Als Ungarns Kühe biotechnologisch wurden
Vor etwa 100 Jahren erschien ein Buch für Landwirte, das einen ganzen Wissenschaftszweig aus der Taufe hob: die Biotechnologie. Sie beschreibt die (industrielle) Nutzung von Biomolekülen, Zellen und Organismen für technische Anwendungen. Gründerväter gibt es sogar gleich zwei. Ein Rückblick.
Hellbraune, puschelohrige Kühe mit Glocken um den Hals fläzen sich im saftigen Gras und zermahlen bedächtig nahrhaftes Raufutter zu einem grünen Brei: So oder so ähnlich stellen sich nicht wenige unsere heimische Milchwirtschaft vor. Ein romantisiertes Bild, das auch die Werbung nur allzu gern bemüht. Die Realität ist jedoch eine andere: In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Milchbetriebe halbiert, ebenso nimmt die Zahl der Milchkühe immer weiter ab; gleichzeitig jedoch steigt die jährlich gemolkene Milchmenge stetig. Das geht nur mit Hochleistungskühen und industriellen Großbetrieben. Und auf einmal ist das Bild von der Milchkuh als „biotechnologische Arbeitsmaschine“ – das einer der Biotechnologie-Pioniere prägte – gar nicht mehr so abwegig, wie es vielleicht auf den ersten Blick schien.
Die Rede ist von Karl Ereky, einem ungarischen Ingenieur, der 1878 als Wittmann Károly in Esztergom, 46 Kilometer nordwestlich von Budapest, geboren wurde. 1893 änderte er seinen Namen zu Ereky Károly (auf Deutsch: Karl Ereky). In seinem 1919 veröffentlichten Buch „Biotechnologie der Fleisch-, Fett- und Milcherzeugung im landwirtschaftlichen Großbetriebe“ legte Ereky fest, dass „die Arbeitsvorgänge, bei denen aus den Rohstoffen mit Unterstützung lebender Organismen Konsumartikel erzeugt werden, dem Gebiete der Biotechnologie“ zugewiesen werden sollten. In dem Begriff vereinte er zwei bis dahin getrennte Themengebiete – Biologie und Technologie. Technischer Fortschritt, so suggerierte die Wortschöpfung, konnte nun nicht mehr nur durch Physik und Chemie erreicht werden, sondern auch durch biologische Ansätze.
Bakterien produzieren Alkohol
Die Idee an sich jedoch war nicht neu. Bereits Ende der 1850er-Jahre erkannte der bekannte Forscher Louis Pasteur (1822–1895), dass und wie man Mikroorganismen dazu bringen kann, für den Menschen nützliche Produkte wie Milchsäure, Essigsäure oder Alkohol zu produzieren. Ebenso geht ein Impfstoff gegen die gefürchtete Geflügelcholera auf Pasteurs Konto. Es war erst der zweite Impfstoff überhaupt nach der Pocken-Impfung von Edward Jenner aus dem Jahr 1796. Pasteur hatte damit den Grundstein gelegt, eine Krankheit zu verhindern, bevor sie ausbricht. Außerdem beendete er die Debatte endgültig, ob Leben spontan entstehen kann. Seine Antwort: Non!
Der französische Wissenschafts-Tausendsassa hat also einiges geleistet, den durchaus treffenden Begriff „Biotechnologie“ hat er allerdings nicht erfunden. Somit gilt das Jahr 1919 mit der Ersterwähnung der „Biotechnologie“ als Geburtsstunde der naturwissenschaftlichen Disziplin. Dementsprechend feierte der Branchenverband der deutschen Biotechnologie-Industrie (BIO Deutschland) im Jahr 2019 „100 Jahre Biotechnologie“.
Not macht erfinderisch
Wie aber kam Karl Ereky auf den Gedanken, Tiere als „Rohstoffveredler“, ja, als biotechnologische Maschine zu sehen? Damals und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 gehörte Ungarn zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie und galt als landwirtschaftlicher Dreh- und Angelpunkt. Die vierjährige Kriegszeit sorgte allerdings für karge Kost auf den Tellern der Europäer. Karl Ereky bemerkte, dass die Methoden und Werkzeuge der einfachen Bauern auch in Friedenszeiten nicht ausreichen würden, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren.
