Auch Schadstoffe machen offenbar dement
Luftverschmutzung schadet dem menschlichen Gehirn besonders am Lebensanfang und am Lebensende. Demenzen und andere neurologische Erkrankungen treten gehäuft auf.
Auch an sonnigen Tagen hüllt sich Mexiko-Stadt in weiß-bräunlichen Dunst, den die 21 Millionen Bewohner nicht riechen und nicht sehen können. Nur eines bemerken sie: Am Abend überzieht ein bräunlicher Schleier ihre Haut und Kleidung.
Auch der Kinderärztin und Neurowissenschaftlerin Lilian Calderón-Garcidueñas fiel der permanente Smog über der Hauptstadt Mexikos auf, den sie schon beim Landeanflug erkennen konnte. Sie hatte sofort den Verdacht, dass die feinstaubschwangere Luft den Kindern der Stadt schade. Mit einer Untersuchung
wollte sie ihrer Befürchtung auf den Grund gehen: Sie verglich die geistigen Fähigkeiten von 55 Kindern aus der Hauptstadt mit denen aus einer Kleinstadt
des Landes. Und tatsächlich schnitten die Großstadtsprösslinge in den Tests deutlich schlechter ab. In Magnetresonanztomografie (MRT)-Aufnahmen des Gehirns entdeckte sie bei 56 Prozent der Kinder Entzündungsherde im präfrontalen Cortex. Das ist ein Bereich im Stirnhirn, der Sinneseindrücke auswertet, plant
und entscheidet. Er übernimmt damit eine Schlüsselrolle beim Lernen.
Verursacht die schmutzige Luft die Entzündungen im Gehirn und die geistigen Defizite? Auf der Suche nach einer Antwort untersuchte Calderón-Garcidueñas zusätzlich das Gehirn von sieben jungen Hunden aus Mexiko-Stadt. Und tatsächlich fand sie auch im Organ der Tiere bei etwas mehr als der Hälfte Entzündungsherde. Mehr noch: Sie konnte Ablagerungen von Feinstaub nachweisen. „Die Luftverschmutzung beeinträchtigt das reifende Gehirn, sie erklärt kognitive Defizite in gesunden Kindern“, warnte die Kinderärztin 2008 in einer viel beachteten Veröffentlichung im Journal Brain and Cognition.
Seither hat Mexico-Stadt Forschende wegen der brisanten Frage angezogen, ob schlechte Luft das Gehirn zerstört. Am Lebensanfang und am -ende reagiert es besonders empfindlich, weil es erst reift und später ganz natürlich abbaut.
Verschmutzte Luft bedingt mehr Demenzen
Oft heißt es, Demenzen würden schlicht deshalb häufiger, weil Menschen immer älter würden. Der Abbau des Gehirns ist quasi der Preis für die steigende Lebenserwartung.
Doch epidemiologische Studien liefern ein brisantes Gegenargument: Je höher die Feinstaubbelastung der Luft, desto mehr häufen sich Demenzen in der Bevölkerung. Daten, die diesen Zusammenhang unterfüttern, kommen aus London, aus Quebec, aus Nordschweden und 2020 noch einmal aus Stockholm: Forschende des Karolinska-Instituts hatten – 3000 Erwachsene mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren begleitet. 364 entwickelten innerhalb von elf Jahren eine Demenz. Und obwohl die Luft der schwedischen Hauptstadt als sauber gilt, fand die Neurobiologin des Instituts, Giulia Grande, dass die Gehalte an Feinstaub in der Luft in Wohnortnähe das Risiko einer Demenz beeinflussten. Ungefähr 800.000 Fälle an Demenzen in Europa könnten jedes Jahr auf die Luftverschmutzung zurückgehen, rechneten andere Forscher 2021 hoch.
„Diese Befunde sind sehr unpopulär“, bedauert Bruce Lanphear, Gesundheitswissenschaftler an der kanadischen Simon Fraser University. „Wir sollen lieber an einer Therapie gegen Alzheimer forschen, weil man damit Geld verdienen kann, als den Ursachen auf den Grund zu gehen. Denn, wenn die Luftverschmutzung schuld ist, würde das ein Absenken der Grenzwerte erfordern. Das wollen weder Politiker noch die Industrie gern hören.“
Blei raubt die Intelligenz
Lanphear widmet sich seit vielen Jahren einem der potentesten Schadstoffe für das Gehirn: dem Blei. Das Schwermetall ist auch im Feinstaub vertreten, weil es etwa im Flugbenzin enthalten ist und damit aus den Triebwerken gewirbelt wird. Vor allem aber ist es eine Substanz, von der man profunde weiß, wie gefährlich sie für den Menschen ist, weil sie seit vielen Jahrhunderten eingesetzt wird. Und noch heute enthalten bestimmte Gläser und Kunststoffe Blei, auch Knöpfe an Bekleidung, Farben und Stifte, teils sogar Modeschmuck. In verschiedenen Pkw-Kraftstoffen ist Blei zwar EU-weit seit der Jahrtausendwende verboten. Genau gesagt heißt das aber, dass die erlaubten Mengen lediglich sehr gering sind.
