Landesmuseum in Halle: Wie die Reitervölker der Hunnen, Awaren und Ungarn Europa geprägt haben
Reitervölker aus der riesigen eurasischen Steppe haben Römer, Perser und Franken immer wieder herausgefordert. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle/Saale erzählt ihre Geschichte
Im Jahr 434 n. Chr. droht Krieg im Römischen Reich. Attila und Bleda, die Anführer des gefürchteten Reitervolks der Hunnen, haben mit einem Feldzug gedroht – zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Denn es brennt bereits allerorten: Konflikte mit auswärtigen Mächten und Bürgerkriege gehen pausenlos ineinander über. Der in Konstantinopel residierende oströmische Kaiser Theodosius II. schickt deshalb eine diplomatische Delegation in die Stadt Margos an der Donau, nicht weit vom heutigen Belgrad in Serbien entfernt. Dort soll sie mit den Hunnen verhandeln, um einen weiteren Krieg zu verhindern.
Doch Attila und Bleda, zwei Brüder, verweigern sich den diplomatischen Gepflogenheiten. Die Hunnen, so berichtet der römische Diplomat und Historiker Priskos erstaunt, entscheiden, vom Rücken ihrer Pferde aus zu verhandeln. Auch die Römer bleiben deshalb in ihren Satteln. „Ihre eigene Würde berücksichtigend haben die römischen Botschafter dieselbe Entscheidung getroffen“, schreibt Priskos. Denn dass sich die Römer den Hunnen zu Fuße setzen ist undenkbar.
Nicht nur die Form der Verhandlungen legen die Hunnen fest. Auch bei den Ergebnissen können sie sich durchsetzen. Jährlich 700 Pfund Gold verlangen sie für das Versprechen, das römische Gebiet in Frieden zu lassen. Dazu forderten Attila und Bleda die Auslieferung von Flüchtlingen und die Öffnung von Marktplätzen, auf denen Hunnen und Römer Handel treiben können. Der römischen Delegation bleibt kaum etwas anderes übrig, als den Forderungen zuzustimmen.
Von der chinesischen Grenze bis nach Europa
Die Hunnen waren nur die erste Welle berittener, gefürchteter Kämpfer, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte aus Osten kommend in Europa erschienen. Nördlich des Schwarzen Meeres unterwarfen die Hunnen um 370 n. Chr. damals dort lebende germanische Gruppen und errichteten im Laufe von Jahrzehnten ein gewaltiges Herrschaftsgebiet, das bis nach Mitteleuropa reichte. Ihre Heimat war der gewaltige eurasische Steppengürtel, der sich von der Nordgrenze Chinas bis in die heutige Ukraine und mit Ausläufern durch Rumänien nach Ungarn erstreckt. Ausgerüstet mit wendigen Pferden und tödlichen Waffen waren die Reiterkrieger sowohl gefährliche Gegner als auch begehrte Partner. Die Römer rekrutierten hunnische Gruppen immer wieder in ihre Armeen, um sich ihrer Schlagkraft zu bedienen. Den Hunnen folgten rund einhundert Jahre später die ebenso gefürchteten Awaren und im 9. Jahrhundert dann die Ungarn, auf die sich der heutige Staat bezieht.
Faszination und Schrecken lösen alle diese reiternomadischen Gruppen bis heute aus. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale widmet ihnen deshalb eine große Ausstellung.
Hightech-Waffen aus der Steppe
Eindrücklich vermittelt die den Horror, den die Reiter hervorgerufen haben müssen. Angst hatten Soldaten wie Zivilisten vor allem vor einer Hightech-Waffe ihrer Zeit, die die Hunnen in der Steppe entwickelt hatten: dem Reflexbogen. Zusammengesetzt aus verschiedenen Holzarten, Horn und Tiersehnen verfügte er über eine besonders hohe Spannung und damit eine große Reichweite und Durchschlagskraft. Dank seiner asymmetrischen Konstruktion – oben länger, unten kürzer – konnten die Krieger mit seiner Hilfe Pfeile problemlos auch vom Pferd aus abschießen.
Wie tödlich das sein konnte, führt die Ausstellung eindringlich vor Augen. Sie zeigt die sterblichen Überreste eines Mannes, der im Kampf gefallen war: In seinem Lendenwirbel steckt noch die Pfeilspitze, die ihn getötet hat. Wie Analysten auf einem historischen Tatort haben Archäologen den Weg des Pfeils rekonstruiert. Er verletzte Darm, Niere und Venen. Der Mann hatte keine Überlebenschance.
