Die Vjosa in Albanien soll zum ersten Wildfluss-Nationalpark Europas werden
Die albanische Tourismus-und Umweltministerin unterzeichnete eine Erklärung, das gesamte Fluss-System unter Schutz stellen zu wollen.
Nach 10 Jahren intensiver Bemühungen von Anrainergemeinden, Umweltschützer:innen, Wissenschaftler:innen und Kunstschaffenden für einen Schutz der Vjosa und ihrer Nebenflüsse setzte die Regierung Albaniens heute einen historischen Schritt und unterzeichnete eine Erklärung, einen Nationalpark für den bedeutenden Wildfluss errichten zu wollen. Er wird der erste Nationalpark dieser Art in Europa sein.
Seit rund zehn Jahren kämpfen die Bürger:innen kleiner Gemeinden an der Vjosa gemeinsam mit der albanischen Naturschutzorganisation EcoAlbania für den Schutz des europaweit einzigartigen Wildflusses. Unterstützt werden sie dabei von der internationalen Organisation RiverWatch, von EuroNatur, von Wissenschafterïnnen, Künstlerïnnen und von Prominenten wie dem US-amerikanischen Schauspieler Leonardo di Caprio.
Die Vjosa ist außerhalb Russlands der letzte große Wildfluss in Europa. Sie entspringt als Aoos im Epirus im Nordwesten Griechenlands, fließt frei durch beeindruckende Schluchten und Täler, mäandriert, bildet bis zu zwei Kilometer breite Schotterbänke und mündet nach 270 Kilometern in Albanien in einem weitgehend natürlichen Delta in die Adria. Auch fast alle ihre Nebenflüsse fließen frei und bilden ein einzigartiges Fluss-Netzwerk mit unterschiedlichen Lebensräumen und reichhaltigem Leben. Alleine im Mittellauf gibt es mindestens acht erhaltenswerte Lebensraumtypen, die in der Europäischen Union die höchste Priorität haben.
Die Vjosa ist auch eine Lebensader für die Menschen, die an ihr leben. In ihrem Einzugsgebiet nutzen die Dorfgemeinschaften den fruchtbaren Boden für Ackerbau und als Viehweiden. Auch das Wasser beziehen sie aus dem Fluss, und sie besingen ihn sogar in ihren traditionellen Liedern. Vor allem im Unterlauf der Vjosa hat der Fischfang eine zentrale Bedeutung für das Einkommen der Bevölkerung. In den vergangenen Jahren, mit der internationalen Beachtung der Wildheit und Schönheit des Flusses, ist auch ein wachsender Ökotourismus an der Vjosa und ihren Zuflüssen mit Rafting, Kanuwandern, Kajakfahren, Schwimmen usw. entstanden.
Die Vjosa weckte aber auch das Begehren von Wasserkraftbetreibern und Baufirmen. Acht Wasserkraftprojekte waren an der Vjosa geplant und mehr als 40 weitere an den Nebenflüssen. Anfang der 2000er Jahre wurde mit dem Bau eines Wasserkraftwerkes in Kalivaç begonnen. Die Deutsche Bank soll 120 Millionen Euro in das Staudammprojekt investiert haben, 2008 wurden die Bauarbeiten jedoch beendet. Es wurden bereits Terrassen in die Hänge der Berge links und rechts des Flusses geschlagen, am Fluss selbst war aber noch nichts verändert worden.
Ulrich Eichelmann, der Anfang der 1990er Jahre als Mitarbeiter des WWF Österreich für die Verhinderung weiterer Wasserkraftwerke an der Donau und den Gründung des Nationalpark Donau-Auen östlich von Wien verantwortlich gewesen war, entdeckte die Vjosa bei einer Reise 2011 oder 2012. Von da an war er fasziniert von diesem Wildfluss und verschrieb sich ganz ihren Schutz. 2012 gründete er die Naturschutzorganisation „Riverwatch“, die gemeinsam mit der deutschen Stiftung EuroNatur und weiteren Organisationen die Kampagne „Save the Blue Heart of Europe“ zum Schutz der Flüsse am Balkan durchführt. Gemeinsam mit EcoAlbania und der lokalen Bevölkerung kämpften sie mit rechtlichen Mitteln, mit internationaler Vernetzung und Kampagnen dafür, das Flusssystem der Vjosa in Albanien (und möglichst auch in Griechenland) unter Naturschutz zu stellen.
Mehrmals reisten Wissenschafter:innen verschiedener Disziplinen an den Fluss und erforschten ihn. Dabei wurden sogar bisher unbekannte Arten entdeckt. Auch ein kleines Forschungszentrum wurde errichtet und zu Ehren des österreichischen Limnologen Fritz Schiemer von der Universität Wien, der seit Jahren die internationalen Forschungsaktivitäten an der Vjosa koordiniert, als „Vjosa Research Center Fritz Schiemer“ benannt.
Im September 2020 präsentierte die IUCN das Ergebnis einer Befragung, wonach 85 Prozent der Bewohner des Vjosa-Tales für einen Nationalpark und gegen Kraftwerke sind. Am 25. Septemern 2020, dem Tag der Eröffnung des Forschungszentrums, twitterte der albanische Premierminister Edi Rama, „(…) Unser Umweltministerium hat offiziell die Erteilung einer Genehmigung für Wasserkraftprojekte im Unterlauf der Vjosa verweigert“. Doch die Freunde der Vjosa blieben skeptisch. Sie fürchteten, dass die Vjosa nur als Naturschutzgebiet geschützt sein könnte, und trotzdem Wasserkraftwerke oder andere Projekte im Flussgebiet gebaut würden. Aus diesem Grund wurde über mehrere Monate an zahlreichen Orten in Albanien, in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich und in den USA die Kampagne „Vjosa National Park Now“ durchgeführt.
Am 13. Juni 2022 kamen nun Premierminister Edi Rama, Tourismus- und Umweltministerin Mirela Kumbaro, der CEO des Outdoor-Unternehmens Patagonia Ryan Gellert sowie internationale NGOs der Kampagne „Rettet das Blaue Herz Europas“ im Nationaltheater für Oper und Ballett in Tirana zusammen. Mirela Kumbaro und Ryan Gellert unterzeichnet bei diesem Festakt ein Memorandum of Understanding für die Vjosa. Patagonia, einer US-Hersteller von Outdoor-Kleidung und Ausrüstung mit hohem Anspruch an Nachhaltigkeit, unterstützt die Kampagne für den Schutz der Flüsse am Balkan seit vielen Jahren.
Die gemeinsame Absichtserklärung sieht vor:
- Die Vertragsparteien heben den Schutz der Vjosa auf das Niveau der Schutzgebietskategorie II (Nationalpark) nach den Kriterien der Weltnaturschutzunion (IUCN).
- Der Nationalpark soll die Vjosa und ihre frei fließenden Nebenflüsse umfassen.
Das sei ein entscheidender Schritt für die Bewahrung des letzten großen Wildflusses in Europa, heißt es in einer gemeinsamen Presseaussendung von EcoAlbania, Riverwatch und EuroNatur.
Gemeinsam mit der albanischen Regierung und der Firma Patagonia, die sich seit langem für den Schutz von Wildnisgebieten engagiert, wollen die Organisationen der Kampagne „Rettet das Blaue Herz Europas“ nun aktiv daran mitwirken, den ersten Wildfluss-Nationalpark Europas Wirklichkeit werden zu lassen. Der Schutz dieses einzigartigen Hotspots der Biodiversität könne ein Vorbild für den zukünftigen Naturschutz in Europa werden, heißt es.