Vogelgrippe auf dem Vormarsch: „Eine völlig neue und sehr besorgniserregende Dimension“
Der Naturschutzmediziner Oliver Krone im Gespräch über das Ausmaß des aktuellen Vogelgrippe-Ausbruchs, die Anpassungsfähigkeit des Virus und seine Auswirkungen auf das Überleben des Seeadlers in Deutschland
Die Vogelgrippe tobt beinahe ungebremst seit mehr als zwei Jahren unter Wildvögeln. Die Dauer und das Ausmaß des aktuellen Ausbruchs der unter Vögeln hochansteckenden Virus-Infektion sind beispiellos. In der vergangenen Brutsaison starben auch hierzulande tausende Brandseeschwalben in den Kolonien an der Nordsee und die einzige Basstölpel-Kolonie Deutschlands auf Helgoland wurde stark dezimiert. Auch andernorts in Europa und mittlerweile sogar in Nord- und Südamerika sterben tausende Vögel an der Panzootie – einer Pandemie unter Tieren.
Das Virus erobert immer neue Arten, die es befallen kann
Längst trifft es nicht mehr nur Wasservögel: Mehr als 70 Vogelarten sind als Opfer der hochpathogenen Variante der Aviären Influenza-Viren (HPAI) nachgewiesen – darunter auch solche, die durch andere menschengemachte Gründe wie die Zerstörung ihres Lebensraums bereits unter Druck stehen. Eine dieser Arten ist der Seeadler. Mit großem Aufwand gelang es in Deutschland und andernorts, die Population des eindrucksvollen Greifvogels wieder zu stabilisieren und sogar auf einen stetigen Wachstumskurs zu bringen. Gerät dieser Erfolg durch die Ausbreitung der Vogelgrippe in Gefahr? Was unterscheidet die aktuelle Welle des Vogelgrippe-Ausbruchs von früheren? Und: Was kann getan werden, um die Infektionswelle zu stoppen? Darüber haben wir mit Oliver Krone gesprochen, der als Tierarzt mit dem Schwerpunkt Naturschutzmedizin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) forscht.
Seit einigen Jahren ist der Ausbruch der Vogelgrippe schon so etwas wie ein Normalfall, dem in jedem Jahr viele tausend Wildvögel – vor allem Waservögel – zum Opfer fallen. Was ist das besorgniserregend neue an der jüngsten Entwicklung?
Die Vogelgrippe ist im Kern ein natürliches Phänomen. Niedrig pathogene Influenzaviren zirkulieren insbesondere bei Wasservögeln immer wieder zwischen den Populationen. Das ist nichts erschreckendes. Erschreckend sind die neuen, auch räumlich sehr großen Ausbrüche der hochpathogenen Form der Influenza-Viren. Das Virus hat in kurzer Zeit eine enorme Arealausweitung geschafft. Hinzu kommt, dass das Virus sein Wirtsspektrum deutlich erweitert hat.
Was bedeutet das?
Früher waren hauptsächlich Wasservögel befallen und einige Möwen- und Gänsearten. Auch Mäusebussarde und Wanderfalken sind über die Jahre schon betroffen gewesen. In neuerer Zeit sind nun weitere Arten betroffen von dieser hochpathogenen Variante. Dem Virus ist es gelungen, über Mutationen sein Erregerspektrum zu erweitern und so auf weitere Wirte überzugehen. Das geht wahrscheinlich auf eine Mutation des Virus zurück, die irgendwo zwischen Russland und Europa passiert ist. Betroffen sind nun auch einige seltene Arten, für die damit ein neuer und zusätzlicher Bedrohungsfaktor ensteht.
Von welchen Vogelarten sprechen wir?
Früher waren beispielsweise die Seeadler nicht betroffen, obwohl sie auch da bereits nachweislich das Aas von an Vogelgrippe verendeten Wasservögeln gefressen haben. Seit dem Ausbruch 2016 sind auch sie betroffen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass das Virus sein Wirtsspektrum erweitert hat.
Was ist noch anders als früher?
