksame Maßnahmen. Eine internationale Forschungsgruppe hat diese zentralen Strategien identifiziert: Eine internationale Forschungsgruppe hat diese zentralen Argumentationsformen identifiziert: Nicht ich, nicht jetzt, nicht so, zu spät.
Die Psychologinnen Anita Habel und Dagmar Petermann von „Psychologists for Future“ erklären, warum diese Argumente so gut funktionieren und wie sie sich entkräften lassen.
Wie funktioniert das Argument „Nicht ich“?
Anita Habel: Es wird Verantwortung abgeschoben, indem man sagt, Verbraucher:innen sollen andere Konsumentscheidungen treffen und es liege in der Eigenverantwortung, sich klimafreundlicher zu verhalten. Das lenkt den Fokus weg von den strukturellen Veränderungen, die dringend notwendig sind.
Und das Argument „Nicht jetzt“?
Anita Habel: Die Aufmerksamkeit wird auf unzulängliche Maßnahmen gerichtet. Gleichzeitig wird der Eindruck erzeugt, dass sie ausreichten und deshalb größere Veränderungen nicht notwendig seien. Ganz zentral ist der Fokus auf technische Lösungen: Wir müssten nur die richtigen Technologien entwickeln und effizienter werden – dann sei alles super. Dem ist nicht so. Diese Verzögerungsargumentation ist bei vielen Politiker:innen zu beobachten.
Aber die Klimaziele werden doch immer höhergesteckt?
Anita Habel: Ständiges Reden über Ziele anstelle von tatsächlichen Maßnahmen kann wirksames Handeln ebenfalls verzögern. Das zeigte 2021 das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die unzureichenden Maßnahmen hinter den großen Ziel-Formulierungen aufzeigte. Verzögernd wirken übrigens auch Debatten um Anreize und Freiwilligkeit, statt um Standards und Limits.
Und was steht hinter dem Argument, man solle es „Nicht so“ machen?
Anita Habel: Damit werden die Nachteile wirksamer Maßnahmen betont. Angeblich seien nur perfekte Lösungen, denen alle Beteiligten zustimmen könnten, umsetzbar. Oder die Kosten und der Aufwand zur Umsetzung von Maßnahmen seien zu groß. Dabei wird ausgeklammert, welche Kosten und welcher Aufwand auf uns zukommen, wenn sich die Klimakrise weiter verschärft.
„Zu spät“: Warum ist dieses Argument so oft zu hören?
Anita Habel: Es ist eine Kapitulation zu sagen, es sei nicht mehr möglich, Maßnahmen gegen die ökologischen Krisen zu ergreifen und wir müssten uns damit abfinden. Oder wir müssten uns nur noch auf die Anpassung an die Veränderungen durch die Klimakrise konzentrieren. Dieses Argument wird möglicherweise noch häufiger zu hören sein, wenn erste Kipppunkte im globalen Klima- und Ökosystem eintreten, wie es sich bereits im Amazonas-Gebiet und beim Golfstrom abzeichnet.
Warum ist es wichtig, typische Verzögerungsdiskurse identifizieren zu können?
Dagmar Petermann: Gerade in Europa und im deutschsprachigen Raum ist die ideologische Verleugnung des Klimawandels nicht so ausgeprägt ist wie in den USA und den angelsächsischen Ländern. Das heißt, der menschengemachte Klimawandel wird überwiegend anerkannt. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mehr mit den Verzögerungsdiskursen befassen, anstatt uns auf die seltene Leugnung der Klimakrise zu fokussieren.
Warum Verzögerungsargumente so gut wirken
Warum wirken diese Verzögerungsargumente so gut?
Anita Habel: Menschen neigen dazu, große Veränderungen zu vermeiden. Manche Argumente sind wir aus anderen Bereichen gewohnt: Technische Lösungen haben uns bisher schon viel Fortschritt gebracht. Auch die Individualisierung gesellschaftlicher Verantwortung ist nicht neu – sie lässt sich seit vielen Jahren in den Bereichen der Erwerbsarbeit oder dem Gesundheitsbereich beobachten.
Dagmar Petermann: Verzögerungsargumente können psychisch entlastend sein. Insbesondere, wenn eine Person einen Konflikt zwischen den notwendigen Änderungen und ihren Möglichkeiten erlebt, sich beschuldigt fühlt, oder von der psychischen Verarbeitung der ökologischen Krisen überfordert ist, dann können die Verzögerungsargumente helfen, einen Umgang mit diesen Belastungen zu finden.