Überall auf der Welt empören sich Toxikologen und Toxikologinnen, die an Blei forschen, wie Lanphear oder die international renommierte Kinderärztin und Umweltmedizinerin Ruth Etzel aus den USA, dass Blei bis heute in vielen Anwendungen nicht komplett verboten ist. Die Belastungen von Kindern und Kleinkindern auch in Deutschland sind nach wie vor zu hoch, warnt das staatliche Bundesinstitut für Risikobewertung.
Nachgewiesen ist nämlich, dass das Schwermetall toxisch auf Nervenzellen wirkt. Es schädigt insbesondere die Entwicklung des reifenden Gehirns. Wenn die Menge an Blei von weniger als einem Mikrogramm je Deziliter Blut auf zehn Mikrogramm je Deziliter steigt, sinkt der IQ der Kinder um 6, 9 Punkte, ermittelte Lanphear anhand der Daten an 1.300 Kindern. Andere Studien bestätigten, dass Blei die Intelligenz schmälert. Kleinkinder zwischen null und drei Jahren verleiben sich aber hierzulande 1, 1 bis 3, 3 Mikrogramm Blei täglich über Essen und Trinken ein – die Atemluft ist da noch nicht einmal berücksichtigt.
„Es ist eine Tragödie. Wir wissen bei Blei so gut wie bei kaum einer anderen Chemikalie, wie schädlich es ist. Aber die Regierungen haben die Belastungen nicht auf ein akzeptables Maß gesenkt“, urteilt Etzel. „Das Problem ist“, sagt Lanphear, „fünf IQ-Punkte weniger mögen auf der individuellen Ebene keine große Rolle spielen. Aber auf der Bevölkerungsebene bedeutet das riesige Effekte, wenn ganze Populationen durchschnittlich etwa fünf IQ-Punkte verlieren.“ Der Anteil der Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die Hilfe oder besondere Förderung brauchen, steigt gewaltig und der Anteil der Hochbegabten schwindet messbar.
Schadstoffbedingte Demenz?
„Das kognitive Defizit am Lebensanfang wird zudem nie wieder aufgeholt“, argumentiert Lanphear in einer Linie mit seinen Forschungskolleginnen und – kollegen. Viele vermuten, dass die Last an Blei im Körper auch eine spätere Demenz begünstigt. Diese könnte umso früher einsetzen, je mehr des Schwermetalls gespeichert ist. Und weil sich die Indizien in dieser Richtung verdichten, ergründet hierzulande mittlerweile auch das Umweltbundesamt, wie Schadstoffe neurodegenerative Krankheiten befeuern.
„Seit etwa 30 Jahren sinkt die Inzidenz an Demenzen in den USA – auch wenn die Gesamtzahl aufgrund der Überalterung weiter stark steigt. Im selben Zeitraum gingen die Bleibelastungen zurück, weil wir als erstes Land weltweit bleihaltiges Benzin verboten haben. Ich sehe da einen direkten Zusammenhang: sinkende, gleichwohl immer noch zu hohe Bleibelastungen auf der einen Seite und zurückgehende Inzidenzen bei Demenzen auf der anderen Seite“, sagt Lanphear.
Im Gehirn unterbindet Blei die Erregungsleitung zwischen den Nervenzellen. Es erschwert, dass sich Synapsen ausbilden und verstärken. Insgesamt stört das Schwermetall somit das Oberstübchen fundamental beim Denken, Fühlen und Handeln.
„Blei ist aber nicht der einzige Schadstoff, der dem Gehirn schadet“, sagt der Neurowissenschaftler Stephen Bondy von der University of California in Irvine. Polychlorierte Biphenyle, die schon in Fahrradlenkern und Sportplätzen gefunden wurden, Aluminium und Kupfer sind nur drei weitere Verdächtige.
Bondy selbst gab einem Mäusestamm aluminiumhaltiges Wasser zu trinken, wie es in Kanada typischerweise aus dem Wasserhahn kommt. Die Tiere entwickelten daraufhin typische Alzheimer-Veränderungen im Gehirn, berichtet er. Mit Kupfer beschäftigt sich eine weltumspannende Forschungsszene, die zeigen konnte, dass das Metall die Fehlfaltung von Proteinen anstachelt. Im Gehirn von Menschen mit Demenz finden sich gehäuft fehlgefaltete Eiweißstoffe, die dann zu den sogenannten Amyloid-Plaques verklumpen, die ein wichtiges Kennzeichen der Erkrankung sind. Unter dem Einfluss von Kupfer entstünden aus normalen Proteinen „Ringe des Bösen“, schilderten jüngst Forscher der schweizerischen Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt.