Bisher war es so, dass diese Ausbrüche vor allem im Herbst anfingen und sich über den Winter bis ins Frühjahr hingezogen haben. Mit dem Frühjahr und dem Rückzug der Wasservögel in ihre Brutgebiete kam auch die Vogelgrippe bei uns wieder zum Erliegen. Seit letztem Jahr wissen wir sicher, dass die Vogelgrippe sich verstetigt hat. Wir haben Fälle bis in den Sommer hinein und sogar durch den ganzen Sommer. Das bedeutet, dass Vögel nun auch in der besonders wichtigen Zeit der Jungenaufzucht betroffen sind.
Die Erholung der Seeadlerbestände in Deutschland und in anderen europäischen Ländern gilt als Paradebeispiel für einen gelungenen Artenschutz. Sind auch in Deutschland bereits Seeadler-Bruten Opfer der Vogelgrippe geworden?
Ja, auch sie sind bereits betroffen. Auf Rügen zum Beispiel haben wir erleben müssen, dass Nestlinge von Seeadlern wenige Wochen nach dem Schlupf an der Vogelgrippe gestorben sind. Sie starben im Alter von drei, vier Wochen plötzlich – und in Analysen wurde das hochpathogene Aviäre Influenza als Ursache nachgewiesen.
Wie haben sich die Vögel infiziert?
Diese Vögel haben sich über ihre Beutetiere infiziert. Die Eltern haben das Virus über die Nahrung für die Jungen mitgebracht.
In Deutschland brüten 150.000 Paare Lachmöwen, eine ebenfalls von der Vogelgrippe betroffene Art, aber nur 850 Paare Seeadler. Bei ihnen wiegt eine neue Gefahr wie die Vogelgrippe also ungleich stärker. Wie groß ist das Ausmaß der Sterblichkeit unter Adlern durch die Vogelgrippe?
Wir sprechen hier noch nicht von einem Massensterben. Das sind bislang immer noch Einzelfälle. Allerdings ist das Phänomen nicht auf Deutschland beschränkt, sondern die Vogelgrippe betrifft Seeadler im gesamten Ostseeraum. Und mit der Verstetigung der Vogelgrippe, dem Wegfall der Saisonalität, verschärft sich das Problem natürlich massiv. Nahe verwandte Adlerarten, wie der Weißkopfseeadler in den USA, sind mittlerweile auch betroffen.
Wie kommt es dazu?
Die Wasservögel in Europa stehen natürlich miteinander im Austausch, und die Vogelgrippe hat sich so von Kontinentaleuropa nach England und Schottland ausgebreitet und von dort ihre Weg über Island als Trittstein nach Nordamerika gefunden. Unter den Vögeln sind offensichtlich auch Tiere, die das Virus in sich tragen, aber nicht sofort so stark erkranken, dass sie den Weg in die Brutgebiete nicht mehr schaffen. Aus den USA beispielsweise gibt es erste Publikationen und Videos, in denen auch die dramatischen neurologischen Ausfallerscheinungen betroffener Weißkopf-Seeadler zu sehen sind.
Unsere Seeadler sind eher standorttreu. Besteht die Gefahr, dass sich das Virus in eine ganze Seeadlerpopulation hineinfrisst und dann auch von Seeadler zu Seeadler weitergegeben wird? Oder ist der Infektionsweg stets der über einen toten Wasservogel, der gefressen wird, sodass es nur einzelne unglückliche Vögel erwischt?
Seeadler gründen erst ab einem Alter von ungefähr fünf Jahren Paarbeziehungen und besiedeln dann ein Revier. Diese Revierpaare sind relativ standorttreu. Das heißt, sie sind dann betroffen, wenn es in ihrem Revier zu Massenansammlungen von Wasservögeln und Gänsen kommt, die das Virus in sich tragen. Darauf beschränkt sich die Gefahr für die Art aber leider nicht.
Weshalb nicht?
Sogenannte Nicht-Brüter und Jungvögel im Alter zwischen ein und vier Jahren streifen weiträumig herum und konzentrieren sich dort, wo leichte Beute verfügbar ist: an Fischteichen und flachen Seen, an Aas oder dort, wo viele Wasservögel sind. Wenn es solchen Stellen infizierte Beutetiere gibt oder die Adler nach einem Vogelgrippe-Ausbruch unter Wasservögeln die zahlreich herumliegenden Kadaver fressen, sind natürlich gleich besonders viele gefährdet.
