Aus dem Familienleben von Adlerbussard und Schlangenadler
Webcams erlauben tiefe Einblicke in das Leben von Vögeln
Immer mehr Vogelnester weltweit werden durch Webkameras beobachtet. Über das Internet können so viele Tausend Menschen faszinierende Einblicke in das Leben in der Natur gewinnen, ohne selbst zu stören. Wir erzählen in einer kleinen Serie in lockerer Folge Geschichten über Webkamera-Projekte befreundeter Forscher. Den Anfang machen Kameras an Nestern von Adlerbussard und Schlangenadler in Israel.
Die drei jungen Adlerbussarde in Zentralisrael sind also jetzt alle erfolgreich ausgeflogen. Erstaunlich, wie gut die halbstarken Schönlinge die Landung am Fels schon hinbekommen. Und das Weibchen des Schlangenadlers ganz in der Nähe hat nach dem Verlust des Partners einen Neuen. Der führt sich am Horst auf, als habe er ihn selbst gebaut. Eine neue Brut wird es in diesem Jahr aber nicht mehr geben. Das Weibchen hat zwar noch mehrere Tage tapfer und hungrig weitergebrütet, nachdem ihr langjähriger Partner vor ein paar Wochen plötzlich nicht mehr von einem Jagdausflug zurückkehrte. Dann hat sie aber doch aufgegeben. Selbst der nervige Uhu aus der Nachbarschaft scheint das zu bedauern. Jedenfalls hockt er manchmal nachts am Rand des Adlernests und schaut etwas traurig drein. Nicht so der Küstenmarder, der sich ein paar Tage nach der Aufgabe des Nests über die erkalteten Eier hergemacht hat.
Mehr als vier Millionen Aufrufe
Eine Phantasiegeschichte? Nein, ich habe alles miterlebt. Vor dem Computerbildschirm. Und ich war nicht allein dabei. Weltweit verfolgten viele Menschen das Brutgeschäft von Schlangenadler, Adlerbussard und Co. Sehr viele sogar. Dass in Corona-Zeiten mehr Menschen als sonst online am Leben der Vögel teilnehmen als in gewöhnlichen Jahren, war auch den israelischen Ornithologen klar. Aber. 4,5 Millionen Aufrufe der Livestreams von Nestern von Schlangenadler, Adlerbussard, Gänsegeier und Schleiereule innerhalb der vergangenen drei Monate – dazu fehlen Dan Alon die Worte. „Das Interesse ist absolut überwältigend“, erzählt der Chef von Birdlife Israel. Schon im letzten Jahr hatten die Webcams von Birdlife Israel mit 1,3 Millionen Aufrufen ein neues Rekordinteresse auf sich gezogen. Und jetzt viermal soviel! Auch die Videos mit mehrminütigen Zusammenschnitten besonderer Ereignisse wurden 1,3 Millionen Mal angesehen und 230.000 Menschen weltweit teilten sie per link in den sozialen Medien.
Hinter jeder Webkamera, die die Natur auf ungezählte Monitore in aller Welt bringt, stehen Menschen. Sie können auch Geschichten erzählen, die sich außerhalb des Kameraradius abspielen. Über das verschwundene Schlangenadler-Männchen etwa. Nachdem er vor ein paar Wochen über viele Stunden nicht mehr an das Nest zurückgekehrt war, suchten die Ornithologen nach ihm und fanden ihn verletzt auf. Nur ein paar Hundert Meter vom Nest entfernt war er gegen eine Leitung geflogen und hatte einen Stromschlag erlitten. Während seine Partnerin im Nest auf den beiden Eiern auf ihn wartete, kämpfte das Männchen im Tierhospital von Tel Aviv um sein Leben. Doch nach einigen Tagen musste es schließlich eingeschläfert werden. Lange diskutierten die Ornithologen, ob sie die Eier aus dem Nest nehmen und künstlich ausbrüten sollten. Sie entschieden sich dagegen. „Wir wollen dokumentieren, was geschieht und so wenig wie möglich eingreifen“, sagt Dan Alon.
Einmal griffen die Vogelschützer aber dennoch ein. Als sie live am Bildschirm miterlebten, wie ein Mensch die jungen Adlerbussarde aus dem Nest stehlen wollte. Auf Aufzeichnungen ist zu sehen, wie ein Mann bereits einen der Vögel aus dem Nest genommen hat, als er die Kamera entdeckt. Er lässt den kleinen Bussard achtlos fallen und geht davon. Ein Birdlife-Mitarbeiter eilte zum Nest und setzte das unverletzte Junge zurück zu seinen Geschwistern. Webkameras an Vogelnestern erzählen eben manchmal auch Geschichten über Menschen: Wie sie den Lebensraum von Vögeln mit gefährlichen Leitungen durchziehen oder wie sie versuchen, die Tiere zu stehlen, um mit ihnen Geld zu verdienen. Der verhinderte Vogeldieb wollte nach Vermutung der Vogelschützer die jungen Bussarde wahrscheinlich auf einem der zahlreichen Vogelmärkte im nahegelegenen palästinensischen Westjordanland verkaufen, von wo er über die grüne Grenze auch zum Bussardhorst kam.
Das riesige Interesse, das Kameras wie die der israelischen Vogelschützer für die Natur wecken, ist ein zunehmend wichtiger Beitrag zum Naturschutz. Er ist aber in vielen Fällen nicht der eigentliche Zweck. Auch die Kameras an den Nestern von Adlerbussard und Schlangenadler sind eigentlich Teil wissenschaftlicher Forschung zur Brutbiologie und Nahrungsökologie der Greifvögel. So ergab die Auswertung, dass die Adlerbussarde in weniger als 50 Tagen bis zum Ausfliegen der Jungen 285 mal Nahrung ans Nest brachten. Das entspricht fast sechs Beutetieren pro Tag allein für den Nachwuchs.
Eine als Beute ins Nest gebrachte Schlange drehte den Spieß um und versuchte, einen jungen Schlangenadler zu töten
Überraschende Beobachtungen gab es auch in dieser Saison. So brach die Schale eines Eis im Adlerbussardgelege. Das brütende Weibchen zeigte sich pragmatisch und fraß den Inhalt als willkommene Proteingabe. Über die Schlangenadler-Webcam wurde zudem vor zwei Jahren erstmals dokumentiert, dass die Ernährungsgepflogenheiten der Greifvögel nicht ungefährlich für den Nachwuchs sind. Häufig bringen die Eltern nämlich noch lebende Beute mit ans Nest. Besonders, wenn die Jungvögel schon etwas größer sind, werfen sie diese nur ab und machen sich sofort wieder auf den Weg, um weiteres Futter herbeizuschaffen.
Das hätte dem Nachwuchs eines kameraüberwachten Nests beinahe das Leben gekostet. Denn eine noch lebende Schlange hatte den Spieß umgedreht und versuchte, einen der jungen Schlangenadler zu erbeuten. Vor den Augen zahlreicher Zuschauer an ihren Computermonitoren in aller Welt umschlang das offenbar nur leicht verletzte Reptil das Küken und rollte sich immer enger mit ihrer Beute zusammen. Bei den Vogelschützern liefen die Telefondrähte heiß und die Mailboxen voll. „Tut doch was, helft ihm“ oder „Holt ihn da raus“, seien die häufigsten Kommentare gewesen, erinnert sich Dan Alon. In beinahe letzter Sekunde erschien einer der beiden Altadler, erlegte die Schlange zum zweitenmal und verfütterte sie diesmal sicherheitshalber eigenschnäbelig an den Nachwuchs.