Neun Dinge, die man über die Affenpocken wissen muss

Missverständnisse, Stigmatisierung und was passieren könnte, wenn man den Ausbruch des Virus jetzt nicht rasch eindämmt

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Das Foto zeigt eine elektronenmikroskopische Aufnahme von Affenpocken-Viren. Die Viren sind türkis-blau angefärbt, das infizierte Gewebe darum hellbraun.

Bevor die Infektionszahlen im Frühling 2022 in die Höhe gingen, haben wohl die wenigsten etwas von der Existenz des Affenpocken-Virus gewusst. Corona-müde, wie viele vielleicht sind, hält sich das Interesse auch aktuell in Grenzen. Dabei hat die Weltgesundheitsorganisation WHO den Affenpocken-Ausbruch am 23. Juli 2022 zur „Gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite“ erklärt. Vieles zu den Eigenschaften des aktuell zirkulierenden Virus, seiner Ausbreitung und seines Gefährdungspotenzials liegt noch im Dunklen.

Weltweit gab es bisher knapp 46.000, in Deutschland (Stand 24. August 2022) 3350 Infektionsfälle. „Die Erkrankung heilt in der Regel von alleine ab, und die meisten Menschen erholen sich innerhalb einiger Wochen“, schreibt das Robert Koch Institut. Allerdings könne es bei Kindern oder Immungeschwächten auch schwere Verläufe geben.

Die Affenpocken stehen in vielerlei Hinsicht beispielhaft dafür, wie kurzsichtig und egoistisch wir, die Industrienationen, mit Gesundheitsbedrohungen der Weltbevölkerung umgehen. Daher sollte jede und jeder diese neun Dinge unbedingt über dieses Virus wissen.

1. Affenpocken – das große Missverständnis

Allein der Name ist ein Missverständnis. Forschende tauften die Infektionskrankheit „Affenpocken“, weil sie erstmalig 1958 bei Affen auffiel. Die Tiere wurden zu Forschungszwecken in einem Labor im Statens-Institut in Kopenhagen gehalten.

Dabei sind Affen und auch Menschen bisher eher zufällig von diesem Pockenvirus betroffen, das vermutlich schon seit tausenden Jahren zirkuliert. Der Hauptwirt dieser selten von Tieren auf den Menschen und von Menschen auf Tiere übertragbaren Erkrankung sind Nagetiere wie Hörnchen, Ratten, Bilche, Spitzmäuse. Obwohl die Affenpocken verbreiteter in Zentral- und West-Afrika waren, sei es ebenso irreführend, das Virus als „aus Afrika stammend“ zu beschreiben. Dringend müsse ein nicht diskriminierender, nicht stigmatisierender Name für diese Erkrankung gefunden werden, fordert eine Gruppe internationaler Fachleute. Die andauernde Präsenz des Virus in Afrika sei eher das Ergebnis des ungleichen Zugangs zu globalen Impfstoffvorräten und Gesundheitsressourcen, schreibt Simar Bajaj von der Harvard University im Smithsonian Magazine.

2. Wenn die Angst vor dem Stigma alles nur noch schlimmer macht

Die allermeisten Infektionen gibt es aktuell bei Männern, die Sex mit Männern haben. Offenbar seien die Gesundheitsbehörden zumindest zu Beginn des Ausbruchs unsicher gewesen, wie sie über die Krankheit kommunizieren sollten, ohne zu stigmatisieren. Deswegen zogen sie es vor, wenn überhaupt, nur sehr vage darüber zu sprechen, kritisiert der Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidtin der New York Times. Aber die Lösung sei nicht, zu schweigen oder so zu tun, als sei das Affenpocken-Risiko aktuell für jeden gleich groß. Wichtig sei, mit sorgsam gewählten Worten die Community mit dem zurzeit größten Risiko anzusprechen und zu informieren. „Es ist nicht homophob, auszusprechen, dass sich Affenpocken unter Männern, die Sex mit Männern haben, ausbreiten – es ist aber homophob, deshalb nichts dagegen zu tun“, zitiert die Politologin Elvira Rosert Kai Kupferschmidt auf Twitter.

3. Affenpocken – warum gerade jetzt?

Am 8. Mai 1980 erklärt die WHO die Pocken, ausgelöst durch die humanen Pockenviren Variola, weltweit für ausgerottet. Dieses Datum ist ein Meilenstein der Medizingeschichte. Als Folge stoppten die meisten Länder ihre Pocken-Impfprogramme. In Westdeutschland endete die Pocken-Impfpflicht 1976. Die Älteren unter uns tragen daher noch die typische Impfnarbe am Oberarm. Eine solche Impfung schützt ein Leben lang vor den Pocken und in einem gewissen Umfang auch vor den verwandten Affenpocken.

Einige WissenschaftlerInnen warnen bereits seit Jahrzehnten davor, dass es wegen der sinkenden Pocken-Immunität in der Bevölkerung vermehrt Affenpocken-Fälle bei Menschen geben könne. Schätzungsweise 70 Prozent der Weltbevölkerung sind aktuell nicht mehr vor den Pocken geschützt und damit potenziell anfällig auch für die Affenpocken.

