Die Vjosa in Albanien soll zum ersten Wildfluss-Nationalpark Europas werden

Die albanische Tourismus-und Umweltministerin unterzeichnete eine Erklärung, das gesamte Fluss-System unter Schutz stellen zu wollen.

vom Recherche-Kollektiv Flussreporter:
6 Minuten
eine Frau und ein Mann an einem Tisch unterschreiben Dokumente

Nach 10 Jahren intensiver Bemühungen von Anrainergemeinden, Umweltschützer:innen, Wissenschaftler:innen und Kunstschaffenden für einen Schutz der Vjosa und ihrer Nebenflüsse setzte die Regierung Albaniens heute einen historischen Schritt und unterzeichnete eine Erklärung, einen Nationalpark für den bedeutenden Wildfluss errichten zu wollen. Er wird der erste Nationalpark dieser Art in Europa sein.

Seit rund zehn Jahren kämpfen die Bürger:innen kleiner Gemeinden an der Vjosa gemeinsam mit der albanischen Naturschutzorganisation EcoAlbania für den Schutz des europaweit einzigartigen Wildflusses. Unterstützt werden sie dabei von der internationalen Organisation RiverWatch, von EuroNatur, von Wissenschafterïnnen, Künstlerïnnen und von Prominenten wie dem US-amerikanischen Schauspieler Leonardo di Caprio.

Die Vjosa ist außerhalb Russlands der letzte große Wildfluss in Europa. Sie entspringt als Aoos im Epirus im Nordwesten Griechenlands, fließt frei durch beeindruckende Schluchten und Täler, mäandriert, bildet bis zu zwei Kilometer breite Schotterbänke und mündet nach 270 Kilometern in Albanien in einem weitgehend natürlichen Delta in die Adria. Auch fast alle ihre Nebenflüsse fließen frei und bilden ein einzigartiges Fluss-Netzwerk mit unterschiedlichen Lebensräumen und reichhaltigem Leben. Alleine im Mittellauf gibt es mindestens acht erhaltenswerte Lebensraumtypen, die in der Europäischen Union die höchste Priorität haben.

Die Vjosa und ihre frei fließenden Nebenflüsse bilden ein Ökosystem mit einer beträchtlichen biologischen Vielfalt von nationaler und globaler Bedeutung. Die herausragenden landschaftlichen Werte des Tals sind das Ergebnis ungestörter natürlicher Prozesse. Das Ökosystem beherbergt mehr als 1.100 Tierarten, darunter 13 weltweit bedrohte Tier- und zwei Pflanzenarten.

Gemeinsame Presseerklärung von EcoAlbania, Riverwatch und EuroNatur

Fluss mit Verzweigungen und breiten Schotterbänken aus der Luft
Die Vjosa ist mit ihren vielen Verzweigungen und breiten Schotterbänken ein einzigartiger Fluss in Europa und ein wichtiger Lebensraum für viele Arten.

Die Vjosa ist auch eine Lebensader für die Menschen, die an ihr leben. In ihrem Einzugsgebiet nutzen die Dorfgemeinschaften den fruchtbaren Boden für Ackerbau und als Viehweiden. Auch das Wasser beziehen sie aus dem Fluss, und sie besingen ihn sogar in ihren traditionellen Liedern. Vor allem im Unterlauf der Vjosa hat der Fischfang eine zentrale Bedeutung für das Einkommen der Bevölkerung. In den vergangenen Jahren, mit der internationalen Beachtung der Wildheit und Schönheit des Flusses, ist auch ein wachsender Ökotourismus an der Vjosa und ihren Zuflüssen mit Rafting, Kanuwandern, Kajakfahren, Schwimmen usw. entstanden.

Die Vjosa weckte aber auch das Begehren von Wasserkraftbetreibern und Baufirmen. Acht Wasserkraftprojekte waren an der Vjosa geplant und mehr als 40 weitere an den Nebenflüssen. Anfang der 2000er Jahre wurde mit dem Bau eines Wasserkraftwerkes in Kalivaç begonnen. Die Deutsche Bank soll 120 Millionen Euro in das Staudammprojekt investiert haben, 2008 wurden die Bauarbeiten jedoch beendet. Es wurden bereits Terrassen in die Hänge der Berge links und rechts des Flusses geschlagen, am Fluss selbst war aber noch nichts verändert worden.

Ulrich Eichelmann, der Anfang der 1990er Jahre als Mitarbeiter des WWF Österreich für die Verhinderung weiterer Wasserkraftwerke an der Donau und den Gründung des Nationalpark Donau-Auen östlich von Wien verantwortlich gewesen war, entdeckte die Vjosa bei einer Reise 2011 oder 2012. Von da an war er fasziniert von diesem Wildfluss und verschrieb sich ganz ihren Schutz. 2012 gründete er die Naturschutzorganisation „Riverwatch“, die gemeinsam mit der deutschen Stiftung EuroNatur und weiteren Organisationen die Kampagne „Save the Blue Heart of Europe“ zum Schutz der Flüsse am Balkan durchführt. Gemeinsam mit EcoAlbania und der lokalen Bevölkerung kämpften sie mit rechtlichen Mitteln, mit internationaler Vernetzung und Kampagnen dafür, das Flusssystem der Vjosa in Albanien (und möglichst auch in Griechenland) unter Naturschutz zu stellen.

Mehrmals reisten Wissenschafter:innen verschiedener Disziplinen an den Fluss und erforschten ihn. Dabei wurden sogar bisher unbekannte Arten entdeckt. Auch ein kleines Forschungszentrum wurde errichtet und zu Ehren des österreichischen Limnologen Fritz Schiemer von der Universität Wien, der seit Jahren die internationalen Forschungsaktivitäten an der Vjosa koordiniert, als „Vjosa Research Center Fritz Schiemer“ benannt.