In manchen Jahreszeiten kommt es zu großen Ansammlungen von Seeadlern auf kleinem Raum: im Winter an nicht zugefrorenen Seen, wo viele Wasservögel sind oder im Sommer bei Niedrigwasser an einigen Flüssen. Ist es denkbar, dass es dort – wie bei Wasservögeln – auch unter Adlern zu einer Übertragung des Virus von Vogel zu Vogel kommt?
Nein, die Seeadler infizieren sich nicht auf diese Weise. Der Übertragungsweg wäre immer von einem infizierten Beutetier oder seinen Überresten zum Adler, der davon frisst – nicht aber von Seeadler zu Seeadler. Wasservögel koten ins Wasser und fressen im Wasser oder putzen sich im Wasser. Der Adler kommt mit seinem Kot oder dem anderer Adler so gut wie nicht in Kontakt. Diese Form der Infektion kommt für ihn glücklicherweise nicht in Betracht. Auch nicht bei Jungvögeln im Nest, die ihren Kot in hohen Bogen über den Rand des Horsts hinaus befördern, also schmelzen, wie wir das nennen. Hier geschieht die Infektion ausschließlich über die Beute.
Woran liegt es, dass es bei Adlern nicht zu einer Übertragung von Vogel zu Vogel kommt, wie es bei Enten, Seeschwalben und anderen laufend passiert? Sind Seeadler immunologisch besser geschützt oder hat es mit unterschiedlichen Verhaltensweisen zu tun?
Bis vor wenigen Jahren galt beides. Bis dahin was es so, dass Seeadler eine gewisse Resistenz hatten gegen das Virus. Von der über Mutation erfolgten Erweiterung seines Wirtspektrums sind sie aber nun auch betroffen. Erstmals haben wir das beim Ausbruch 2016 nachweisen können. Aber das Verhalten schützt sie gleichzeitig vor anderen Übertragungswegen als über die Beute. Untereinander infizieren sich lebende Vögel hauptsächlich über den Kot – das passiert, wenn sie sehr eng zusammenleben, wie Enten oder Möwen oder zuletzt Seeschwalben. Adler hocken nicht in Gruppen eng an eng und kuscheln sich aneinander.
Welche Faktoren spielen noch eine Rolle, ob eine Art besonders anfällig ist?
Das Beutespektrum spielt natürlich eine wichtige Rolle. Steinadler fressen hauptsächlich Hasen und Rauhfußhühner, nehmen sich aber auch mal eine Ente. Der Schreiadler ist eher ein Jäger von Kleinsäugern und Amphibien, aber jagt kaum Enten. Allerdings fressen alle unsere heimischen Adler auch Aas.
Ich fasse mal zusammen: Das Virus schafft es also, auf immer größere Gebiete und auf immer neue Arten überzuspringen und ist gleichzeitig nicht mehr auf Winter-Ausbrüche beschränkt. Da kommt einiges an Wirkungsverstärkung zusammen. Wie groß ist Ihre Sorge um die selteneren unter unseren Brutvögeln?
Wir haben es mit einer Gefahr zu tun, an die wir so vor ein paar Jahren noch nicht gedacht haben. Wir stehen vor einem komplett neuen Geschehen. Was wir in den vergangenen zwei Jahren an Sterblichkeit erlebt haben unter sehr vielen Arten und in einem riesigen Gebiet – das ist eine völlig neue und sehr besorgniserregende Dimension.
Konkreter gefragt: Fürchten Sie um das Überleben der Seeadler in Deutschland?
Seeadler sind zahlreichen von uns Menschen verursachten Problemen ausgesetzt – sei es durch Erneuerbare Energien, Bahnlinien oder Bleivergiftung. Bisher haben sie es geschafft, das noch zu kompensieren, vor allem durch eine vergleichsweise gute Reproduktionsrate. Seeadler haben das Glück, dass im Schnitt ein Jungvogel pro angefangener Brut ausfliegt. In Gebieten mit hoher Seeadlerdichte kann der Reproduktionserfolg auch geringer sein. Steinadler oder Schreiadler, die deutlich darunter liegen, könnten es sicher nicht kompensieren, wenn es dort eine erhöhte Mortalität durch die Vogelgrippe geben würde. Ob die Seeadler es schaffen, hängt auch von der weiteren Entwicklung des Virus ab. Das stimmt mich schon besorgt. Akut sehe ich in Deutschland aber noch keine Gefährdung des Seeadlers. Aber auch für andere Greifvögel könnte sich hier ein ernstzunehmendes zusätzliches Problem entwickeln.