Das Virus übertrug sich bisher zu allererst über ansteckende Sekrete durch den Kontakt mit infizierten Tieren. Die Abholzung des Regenwaldes, der Klimawandel, die Mobilität und geopolitische Konflikte könnten die Häufigkeit von Affenpocken-Fällen beim Menschen – neben der sinkenden Pocken-Immunität – ebenfalls erhöhen. Auf eine wichtige andere Ursache machen Emmanuel Alakunle und Malachy Okeke von der American University of Nigeria aufmerksam: Bisher gibt es keine diagnostischen Test- und Überwachungsprogramme für die Affenpocken. Das Virus kann also lange Zeit unentdeckt unter dem medizinischen Radar laufen. Nicht alle Infizierten stellen sich etwa aus Angst vor einer Stigmatisierung einem Arzt oder einer Ärztin vor, nicht alle Infizierten zeigen typische Symptome.

4. Was ist jetzt anders?

In der Vergangenheit infizierten sich Menschen, auch kleine Kinder, meist über die Atemwege nach dem Kontakt zu infizierten Wild- oder Haustieren. Hin und wieder steckten sich auch enge Bezugspersonen an. Die Ansteckungskette von Mensch zu Mensch brach rasch ab. Die Übertragung von Mensch zu Mensch war bisher selten und erfordert ausgedehnten Körperkontakt.

Beim aktuellen Ausbruch dauert die Mensch-zu-Mensch-Übertragung über Kontinente hinweg länger an als jemals zuvor. Außerdem hatte keiner der Betroffenen einen eindeutigen Bezug zu den bekannten geografischen Regionen auf der Welt, wo das Virus endemisch ist, also innerhalb der empfänglichen Tierpopulation zirkuliert. Im Gegensatz zu den vereinzelten Fällen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte infizierten sich aktuell rund 95 Prozent über sexuelle Kontakte. Eine Studie aus Spanien zeigt, dass die Virusmenge in den Bläschen und kleinen Hautverletzungen bei den Betroffenen viel größer ist als im Nasen-Rachenraum. Offenbar befördert der direkte Hautkontakt beim Sex die Ausbreitung des Virus in der Community.

Eine Untersuchung aus England macht auf die veränderten klinischen Symptome aufmerksam. Zu den bekannten Beschwerden wie Bläschen auf der Haut, Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen zeigen sich Läsionen an den Genitalien und im Perianalbereich. Um eine frühe Diagnose zu ermöglichen und eine weitere Ausbreitung zu verhindern, müssten ÄrztInnen auch auf die bisher unbekannten Symptome wie Rektumschmerzen oder Penisödeme achten, die sowohl mit aber auch ohne Hautläsionen auftreten können, warnen die britischen Infektionsfachleute.

Allein die Anzahl der aktuellen Fälle in den drei Monaten bis Ende Juli war in etwa so hoch wie die Gesamtzahl der weltweit erfassten Infektionen in den letzten 20 Jahren.

5. Wo liegt das Risiko?

Einzelne Fälle deuteten darauf hin, dass sich der Erreger langsam aus der Community von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), heraus bewege, was zu erwarten sei, wenn die Fallzahlen steigen, schreibt das Science Media Center (SMC).

Mit Fällen außerhalb der MSM-Community müsse man rechnen, da ein enger Kontakt zu den virusbedingten Hautläsionen ja ausreiche, egal wer den Kontakt habe, erklärt die Münchner Virologin Ulrike Protzergegenüber dem SMC. „Je länger das Virus zirkuliert, umso größer ist die Gefahr, dass es sich in verschiedenen Gruppen festsetzt“, so Protzer weiter.

Fachleute für Geburtshilfe aus der Schweiz, Singapur und den USA sorgen sich, was passieren würde, wenn sich Schwangere mit den Affenpocken ansteckten. Bisher gibt es kaum Informationen darüber. Analog zu den Pocken würden auch die Affenpocken bei Schwangeren, vor allem im letzten Schwangerschaftsdrittel, stärker ausfallen. Das Kind könne sich bereits im Mutterleib anstecken, es bestünde das Risiko einer Fehlgeburt, warnen die MedizinerInnen.

Ohne jegliche Verringerung der Ausbreitung wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch andere Personengruppen infizierten, sagtGerd Fätkenheuer, Infektiologe von der Uniklinik Köln. „Aber noch bleibe ich optimistisch und gehe davon aus, dass sich mittels Aufklärungskampagnen, Verhaltensänderungen und Impfungen die Ausbreitung deutlich vermindern lässt.“

6. Was noch passieren könnte, wenn man den Ausbruch nicht rasch eindämmt

Infizierte können das Virus nicht nur an nahestehende Personen weitergeben, sondern auch an Tiere. Pariser ÄrztInnen berichten jetzt erstmalig über den Fall eines Italian Greyhound, der sich bei seinen mit Affenpocken infizierten Besitzern angesteckt hatte. Die Weitergabe an Tiere, vor allem Nagetiere in der Wildbahn, könnten neue tierische Reservoire auch außerhalb des afrikanischen Kontinents etablieren. Und die Wahrscheinlichkeit für wiederkehrende Infektionen bei Menschen erhöhen.