Im September 2020 präsentierte die IUCN das Ergebnis einer Befragung, wonach 85 Prozent der Bewohner des Vjosa-Tales für einen Nationalpark und gegen Kraftwerke sind. Am 25. Septemern 2020, dem Tag der Eröffnung des Forschungszentrums, twitterte der albanische Premierminister Edi Rama, „(…) Unser Umweltministerium hat offiziell die Erteilung einer Genehmigung für Wasserkraftprojekte im Unterlauf der Vjosa verweigert“. Doch die Freunde der Vjosa blieben skeptisch. Sie fürchteten, dass die Vjosa nur als Naturschutzgebiet geschützt sein könnte, und trotzdem Wasserkraftwerke oder andere Projekte im Flussgebiet gebaut würden. Aus diesem Grund wurde über mehrere Monate an zahlreichen Orten in Albanien, in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich und in den USA die Kampagne „Vjosa National Park Now“ durchgeführt.

Fotos von mehreren Städten mit großem weißem Schriftzug „Vjosa National Park Now“
Mit Aktionen in vielen Ländern warb „Save the Blue Heart of Europe“ für einen Vjosa Nationalpark.

Am 13. Juni 2022 kamen nun Premierminister Edi Rama, Tourismus- und Umweltministerin Mirela Kumbaro, der CEO des Outdoor-Unternehmens Patagonia Ryan Gellert sowie internationale NGOs der Kampagne „Rettet das Blaue Herz Europas“ im Nationaltheater für Oper und Ballett in Tirana zusammen. Mirela Kumbaro und Ryan Gellert unterzeichnet bei diesem Festakt ein Memorandum of Understanding für die Vjosa. Patagonia, einer US-Hersteller von Outdoor-Kleidung und Ausrüstung mit hohem Anspruch an Nachhaltigkeit, unterstützt die Kampagne für den Schutz der Flüsse am Balkan seit vielen Jahren.

Die gemeinsame Absichtserklärung sieht vor:

  • Die Vertragsparteien heben den Schutz der Vjosa auf das Niveau der Schutzgebietskategorie II (Nationalpark) nach den Kriterien der Weltnaturschutzunion (IUCN).
  • Der Nationalpark soll die Vjosa und ihre frei fließenden Nebenflüsse umfassen.
Zwei Männer und zwei Frauen vor einem großen Luftbild des Flusses Vjosa
Premierminister Edi Rama, die Ministerin für Tourismus und Umwelt, Mirela Kumbaro, der Geschäftsführer von Patagonia, Ryan Gellert, und die US-Botschafterin der Republik Albanien, Yuri Kim bei der Unterzeichnung einer Absichtserklärung zwischen dem albanischen Ministerium für Tourismus und Umwelt und Patagonia für dieSchaffung eines Vjosa-Nationalparks.

Das sei ein entscheidender Schritt für die Bewahrung des letzten großen Wildflusses in Europa, heißt es in einer gemeinsamen Presseaussendung von EcoAlbania, Riverwatch und EuroNatur.

Es gibt zwar noch viel zu tun, bevor wir die Zukunft der Vjosa als gesichert ansehen können, aber heute wurde ein großer Meilenstein für Albanien und für Flussschützer weltweit gesetzt. Europas erster Wildfluss-Nationalpark ist seiner Realisierung einen großen Schritt nähergekommen.

Besjana Guri, Sprecherin von EcoAlbania

Die Botschaft, die heute aus Tirana in die Welt geht, kann weit über die Vjosa hinausreichen. Das Konzept eines Wildfluss-Nationalparks, der nicht nur den Hauptstrom, sondern auch seine Nebenflüsse umfasst, ist einzigartig. An der Vjosa erleben wir ein neues Schutzmodell, das auch auf andere Flüsse in Europa angewendet werden kann, die von Verbauungsplänen bedroht sind. Für den Schutz unserer Natur müssen wir größer denken.

Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer von Riverwatch

Die Europäische Union hat sich im Rahmen des European Green Deal das Ziel gesetzt, alle frei fließenden Flüsse in der EU zu schützen. Albanien geht mit der Entscheidung, die Vjosa und ihre Nebenflüsse als Nationalpark zu schützen, mit gutem Beispiel voran. Wir fordern die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, ihre unverbauten Flussabschnitte zu schützen und die Konnektivität von Fließgewässer-Ökosystemen durch Renaturierung zu erhöhen.

Gabriel Schwaderer, Geschäftsführer von EuroNatur

Die albanische Regierung hat heute Weitblick und Engagement bewiesen, indem sie der Welt ihre Absicht bekundet, etwas völlig Neues für den Schutz der Natur zu verwirklichen. In unserer langjährigen Partnerschaft mit den NGOs der Kampagne „Rettet das Blaue Herz Europas“ haben wir selbst erfahren können, wie außergewöhnlich die Vjosa ist. Wir fühlen uns geehrt, mit der Regierung und den NGOs zusammenzuarbeiten und unsere Fähigkeiten und unsere Expertise zur Errichtung des Vjosa-Wildflussnationalparks beizutragen.

Ryan Gellert, CEO von Patagonia

Gemeinsam mit der albanischen Regierung und der Firma Patagonia, die sich seit langem für den Schutz von Wildnisgebieten engagiert, wollen die Organisationen der Kampagne „Rettet das Blaue Herz Europas“ nun aktiv daran mitwirken, den ersten Wildfluss-Nationalpark Europas Wirklichkeit werden zu lassen. Der Schutz dieses einzigartigen Hotspots der Biodiversität könne ein Vorbild für den zukünftigen Naturschutz in Europa werden, heißt es.

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