Als Direktor der Viehverwertungsgenossenschaft ungarischer Großgrundbesitzer machte er sich deshalb daran, die Fleischproduktion zu optimieren und industrialisieren. Seine Überlegung: Durch ein Zusammenspiel von Biologie, Ökonomie und Technologie könnte man die Nahrungsmittelproduktion enorm steigern. So ließ Ereky den damals größten und effizientesten Mastbetrieb mit angeschlossenem Schlachthaus bauen, in dem 50.000 biotechnologische Maschinen (Schweine) tagein, tagaus den Rohstoff Zuckerrüben in wertvolles Fett und Fleisch sowie Tierhäute umsetzten.
Dass die Technologisierung der Tierhaltung nicht in der landwirtschaftlichen Blase verblieb, verdankten Ereky und auch kommende Forschergenerationen einem Zufall. Erekys namensgebende Veröffentlichung richtete sich eigentlich ausdrücklich an „naturwissenschaftlich gebildete Landwirte“. Womöglich las aber auch mindestens ein landwirtschaftlich interessierter Naturwissenschaftler die Zeilen und erkannte das Potential. Zum Glück, denn ansonsten hätte sich der Begriff vielleicht gar nicht durchgesetzt, wie Wissenschaftshistoriker Robert Bud in seinem Buch „Wie wir das Leben nutzbar machten“ schreibt: „Es war nicht Ereky selber, der dafür gesorgt hat, dass sein Wort aufgegriffen wurde. Es war eher so, dass sein Buch vom einflussreichen Mikrobiologen Paul Lindner besprochen wurde, der damals am Institut für Gärungsgewerbe in Berlin arbeitete und vorschlug, dass auch Mikroorganismen wie Hefe als biotechnologische Maschinen angesehen werden können“. Und genau mit dieser Bedeutung hielt Erekys Wortschöpfung Einzug in die deutschen Wörterbücher – und das bereits in den 1920er-Jahren. Gleichzeitig spannte die Definition nach Lindner auch wieder den Bogen zu Pasteurs Arbeit.
Voller Erfolg
Die „Biotechnologie“ war für Ereky also ein durchschlagender Erfolg, und das in mehrfacher Hinsicht. Er hatte eine profitable Fleisch- und Milchindustrie erfunden, sein Buch verkaufte sich innerhalb weniger Wochen tausende Mal und wurde sogar ins Niederländische übersetzt. Für ganze drei Monate war Ereky Ungarns Ernährungsminister.
Während der beiden Weltkriege und der Unabhängigkeitserklärung Ungarns mit nachfolgenden Revolutionen und Konterrevolutionen verliert sich die Spur von Ereky. Über das recht tragische Lebensende des „zweiten Vaters der Biotechnologie“ sind allerdings wieder einige Schnipsel bekannt. Im September 1946 wurde Ereky zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wegen seiner konterrevolutionären Rolle während und nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Räterepublik in Ungarn. Erst im Jahr 2000, so schreiben zwei ungarische Agrarwissenschaftler, wurde den Verwandten Erekys mitgeteilt, dass er seine letzten acht Jahre im Gefängnis von Vác (35 Kilometer nördlich von Budapest) verbrachte und dort 74-jährig am 17. Juni 1952 verstarb. Kein Vergleich also zum anderen Vater der Biotechnologie – Pasteur erhielt ein Staatsbegräbnis.
Seit 1919 bestimmt die „Biotechnologie“ nun also einen immer größer werdenden Teil unseres Lebens. Zu den Meilensteinen zählen: die fermentative Zitronensäure-Produktion aus Melasse mit Schwarzschimmel-Kulturen (1929), die Massenproduktion des Antibiotikums Penicillin in Pinselschimmel-Kulturen (1942) und auch diverse Nobelpreise gehen auf das Konto der Biotechnologie. Denn ohne die Hilfe von Bakterien, Hefezellen und Co. läuft heute kaum noch etwas in den Molekularbiologie-Laboren von Boston bis Budapest.
Seinen naturwissenschaftlich-gebildeten Landsleuten war die „Biotechnologie“ übrigens auch schon ein wenig früher bekannt als dem Rest der Welt. Bereits 1918 veröffentlichte Ereky nämlich seine „Biotechnológia“ – auf Ungarisch.
Dieser Artikel basiert auf einem Text, der zuerst am 8.1.2019 auf www.laborjournal.de erschienen ist.