Zu viel Verschmutzung für die Forschung
Viele tausend Schadstoffe zirkulieren in Luft, Boden und Wasser. „Wenn ein Stoff irgendwo verboten wird, kommt oft ein neuer auf den Markt, von dem wir erst einmal nichts wissen“, klagt Bondy. Jede Forschungsgruppe muss vor der Vielfalt kapitulieren und richtet notgedrungen ihr Augenmerk auf ausgewählte Stoffe.
Unter den Pestiziden, Weichmachern und Flammschutzmitteln sind viele Kandidaten mit kryptischen Namen, die Nervenzellen in Kultur oder deren Gene beeinträchtigen. Sie könnten an den Geistesgaben zehren und Autismus, Alzheimer und ADHS den Weg bereiten.
Beispielsweise entdeckte das Team um Barbara Maher von der Universität Lancaster im Hirnstamm von 186 jungen Bewohner*innen in Mexiko-Stadt bestimmte fehlgefaltete Proteine. Sie deutete diese als frühe Vorboten häufiger Altersleiden, etwa einer Demenz oder der Parkinsonschen Erkrankung. In den geschädigten Hirnstämmen konnte Maher unter den Feinstaubablagerungen vornehmlich Manganpartikel, vermutlich aus dem Straßenverkehr, und nanoskalige Titanpartikel nachweisen. Letztere sind Bestandteil des umstrittenen Lebensmittelzusatzstoffes E 171. Sie könnten aus Süßigkeiten oder Zahncreme stammen und vom Darm ins Gehirn vordringen, vermutet Maher.
Schleichwege ins Gehirn
Das wirft die Frage auf, wie Schadstoffe überhaupt in das gut geschützte Gehirn vordringen können. Die Blut-Hirnschranke bildet schließlich eine äußerst verlässliche Barriere zwischen dem Blut und der Hirnsubstanz.
Und doch können Medikamente, Substanzen aus Zigaretten und eben auch verschiedene Schadstoffe das Gehirn erreichen. Besonders fettliebende kleine Moleküle haben es leicht. Und feste Partikel wie Blei können eine Abkürzung nehmen. Über die Nase steigen sie in den Riechkolben auf und werden von dort, wenn sie nur klein genug sind, direkt ins Gehirn verfrachtet.
Eingeatmete Nanopartikel lassen sich so in Tieren und mit optischen Spezialverfahren neuerdings auch im Gehirn des Menschen nachweisen. Barbara Mahers Team machte zum ersten Mal die Mangan- und Titanteilchen im Hirnstamm der 186 Probanden sichtbar.
Und auch über den Darm werden Substanzen ins Blut und dann ins Gehirn transportiert. Besonders, wenn das Darmmikrobiom gestört ist, erleichtert das den Schadstofftransport. Und ausgerechnet die westliche Ernährungsweise derangiert die Flora der 38 Billionen Winzlinge im Darm empfindlich. Morgens Croissant und Weißbrot mit Schinken, abends Pizza und Chips lassen die Vielfalt im Darm schrumpfen und machen ihn schlimmstenfalls durchlässig. Vom „leaky gut“, dem durchlässigen Darm, sprechen Forschende.
Schadstoffe im Gehirn: Entzündungen und Stress
Feste Partikel wie Blei erinnern das Immunsystem des Gehirns, die Gliazellen, an eingedrungene Bakterien. „Sie werden aktiviert und können den Partikel aber weder töten noch abtransportieren. Sie wissen nicht, was sie tun sollen und kämpfen dagegen, weiter und weiter. Es kommt zur chronischen Entzündung, die sehr schädlich ist“, veranschaulicht Neurowissenschaftler Bondy. Schadstoffe wie Aluminium und Kupfer lassen zudem reaktive Sauerstoffspezies entstehen, die umliegende Zellen attackieren.
Viele Fachleute vermuten auch, dass Schadstoffe dem Gehirn indirekt schaden, indem sie Herz und Kreislauf schwächen. Bekanntlich zieht die Feinstaubbelastung der Luft Schlaganfälle, Herzinfarkte und Gefäßschädigungen nach sich. Und wenn in der Folge Organe schlechter mit Blut und Nährstoffen versorgt werden, leiden auch diese. Guilia Grande, die Neurobiologin am Karolinska Institut, glaubt die Herz-Kreislaufgesundheit sei der entscheidende Mittler, weshalb schlechtere Luft mehr Demenzen nach sich zieht.
Das eigentliche Problem ist aber: Die Effekte von Schadstoffen auf das Gehirn merkt man zunächst nicht, gibt Bondy zu bedenken. „Wir müssen nicht husten und nach Luft schnappen. Aber sie sind irreversibel und heimtückisch.“ Vor diesem Hintergrund kann er nur raten, viel hinaus an die frische Luft zu gehen. Das mag erstaunen, fahren doch genau dort die Autos, die Feinstaub produzieren. Aber drinnen ist die Luft noch einmal um Größenordnungen schlechter, weil aus zahllosen Konsumgütern unablässig Schadstoffe ausdünsten.