Auf Sand: Wie das Mittelmeer in Tunesiens einzigartigem Agrarsystem Ramli die Bewässerung sichert
Auf Sand und ganz ohne zusätzliche Bewässerung bauen Landwirte in einem kleinen Mittelmeerort seit Jahrhunderten Obst und Gemüse an. Doch der Anstieg des Meeresspiegels bringt die weltweit einzigartige Technik in Gefahr
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“.
Ali Garci gräbt mit bloßen Händen im feuchten Sand. Es ist noch frisch und ein kalter Westwind pfeift dem Landwirt um die Ohren, als er an einem Morgen im Februar auf seiner Parzelle steht. „Hah, die haben gekeimt“, ruft er freudig aus, zieht eine weiß-rot gesprenkelte Bohne aus dem Boden, aus der sich ein kleiner grüner Keim in die Höhe streckt, und hält sie wie zum Beweis in die Luft. Vor wenigen Tagen hat er sie erst ausgesät. Neben den Bohnen stehen dicht an dicht Setzlinge von Frühlingszwiebeln, die er nächste Woche auspflanzen will. Auf dem Feld daneben wachsen Kartoffeln, das erste Kraut schaut schon aus der Erde. Sobald es ein bisschen wärmer wird, sollen noch Gurken dazukommen. Mittendrin einzelne Feigenbäume.
„Das Gemüse hat hier einen ganz besonderen Geschmack“, sagt er. Nicht etwa, weil Garci besondere Sorten anbaut, sondern weil er eine ganz besondere Technik nutzt. Ramli, zu Deutsch sandig, heißt die Technik, bei der auf Sand Landwirtschaft betrieben wird. Sie ist einzigartig auf der Welt und wird nur in Ghar El Melh, einem kleinen Ort mit rund 5000 Einwohnern an der Nordostküste Tunesiens, genutzt. Seit 2020 wird die Technik von der FAO als sogenanntes GIAHS (Globally Important Agricultural Heritage System / Global wichtiges Agrarkulturerbe-System) geführt. Bereits seit 2007 sind die Lagune von Ghar El Melh und das angrenzende Delta des Medjerda-Flusses eine Ramsar-Stätte, ein international als bedeutsam anerkanntes Feuchtgebiet.
Eine einzigartige, Jahrhunderte alte Technik
Ali Garci kniet sich auf den Boden, nimmt ein herumliegendes Stück getrockneten Schilfs und zeichnet damit auf dem feuchten Boden die Umrisse der Region auf, um zu erklären, wie das Wasser in die Lagune und die Sabkha, eine Art Salzmarsch, fließt. Seine Parzelle liegt auf einem schmalen Streifen zwischen Lagune und Sabkha, weitere direkt am Strand oder sogar mitten in der Sabkha.
Angelegt wurden die Parzellen im 17. Jahrhundert von der andalusischen Diaspora, die sich in der damaligen Piratenhochburg niedergelassen hatte. An einer Bergkette gelegen gab es dort zwar ausreichend Möglichkeit, zu fischen, doch der Platz, um Lebensmittel anzubauen, war begrenzt. Als die Bewohner bemerkten, dass auf den kleinen, höhergelegenen Flächen der Sabkha Pflanzen wuchsen, schütteten sie dort gezielt Sand auf, um Landwirtschaft zu betreiben. Der Versuch war erfolgreich: Bis heute bauen mehr als sechshundert Landwirte auf den kleinen Parzellen von insgesamt gut 100 Hektar Obst und Gemüse an. Gedüngt wird auf dem nährstoffarmen Sandboden fast ausschließlich mit Kuhmist, nur selten nutzt Ali Garci auch geringe Mengen Phosphatdünger. Hinzu kommt selbstgemachte Brennnesseljauche zur Schädlingsbekämpfung. „Ich bin ja selbst der Hauptkonsument meines Gemüses, da passe ich schon auf, was da drankommt“, lacht er.
Automatische Bewässerung dank der Gezeiten
Zusätzlich bewässern müssen die Ramli-Bauern nicht – das überlassen sie den Gezeiten. Um zu erklären, wie das funktioniert, beginnt der pensionierte Grundschullehrer, im Boden zu buddeln. Unter der hellen, trockenen Sandschicht an der Oberfläche kommt schnell schwerer, feuchter Sand hervor. „Wir haben hier eine lockere Schicht Sand von 70 bis 80 Zentimetern, die zunächst das Süßwasser des Regens aufnimmt. Und darunter ist eine harte, aber durchlässige Schicht. Wie Watte muss man sich das vorstellen“, erklärt Ali Garci. Bei Flut strömt dichteres Salzwasser in die Lagune und die Salzmarsch und drückt von unten das darüberliegende, leichtere Süßwasser ganz langsam wieder nach oben. „Die Pflanzen werden automatisch zweimal pro Tag durch die Gezeiten bewässert.“ Selbst, wenn es gerade nicht regnet.
