Impfstoff aus der Mottenfabrik
Mit Nuvaxovid sind seit Dezember 2021 fünf COVID-19-Impfstoffe in der EU zugelassen. Das Besondere am Novavax-Vakzin: das Impfprotein wird in Insektenzellen hergestellt. Das klingt außergewöhnlicher als es eigentlich ist.
Graubraun gefleckte Deckflügel, kompakte Gestalt, etwas pelzig – für einen Schmetterling ist der Nachtfalter der Art Spodoptera frugiperda aus der Familie der Eulenfalter wahrlich keine Schönheit. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Zusätzlich ist der im tropischen und subtropischen Nord- und Südamerika heimische Falter ein leidenschaftlicher Pflanzenfresser und hat es dabei vor allem auf Mais abgesehen, sehr zum Leidwesen der Landwirte.
Auf der allgemeinen Beliebtheitsskala nimmt Spodoptera frugiperda deshalb sicher keinen Spitzenplatz ein. Noch nicht mal einen deutschen Namen hat er. In der Biotechnologie allerdings hat er durchaus seine Fans. Bereits 1977 entnahmen Wissenschaftler dem Insekt einige Zellen und brachten sie dazu, in Zellkulturmedium zu wachsen und sich zu vermehren. Schon einige Jahre zuvor war es Forschern gelungen, Insektenzellen in Glasflaschen mit Nährmedien zu kultivieren.
Unsterbliche Zellen
Unter Laborbedingungen altern Zellen – unabhängig davon, ob sie ursprünglich aus Insekten oder Säugetieren stammen. Sie teilen sich dann nicht mehr und sterben. Deshalb nutzen Forscher einen Kniff: Mithilfe von bestimmten Viren oder gentechnischen Methoden machen sie die Zellen quasi unsterblich. Sie wachsen und teilen sich dann unter Laborbedingungen fast uneingeschränkt. Aus den bisweilen mimosenhaften Ursprungszellen werden sogenannte stabile, immortalisierte Zelllinien. So müssen Wissenschaftlicher nicht ständig neue Zellen aus Tieren entnehmen.
Damit Forscher weltweit wissen, mit welchem Typ Zellen sie es zu tun haben, erhalten alle Zelllinien einen Namen. Die unsterblichen Zellen von Spodoptera frugiperda heißen Sf9, nach seinen Initialen.
Heute sind über 100 verschiedene Insekten-Zelllinien bekannt. Darunter Zellen von Faltern wie Estigmene acrea, einer recht verbreiteten, allerdings nicht in Europa vorkommenden weiß und orange gefärbten Mottenart mit hübscher Punktierung; oder von Trichoplusia ni, der Aschgrauen Höckereule, die fast auf der ganzen Welt beheimatet ist; oder von der braun-schwärzlichen Kohleule (Mamestra brassicae), die ihrem Namen entsprechend als Larve am liebsten zarte Kohlköpfe verspeist. Auch von der bekannteren Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) und dem Seidenspinner (Bombyx mori) lassen sich Zellen im Labor kultivieren. Ursprünglich dienten diese Zellen dazu, mehr über das (Insekten-)Leben zu erfahren; und um in ihnen ein Virus zu vermehren, das sich als Insektizid eignet, das Baculovirus.
Insektenvirus mit Vorzügen
Dieses Virus befällt ausschließlich Schmetterlinge, Zweiflügler wie Mücken und Fliegen sowie Hautflügler wie Bienen und Wespen. Für deren Larven endet eine Virusinfektion oft tödlich, für Menschen sind die Viren jedoch völlig harmlos. Tatsächlich nehmen wir, ein gesunder Speiseplan mit viel Obst und Gemüse vorausgesetzt, täglich Millionen, wenn nicht gar Milliarden Baculoviren mit unserer Nahrung auf. Geschadet hat es anscheinend noch niemandem.
Vor 50, 60 Jahren hat man die Insektenzellen also hauptsächlich dafür genutzt, das Baculovirus zu vermehren, um es dann auf Schadinsekten loszulassen. Bis Wissenschaftler Anfang der 1980er-Jahre erkannten, dass Baculoviren im Reagenzglas auf mindestens ein Gen getrost verzichten können. Um sich in freier Wildbahn vor schädlichen Einflüssen abzuschirmen, verkapselt sich das Virus mithilfe des Proteins Polyhedrin. Im Labor geht’s aber auch ohne.