Bei den Verhandlungen vor der Stadt Margos beeilten sich die Römer also notgedrungen, den Forderungen der Hunnen nachzugeben. Im Ergebnis strömten gewaltige Reichtümer aus dem Römischen Reich zu den Hunnen. Einen Teil davon präsentiert die Ausstellung in Form von 108 Goldmünzen, sogenannten Solidi, die Archäologen gefunden haben. Jede von ihnen wiegt 4, 5 Gramm und hat einen Durchmesser von 2 Zentimetern. Ein echtes Vermögen – und doch nur ein Bruchteil der jährlichen Tribute, die nach dem Vertrag von Margos mehr als 50.000 Münzen entsprachen.
Beutewirtschaft am Rande des Römischen Reiches
Ebenso wichtig wie die Stillhaltezahlungen war den Hunnen der Zugang zu römischen Märkten. Die hunnische Wirtschaft – und mit Einschränkungen auch die awarische und ungarische – entsprach gewissermaßen einem auf Beute ausgerichteten Schneeballsystem. Innerhalb des Reiches wurden nur wenige Güter hergestellt. Stattdessen sicherten sich Attila, Bleda und andere Anführer die Loyalität ihrer Untertanen durch Geldzahlungen. Mit diesen Geldern kauften die Hunnen dann auf den Marktplätzen ein. Erst mit den Awaren und dann später besonders mit den Ungarn verschoben sich die Gewichte hin zu mehr Produktion in deren Reichen selbst.
Allerdings: So klar die Gruppenidentitäten zwischen Römern, Hunnen, Awaren und Ungarn oder Germanen auch scheinen mögen, so schwammig und flexibel waren sie wohl in der Realität – wie die Ausstellung anhand eines Grabes verdeutlicht, das in Ungarn gefunden wurde. Eine Frau wurde darin beigesetzt. Sie trug typisch ost-germanische Kleidung aus dem Gebiet des Schwarzen Meeres, erkennbar unter anderem an den als „Fibeln“ bezeichneten Gewandspangen. Zugleich aber wurde ihr Kopf in der Kindheit durch enge Bänder länglich verformt – eigentlich eine typisch hunnische Sitte. Wer war also die Frau? Eine Germanin, die mit den Hunnen zog? Empfand sie sich möglicherweise selbst als Hunnin? Oder floh sie vor den Hunnen?
Kultureller Austausch und beeindruckende Kunstschätze
Antworten, gerade zur Motivation und Identität der Reiternomaden bleiben im Dunkeln, weil Hunnen, Awaren und die frühen Ungarn kaum eigene Aufzeichnungen hinterlassen haben. Sie tauchen deshalb fast nur in den Berichten anderer auf – seien es Römer, Perser oder Chinesen.
Die archäologischen Funde zeigen jedenfalls neben den Spuren kriegerischer und gewaltsamer Auseinandersetzungen immer wieder Beispiele für kulturellen Austausch. Awaren haben ihre Gürtelbeschläge etwa vielfältig zu verschönern gewusst: Mit traditionellen awarischen Motiven wie der Hasenjagd vom Pferde aus, aber auch einem eingravierten chinesischen Drachen und dem Porträt eines oströmisch-byzantinischen Kaisers. Ein ungarisches Trinkgefäß wiederum ist mit Blättern verziert, wie sie in Persien in Mode waren.
Viele dieser Kunstwerke versetzen uns bis heute Staunen. Vor allem der Schatz von Nagyszentmiklós, der in der Ausstellung zurecht einen zentralen Platz einnimmt. Insgesamt 23 verschiedene Gefäße aus purem Gold, die zusammen rund 10 Kilogramm wiegen, wurden im 8. Jahrhundert einem führenden Awaren mit ins Grab gegeben. Wunderschön sind beispielsweise mehrere dreibeinige Schalen, die jeweils mit dem Kopf eines mysteriösen gehörnten Löwen geschmückt sind. Zum Schatz gehört auch eine Kanne, auf der Goldschmiede vier Szenen aus der awarischen Mythologie eingraviert haben. Eine Person etwa, die von einem riesigen Adler in den Klauen gehalten wird, und die ihrerseits dem Adler eine Schale unter den Schnabel reicht. Was die Szenen aussagen sollen, welche Mythen sie repräsentieren, ist bis heute ungeklärt. Mächtige Wesen und mutige Helden scheinen das Bild zu bestimmen.
Für Archäologen und Historiker bietet die Geschichte der Reiternomaden also noch viel Stoff für zukünftige Forschungen. Und Besucher verlassen die Ausstellung weniger mit dem Gefühl des Schreckens als dem der Faszination.
Reiternomaden in Europa. Hunnen, Awaren, Ungarn. Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/Saale Noch bis 25. Juni 2023
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