Für welche Arten zum Beispiel?
In den letzten Jahren waren neben Seeadler vor allem Mäusebussarde und Wanderfalken betroffen. Aber auch Rohrweihen, die sie sich unter anderem von Wasservögeln ernähren, könnten in den nächsten Jahren von der Vogelgrippe infiziert werden. Sie waren früher allein dadurch geschützt, dass sie in den bisherigen traditionellen Zeiten der Vogelgrippe-Ausbrüche im Spätherbst und Winter in den Überwinterungsgebieten und nicht bei uns waren. Mit der Verstetigung der Vogelgrippe und dem Wegfall der Saisonalität fällt dieser Schutz weg. Hinzu kommt, dass die Vogelgrippe auch in den Durchzugs- und Überwinterungsgebieten vieler unserer Vogelarten stark zugenommen oder sogar erstmals aufgetreten ist – wie der dramatische Ausbruch in Israel im vergangenen Winter zeigt.
Wie groß ist die Vogelgrippe für die Biodiversität und seltenere Artengruppen über Deutschland hinaus betrachtet?
Wir müssen feststellen, dass es der Vogelgrippe gelungen ist, nach Amerika überzuschwappen und es ist damit zu rechnen, dass sie sich in den nächsten Monaten in Nordamerika weiter ausbreitet und es auch dort zu einer Verstetigung mit viel höheren Opferzahlen kommt. Das wird sicher auch die großen Prädatoren massiv betreffen – einschließlich des US-Wappenvogels, des Weißkopf-Seeadlers. Es ist auch alles andere als unwahrscheinlich, dass über Wasservögel auch weitere Regionen wie die Arktis stärker betroffen sein werden – und mit ihnen die kleinen lokalen Populationen von Prädatoren wie Seeadler.
Was kann man gegen die Vogelgrippe unternehmen?
Der wichtigste Ansatz ist natürlich, die Ursachen zu bekämpfen. Die liegen nicht bei uns, sondern in Südostasien. Hier müsste sichergestellt werden, dass die bisherige Form der Massentierhaltung von Wassergeflügel, das in Kontakt mit Wildvögeln kommen kann, unterbunden wird. Der Kontakt muss unterbrochen werden. Dort lag auch die Quelle für die Entstehung der hochpathogenen Influenza-Viren. Dort muss man anfangen, ansonsten müssen wir auch zukünftig weiter mit neuen Virusvarianten rechnen
Wie sieht es bei uns aus? Auch bei uns gibt es Massentierhaltung von Hühnern…
Hier ist wichtig, dass die Hygienemaßnahmen von den Betreibern solcher Farmen strengstens eingehalten werden, damit das Virus nicht in die Bestände eingetragen wird. Das gilt vor allem auch beim Zukauf neuer Tiere und dem Transport der Tiere. Es kann schon ausreichen, Futter unter freiem Himmel zu lagern oder wenn die Gummistiefel des Bauern nicht desinfiziert werden.
Die Vogelgrippe, aber auch das Entstehen von resistenten Keimen sind typische Probleme der Massentierhaltung. Ist es an der Zeit, diese Form der Tierhaltung zu beenden?
Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Wenn wir beim derzeitigen Fleischkonsum bleiben, kommen wir ohne die Massentierhaltung nicht aus. Würden wir sie abschaffen und das Angebot an Geflügelfleisch aufrechterhalten wollen würden, würden wir die Tiere in die offene Fläche bringen müssen, mit der Folge, dass wir vielleicht mit Blick auf den Ausbruch der Vogelgrippe noch stärker gefährdet wären als in abgeschlossenen Einheiten, in denen die Tiere leben. Der konsequentere Weg wäre, den Konsum von Fleisch zu verringern.
Für Hausgeflügel werden Impfstoffe erforscht. Wäre das auch eine Lösung für Wildvögel?
Da bin ich sehr skeptisch. Der Ansatz, Medikamente an Wildtiere zu bringen, hat im Kampf gegen die Tollwut bei Füchsen zwar hervorragend funktioniert, aber ich denke nicht, dass es bei der Vogelgrippe Erfolg verspricht. Hier gibt es sehr viel mehr unterschiedliche Stämme. Und ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich sein kann, die Masse von Wasservögeln mit Impfstoffen zu schützen.