Überliefertes Wissen, aber kaum Forschung
Um die Pflanzen vor dem rauen Westwind zu schützen, der vor allem in den Wintermonaten weht, sind alle Parzellen in schmale Streifen von je vier Metern aufgeteilt. Dazwischen sind zum Schutz einfache Schilfzäune aufgebaut. „Sonst würde hier gar nichts wachsen“, sagt Garci, der jeden Tag mit seinem Motorroller zu seiner kleinen Parzelle von rund einem Dreiviertel Hektar am Rande des Ortes fährt. Er hat das Land von seinen Eltern übernommen. Die haben ihm auch die Anbautechnik der Vorfahren beigebracht. Denn es braucht ein bisschen Übung, um zu wissen, in welcher Tiefe gepflanzt werden muss, damit die Wurzeln mit Süßwasser versorgt werden. Dieses Wissen hat der Rentner auch an seinen Sohn weitergegeben. Der ist eigentlich Elektriker, doch angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftskrise Tunesiens ist die Landwirtschaft für ihn ein willkommenes Zubrot.
Wissenschaftlich erforscht wird das einzigartige, Jahrhunderte alte Anbausystem erst seit einigen Jahren. Es ist wichtiger Bestandteil des Feuchtgebiets der Region. Asma Yahyaoui aus dem Tunesien-Büro des WWF betont dessen Bedeutung für das Ökosystem der Küste – „für den Katastrophenschutz, den Schutz vor Überschwemmungen, für das Trinkwasser, die Landwirtschaft, den Fischfang, den Erhalt der Biodiversität.“
„Heute ist nichts mehr normal“
Doch das Gebiet ist akut bedroht. „Umweltverschmutzung, Urbanisierung, Klimawandel, und vor allem der steigende Meeresspiegel“, machen Yahyaoui Sorgen. „Die Projektionen gehen davon aus, dass Ghar El Melh im Jahr 2100 überschwemmt ist. Nicht nur Ghar El Melh, der ganze Golf von Tunis.“
„All das, was ich erklärt habe, bezieht sich auf die normale Funktionsweise des Ramli“, betont auch Ali Garci. „Aber die Bedingungen heute sind nicht mehr normal.“ Garcis größtes Problem sind seit einigen Jahren die ausbleibenden Niederschläge. „Früher hat sich der Regen auf einen Großteil des Jahres verteilt. Die ersten Regenfälle der Saison waren Ende August, Anfang September, die letzten Anfang Juni.“ In Tunesien pflanzen die Bauern normalerweise von Herbst bis ins Frühjahr, denn die heißen, trockenen Sommer überstehen die Pflanzen nicht. Die verschiedenen Niederschläge gaben den Rhythmus der Landwirtschaft vor und waren so regelmäßig, dass sie eigene Namen haben – von den sogenannten ghasalet ennaouader, „die die Stengel der Getreidepflanzen waschen“, zu Beginn der Saison bis zu den ghasalet ettout, „die die Maulbeerbäume waschen“, am Ende.
Langanhaltende Dürre macht den Bauern zu schaffen
Gerade die Starkregenfälle im Herbst sind sehr wichtig für die Bauern. „Davon hängt der Ernteerfolg des ganzen Jahres ab. Wenn wir im Herbst, zwischen September und November keine 200 bis 250 Millimeter Regen bekommen, dann haben wir ein Problem“, erklärt Garci. Doch diese Niederschläge sind seit Jahren ausgeblieben. „Letzte Saison hat es zum ersten Mal am 15. November geregnet, dieses Jahr nur drei Tage früher. Das letzte normale Jahr war eigentlich 2018/19.“ Und das, obwohl der Norden des Landes zu den regenreichsten Regionen Tunesiens gehört. Nicht nur die Dauer der Regenperiode ist kürzer geworden, auch die Niederschlagsmenge ist in ganz Nordafrika drastisch zurückgegangen. Stattdessen hat es über den Sommer sechs Monate lang gar nicht geregnet und die Temperaturen haben neue Rekorde erreicht.
„Ich betreibe die Parzelle seit 22 Jahren. Als ich angefangen habe, war die Niederschlagsmenge noch ausreichend.“ Immer wieder habe es Überschwemmungen gegeben, zweimal waren diese so stark, dass die Lagune mit Süßwasser gefüllt war, berichtet Garci. „Ich war damals mit Freunden dort Enten jagen und habe das Wasser getrunken. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten sich diesen Moment gut merken.“ Heute ist das kaum noch vorstellbar. Früher habe er drei Zyklen Kartoffeln pro Jahr ernten können, rund dreißig Zentner, inzwischen sei es nur noch einer, so der Landwirt. Er hofft darauf, dass er im Frühjahr zumindest einen ordentlichen Ertrag erziele. Bei den Bohnen sei der schon deutlich zurückgegangen, denn sie kommen mit den geringen Niederschlägen und dem dadurch salzigeren Wasser nicht gut zurecht. Die Zwiebeln hat er nicht wie üblich Mitte September, sondern erst im November gepflanzt, sonst wären sie ihm wegen der Hitze und Trockenheit eingegangen.