Was wäre eine gute Erwiderung auf diese Entlastungsargumente?
Anita Habel: Es ist wichtig, anzuerkennen, dass diese Argumente die Funktion der Entlastung und dem Schutz vor Überforderung erfüllen können. Dann können Argumente eingebracht werden, die nicht verzögern, aber die entsprechenden Funktionen ebenso guterfüllen. Idealerweise entsteht eine Gesprächssituation, in der auf Augenhöhe gemeinsam Lösungen gefunden werden, welche die Verzögerungsargumente überflüssig machen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Dagmar Petermann: Das Verzögerungsargument, dass Lösungen nur in Form von Anreizen und Freiwilligkeit funktionieren würden, kann die Funktion erfüllen, mögliche Widerstände aus der Bevölkerung gegen neue Standards und Limits und die Angst vor Gegenwind zu vermeiden. Tatsächlich aber zeigen diverse Studien, dass sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland und viele Unternehmen klare Vorgaben und Rahmenbedingungen wünschen, die ihnen Orientierung geben, sie entlasten und gleichzeitig wirksam gegen die ökologischen Krisen sind.
Der wahre Kern
Viele Verzögerungsargumente sind nicht falsch. Wie wichtig ist es, dass sie einen wahren Kern haben?
Dagmar Petermann: Der wahre Kern knüpft an die Anliegen der Adressat:innen der verschiedenen Milieus an. Gerade im intuitiven, schnellen Denken, also wenn die tiefergehende Reflektion ausbleibt, werden die Verzögerungsargumente durch ihren wahren Kern überzeugender.
Sieht sich derjenige, der diese Verzögerungsargumente vorbringt, möglicherweise nicht als Verzögerer, sondern als Realist?
Dagmar Petermann: Mit einem wahren Kern ist es möglich, kognitive Dissonanzen, das heißt Spannungszustände aufgrund von Widersprüchlichkeiten aufzulösen, ohne sich selbst als Bremser wahrzunehmen und ohne sein Selbstbild zu gefährden. Das ist mit Argumenten ungeheuer schwer zu überwinden, denn es erfordert eine Veränderung in identitätsbildenden Aspekten.
Anita Habel: Genau deswegen kann es wichtig sein, den wahren Kern für die Entkräftung anzuerkennen und zu erweitern: Natürlich müssen auch andere Länder Maßnahmen ergreifen –hier kann Deutschland eine Vorbildfunktion erfüllen. Natürlich braucht es die Veränderung individuellen Verhaltens – und zugleich strukturelle Veränderungen, die eine andere Lebensweise ermöglichen. Natürlich sind große Veränderungen schwer und bringen Kosten mit sich – nur leider kommen wir nicht darum herum, deshalb lasst uns gemeinsam schauen, welche Lösungen wir finden und wie wir Widrigkeiten auffangen können.
Die Moral der Argumente
Macht es einen Unterschied, ob die Protagonisten dieser Verzögerungs-Argumentation dies böswillig oder aus gutem Glauben tun?
Dagmar Petermann: Die meisten Menschen haben ein positives Bild von sich selbst, ihren Motiven und Handlungen. Positives schreiben sie in der Regel eigenen Anstrengungen zu, Negatives äußeren Zwängen. Insofern werden die wenigsten sich selbst als böswillig erleben, und das gilt ebenso für die Mitglieder ihrer Gruppe. Auch die Wahrnehmung und Akzeptanz von Risiko spielen eine Rolle: Kurzfristiger Verlust wird schlimmer bewertet als langfristiger, selbst wenn der langfristige viel höher ist.
Was bedeutet das aber für die Adressaten dieser Botschaften: ist es für sie wichtig, ob Argumente aus gutem Glauben oder böswillig formuliert wurden?
Dagmar Petermann: Für die Adressat:innen ist die Zuschreibung, böswillig oder aus gutem Glauben, sehr relevant. Allerdings treffen wir solche Einschätzungen der Motive häufig intuitiv und damit hängen sie von den gleichen Faktoren ab wie die Einschätzung der Glaubwürdigkeit: Neben Sympathie und Autorität entscheiden insbesondere die Gruppenzugehörigkeit, sowie dadurch aktivierte Stereotype über die Reaktion der Adressat:innen – von Zustimmung bis Reaktanz.