Und so dachten sich Forscher: Man könnte die Gensequenz, die für das Kapselprotein codiert, einfach gegen eine andere austauschen. Die infizierten Insektenzellen würden dann nicht mehr Polyhedrin produzieren, sondern das eingeschleuste Protein nach Wahl, und zwar in rauen Mengen. Solche genetisch angepassten Viruspartikel nennen Forscher virale Vektoren, umgangssprachlich auch als Genfähre oder Gentaxi bezeichnet.
Der Plan ging auf. Erfreulicherweise sind Insektenzellen überhaupt nicht wählerisch. Ob die eingefügten Gensequenzen aus Bakterien, Säugern oder sogar anderen Viren stammen – die mit dem veränderten Baculovirus infizierten Zellen produzieren klaglos, was ihnen vorgesetzt wird. Eine herrliche Proteinfabrik für Forschung und Medizin, die anderen herkömmlichen Proteinfabriken zum Teil überlegen ist.
Denn obwohl Insektenzellen nicht so ergiebig Fremdproteine produzieren wie Bakterien oder Hefezellen, sind die Produkte den menschlichen sehr viel ähnlicher. Frei nach dem Motto: Qualität vor Quantität. Auch lassen sich mit der Virus-Insektenzell-Fabrik gleichzeitig völlig unterschiedliche Proteine herstellen; dabei spielt es keine Rolle, ob sie miniklein oder riesengroß sind. Zudem sind die Kosten überschaubar, denn Insekten-Zelllinien stellen keine großen Ansprüche an ihr Kulturmedium – im Gegensatz zu beispielsweise Säugerzellkulturen. Last but not least: das System ist einfach justierbar, denn nur das Virus muss neu angepasst werden, der Rest bleibt absolut gleich – Plug&Play, ganz einfach und besonders vorteilhaft während einer Pandemie.
Aus den Insektenzellen in den Oberarm
Ganz perfekt läuft die Maschine jedoch noch nicht, das hat vor allem mit bestimmten Protein-Anhängseln zu tun, die sich bei menschlichen und Insektenproteinen deutlich voneinander unterscheiden. Aber auch an diesem Schwachpunkt arbeiten Forscher bereits.
Bereits vor mehr als 20 Jahren kam der allererste in Insektenzellen hergestellte Impfstoff auf den Markt, und zwar gegen die klassische Schweinepest. Sieben Jahre später, 2007, folgte mit Cervarix der erste Impfstoff für Menschen. Hier produzierten Zelllinien der Aschgrauen Höckereule das L1 Strukturprotein des humanen Papillomavirus (HPV), das Gebärmutterhalskrebs auslösen kann. Seit 2013 gibt es auch einen Grippe-Impfstoff (FluBlok) auf Insektenzellkultur-Basis. Und nun also Nuvaxovid von Novavax. Die Zelllinie Sf9 des eingangs erwähnten graubraunen, pelzigen Nachtfalters Spodoptera frugiperda steuert für diesen Impfstoff die Spike-Proteine bei. Der notwendige Wirkverstärker, das Adjuvants, stammt aus Extrakten des chilenischen Seifenrindenbaums, Quillaja saponaria.
Dass die Zulassung etwas länger gedauert hat als gedacht, lag aber nicht am Nachtfalter. Im Sommer 2021 mangelte es an allem möglichen Laborzubehör und darunter hatte besonders Novavax zu leiden. „Da ist zum einen das Medium, in dem die Zellen wachsen“, erzählte Firmen-Chef Stanley Erck dem Guardian. „Man lässt sie in diesen 2.000-Liter-Beuteln wachsen, die gerade Mangelware sind. Dann muss man die Zellkultur filtern, und auch die Filter sind Mangelware. Es sind diese kleinen Dinge“.
Das Problem scheint inzwischen behoben und auch die Ergebnisse der klinischen Studien zur Vakzin-Wirksamkeit stimmen optimistisch. Nun darf sich der Impfstoff auch im „echten Leben“ beweisen. Statt Impfmücken müssen es jetzt also die Impffalter richten.