Parkplätze statt Agrarerbe
„Früher konnte eine Familie von der Ramli-Landwirtschaft gut leben. Es war kein Leben in Luxus, aber rentabel, und es gab hier ja auch gar nichts anderes als Fischerei und Landwirtschaft.“ Heute ist das anders. Wäre Ali Garci nicht mit Leidenschaft dabei und würde an seinem kleinen Stück Land hängen, er hätte die Landwirtschaft schon längst aufgegeben. So wie viele andere, die ihre einstigen Parzellen in Brachflächen verwandelt haben, um sie im Sommer für ein paar Dinar als Parkplätze für Touristen zur Verfügung zu stellen. Das ist noch immer lukrativer, als dem Sandboden unter den zunehmend harschen Bedingungen Gemüse abzutrotzen. Dafür braucht es auch keinen Regen.
Fatale Folgen von Infrastrukturprojekten
Ali Garci zeigt Asma Yahyaoui vom WWF einen versandeten, natürlichen Durchlauf vom Mittelmeer in die Sabkha. „Alle paar Monate legen wir Bauern zusammen und lassen den von einem Bagger freischaufeln“, schimpft er. Denn er versandet immer häufiger, so dass der Wasseraustausch nicht mehr gewährleistet ist und das einzigartige System der Ramli-Landwirtschaft nicht mehr funktioniert wie früher.
Die Ursache dafür liegt beim Fischerei-Hafen, der Mitte der 1970 er-Jahre gebaut wurde. Um zum neuen Hafen zu gelangen, wurde anstelle des einfachen Pfades, der früher an die Küste führte, eine befestigte Straße gebaut, die mit großen Felsen stabilisiert wurde, erinnert sich Ali Garci. „Dadurch wurde der natürliche Wasseraustausch zwischen Lagune und Sabkha gestört. Die Alten haben damals schon die Ingenieure gewarnt.“ Provisorisch wurden daher damals zwei Rohre mit rund 70 Zentimeter Durchmesser verlegt. „Damit wollten sie die Leute beruhigen“, schimpft der Lehrer im Ruhestand.
Erfolgreiche Bürgerbeteiligung für die Rettung des Ökosystems
Doch wirklich effizient sei die Lösung von damals nicht. Denn der Wasseraustausch zwischen Mittelmeer und Lagune ist zu gering. „Bei Sturm aus Südwest steigt der Wasserspiegel und dann wird die Lagune über den Strand hinweg überschwemmt, das Wasser kann nicht mehr richtig abfließen und unsere Parzellen stehen unter Wasser.“ Zwei bis drei Wochen müssten die Landwirte dann warten, bis sie sie überhaupt wieder betreten können. „Wir bauen hier doch keinen Reis an“, kommentiert Garci mit einem bitteren Lachen.
Ein weiteres Problem: Der neue Hafen hat die Strömungen verändert. Im Rahmen des Projekts Gemwet hat der WWF daher untersucht, „wie wir die Wasserqualität verbessern, das Ökosystem und die Landwirtschaft erhalten können.“ Neben öffentlichen Einrichtungen, der Zivilgesellschaft und Fischern haben auch Ali Garci und einige weitere Landwirte an dem Projekt teilgenommen. Die Bürgerbeteiligung hat sich ausgezahlt, denn der ausgewählte Vorschlag wird von allen Betroffenen unterstützt.
Noch fehlt die Finanzierung
„Die ausgewählte Option sieht vor, dass ein Kanal ausgebaggert und mit Beton befestigt wird, um die Wasserzirkulation zwischen Mittelmeer, Lagune und Sabkha zu verbessern“, erklärt Asma Yahyaoui. Begleitet wurde die Restaurierungsstudie von einer weiteren zum Potential für Ökotourismus, um den Bewohner*innen und Besucher*innen langfristige Alternativen zum wenig umweltfreundlichen Badetourismus im Sommer zu bieten. Gerade entwickelt ein WWF-Team mit lokalen Akteuren Angebote für Besucher, die die Besonderheiten des Feuchtgebiets in den Vordergrund stellen, zum Beispiel Wandertouren, auf denen Vögel beobachtet werden können, oder organisierte Besuche auf den Parzellen mit der Verkostung lokaler Produkte, wie bei Ali Garci.
Im Rahmen eines Maghreb-weiten Folgeprojekts zur Sicherung und Renaturierung nordafrikanischer Feuchtgebiete misst das Team auch regelmäßig verschiedene hydrologische Parameter im Bereich der Sabkha, wie zum Beispiel den Grundwasserspiegel, um die wenig erforschte Ramli-Technik besser zu verstehen. Theoretisch ließe sich die traditionelle, wenig bekannte Technik aus dem kleinen Örtchen Ghar El Melh wohl auch auf andere Weltregionen übertragen. Nur habe es ihres Wissens nach noch nie jemand versucht, sagen Asma Yahyaoui und Ali Garci einstimmig. „Die Messungen werden uns auch erlauben, den Einfluss der Baumaßnahmen zu dokumentieren“, so Yahyaoui. Doch wann diese endlich umgesetzt werden, ist offen. Noch sucht die Organisation zusammen mit den anderen Projektpartnern nach einer Finanzierung.
Das Projekt „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“ wird gefördert von Okeanos-Stiftung für das Meer.