Anita Habel: Es kann deshalb schwer sein, das Motiv oder die verzögernde Wirkung zu erkennen – vor allem, wenn es wie eine gute Sache wirkt. Beispielsweise ist die Berechnung des individuellen CO2-Fußabdruckes eine Erfindung der Ölindustrie. Damit hat sie dazu beigetragen, dass das individuelle Verhalten heute so im Fokus steht; sie lenkte lange erfolgreich von der Verantwortung der fossilen Industrie ab. Im Marketing von Konzernen – Stichwort Greenwashing – und in politischen Kampagnen wie beispielsweise von der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ werden Verzögerungsdiskurse ganz gezielt eingesetzt.
Wie aufgeklärt sind wir?
Argumente allein aber kommen nicht immer bei den Menschen an?
Anita Habel: Die Verzögerungsargumente funktionieren auch deshalb, weil sie intuitiv schnell verständlich scheinen. Deshalb braucht es neben ausführlichen Widerlegungen möglichst kurze, einprägsame, bildhafte Entkräftungen ohne großen kognitiven Aufwand.
Wichtig ist, von wem ein Argument kommt: Sind es Personen oder Organisationen, die von der Zielgruppe als glaubwürdig angesehen werden? Für manche sind das eben nicht Wissenschaftler:innen oder Politiker:innen, sondern der eigene Berufsverband, ein Promi oder Influencer, das Wirtschaftsforum, die Hausärztin, der Landwirt aus dem Heimatdorf, Familienmitglieder oder Freund:innen. Die Wirkung des Arguments wird außerdem von seiner Anknüpfungsfähigkeit bestimmt: Trifft insbesondere der wahre Kern des Arguments auf Vorwissen, Einstellungen, Werte oder Erfahrungen einer Person, wozu das Argument widerspruchsfrei passt, gewinnt das Argument an Glaubwürdigkeit.
Müssen Argumente also je nach Bildungsstand und sozialem Milieu angepasst werden?
Dagmar Petermann: Ja, es können die verschiedenen milieuspezifischen Einstellungen mit ihren jeweiligen Risikobereitschaften und Risikobewertungen angesprochen werden.
Parteien etwa bedienen ihre Anhänger mit den passenden Argumenten: FDP-Chef Christian Lindner setzt allein auf neue Technologien, auf technische Innovationen. Und AfD-Vertreter schieben die Verantwortung gerne ab, indem sie auf andere Länder hinweisen, die noch mehr Emissionen verursachen. Für die Entkräftung von Verzögerungsargumenten sollte man schauen, welche Argumente für die Zielgruppe passend sind.
Strategien zum Umgang
Im Umgang mit Fake-News hat sich ja gezeigt, dass es wenig hilfreich ist, das falsche Argument zu wiederholen, um es dann zu widerlegen.
Dagmar Petermann: Ja, es hat sich als wirksam erwiesen, wenn Informationen über einen Mechanismus der Fehlinformation gegeben werden, ohne diese direkt zu nennen. Fehlinformationen zu wiederholen, führt dazu, dass sie eher hängen bleiben.
Wenn man im Bestreben, etwas „neutral“ zu beleuchten, immer auch die Gegenseite einer Debatte einlädt – wie etwa Klimaleugner:innen, dann entsteht der Eindruck, dass es viel größere Uneinigkeit in der Wissenschaft gäbe, als dies tatsächlich der Fall ist. Dem Eindruck von Uneinigkeit unter Wissenschaftler:innen kann dadurch entgegengewirkt werden, dass man darüber informiert, dass Medien die Tendenz haben, immer auch eine Gegenseite einzuladen – oder gar fachfremde „Quasiexpert:innen“.
Anita Habel: Ja, der False Balance-Effekt sollte medial sehr viel stärker berücksichtigt werden. Der Mut zur Lücke sollte auch öffentlich erklärt werden. Im Fall der Verzögerungsargumente könnte hilfreich sein, diese Argumentationsmuster bekannter zu machen, damit wir Verzögerungen schneller erkennen und stattdessen wirklich wirksame Lösungen angehen können.
Anita Habel ist Kommunikationspsychologin und Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf gesellschaftlicher Transformation. Dagmar Petermann ist Physikerin und Psychologin sowie Kinder-und Jugendpsychotherapeutin.