Der Infektionsbiologe Marcus Blagrove und ein Team der University of Liverpool haben mit Hilfe von Berechnungen zur genetischen Verwandtschaft und der Nähe zur menschlichen Zivilisation mögliche Kandidaten ermittelt, die sich mit dem Affenpocken-Virus infizieren könnten. Neben Hund und Hauskatze könnten danach auch der Rotfuchs oder die Wanderratte neue tierische Wirte werden.

7. Was wir noch nicht über die Affenpocken wissen

Wie groß die Gruppe der Wildtierarten ist, die Affenpocken-Viren in sich tragen können, ist noch unklar.

Wie stark sich das gegenwärtig zirkulierend Virus durch Mutationen womöglich besser an eine Vermehrung im menschlichen Wirt angepasst hat, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen.

Krankheitsausbrüche müssten genauer beschrieben werden: Wie groß ist der Ausbruch und wie lange hält er an? Welche Symptome können auftreten, wenn sich Menschen infizieren, wie schwer erkranken sie, welche Risikofaktoren für eine Ansteckung gibt es? Wie gut schützt die Impfung tatsächlich? Wie genau sehen die Übertragungswege aus? Wer steckt sich wie an? Italienische Forschende fanden in 29 von 32 Spermaproben Infizierter die DNA von Affenpocken. Unklar ist noch, ob das Virus im Sperma noch ansteckend ist

8. Engpass Impfstoff

Einen Affenpocken-Impfstoff gibt es zurzeit nicht. Verimpft wird ein Präparat, das zum Schutz vor den klassischen Pocken entwickelt wurde. Es enthält abgeschwächte Kuhpockenviren, die sich nach der Injektion unter die Haut nicht mehr vermehren können, aber eine gute Immunantwort auslösen, die auch vor Affenpocken schützt. Allerdings ist noch unklar, in welchem Umfang sie das tut und wie lange der Schutz anhält. Abgeschlossene klinische Studien dazu gibt es bisher nicht. Die STIKO empfiehlt die Impfung aktuell denjenigen, die ein hohes Ansteckungsrisiko haben, also Männern, die Sex mit wechselnden Partnern haben und solche, die engen Kontakt zu Infizierten hatten.

Der Impfstoff ist knapp. Am 19. August 2022 veröffentlichte die Europäische Arzneimittelbehörde eine Empfehlung, nach der bereits ein Fünftel der eigentlich verwendeten Impfstoff-Menge ausreicht, um eine schützende Antikörper-Antwort auszulösen. Allerdings muss der Impfstoff dazu nicht wie klassisch unter (subkutan), sondern in die Haut (intradermal) injiziert werden. Der Nachteil: schmerzende Rötungen und Verdickungen der Haut an der Einstichstelle und die praktische Handhabung ist schwierig: „Es gibt derzeit sicher nur ganz wenige Ärzte, die damit Erfahrung haben“, sagt der Infektiologe Gerd Fätkenheuer, der von der Idee, den Impfstoff auf diese Weise zu strecken, nicht viel hält.

Dennoch: Impfungen werden für die Kontrolle dieses und auch zukünftiger Ausbrüche entscheidend sein.

9. Was wir jetzt tun müssen

Der aktuelle Ausbruch sollte ein Weckruf sein, schreiben die nigerianischen Forscher Emmanuel Alakunle und Malachy Okeke im Fachmagazin „Nature“. Er zeige, wie wenig bis keine Aufmerksamkeit man diesem Virus bisher geschenkt habe. Der Umgang mit den Affenpocken sei eine typische „bei mir aber nicht“-Reaktion, kritisiert auch der Immunologe Martin Hirsch von der Harvard University. Westliche Gesundheitsorganisationen interessierten sich bisher kaum für etwas, das nur in Afrika zirkuliert. Aber: Die Welt ist klein, Affenpocken-Infektionen kann es überall geben.

Affenpocken stehen in der Reihe mit Erkrankungen wie Ebola und Zika. „Wir sorgen uns nur um die Menschen im eigenen Land“ sagtPowel Kazanjian, Facharzt für Infektionskrankheiten von der University of Michigan. Auch in Afrika seien die Fallzahlen aktuell dreimal höher als gewöhnlich, schreibt Sigmar Bajaj. In vier Ländern, darunter Kamerun und Nigeria habe es mehr als 1400 Fälle und 66 Tote gegeben. Impfstoffe und antivirale Medikamente stehen den Betroffenen in diesen Ländern nicht zur Verfügung.

Selbstverständlich sollte sein, dass jeder Affenpocken-Infektion die gleiche Dringlichkeit beigemessen und Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse – ob sie nun in Europa, Nordamerika oder Zentralafrika geschehe, fordern internationale Virologen und Epidemiologinnen.

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