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Die Blumenuhr
Die Blumenuhr
Die Blüte und ihre Bestäuber sind ein eingespieltes Team. Das Insektensterben lässt die Blumenuhren langsamer laufen.
Wer nachmittags in unseren Garten kommt, verpasst einen der schönsten Blautöne, den die Natur zu bieten hat. Die „Gewöhnliche Wegwarte“ öffnet ihre himmelblauen Blüten schon in aller Frühe und schließt sie kurz nach dem Mittag. Auch die Obstwiese hinter dem Gartenhäuschen präsentiert sich nur morgens in einem luftigen Gelb, wenn die Blüten des Habichtskrauts in der Sonne tanzen. Wenn man abends zum Gießen vorbeischaut, haben sich die Blütenköpfchen längst wieder geschlossen.
Der Schwede
Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707 – 1778) war der Erste, der die Blühzeiten verschiedener Pflanzen systematisch studierte. Linnés Vater war Pfarrer in der südschwedischen Gemeinde Stenbrohult und hatte neben der Kirche einen prächtigen Garten mit besonderen Bäumen und seltenen Blumen angelegt. Schon als Kind beobachtete Linné das Werden und Vergehen in diesem Garten, das Aufblühen und das Verblühen; und wie sich die Blätter einiger Pflanzen tagsüber hoben und abends wieder senkten, so als würden sie mit dem Tageslicht aufwachen und in der Dämmerung einschlafen (1).
Als Hochschullehrer in Uppsala und Leiter des botanischen Universitätsgartens veranstaltete Linné viele Jahre später regelmäßig Exkursionen in die Umgebung der Universität. Seine Studenten sammelten dabei Pflanzen und Insekten und notierten ihre Beobachtungen. In einem Notizbuch Linnés von 1750 finden sich Aufzeichnungen über tagesperiodische Blütenbewegungen und den Blumenbesuch von Insekten aber auch Informationen über die Blühzeit verschiedener Pflanzen, die Linnés Studenten zusammengetragen hatten.
In seinem Hauptwerk, der „Philosophia Botanica“, das 1751 veröffentlicht wurde, unterscheidet Linné drei verschiedene Blumenarten. Die „Meteorici“ – eine Gruppe von Pflanzen, deren Blüten sich in Abhängigkeit zu den Wetterbedingungen öffnen und schließen; die „Tropici“ – Pflanzen, die in Abhängigkeit zur Tageslänge blühen; und „Aequinoctales“ – Pflanzen, deren Blüten sich unabhängig vom Wetter zu festen Zeiten öffnen und schließen.
In der „Philosophia Botanica“ findet sich auch die „Blumenuhr“ („Horologium florae“). Der schwedische Naturforscher hatte hier auf dem Papier die Namen von 44 Pflanzenarten kreisförmig, entsprechend ihrer Blühzeiten, wie auf dem Zifferblatt einer Uhr angeordnet. Eine Blumenuhr tatsächlich gepflanzt oder zu pflanzen angeordnet, hat Linné wohl nie. Aber es geht die Legende, dass er beim Gang durch die Natur anhand der Pflanzen und Blütenstände die Uhrzeit exakt bestimmen konnte.
Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts legten einige botanische Gärten in Europa Blumenuhren an, eine knifflige Angelegenheit. Einige der von Linné genannten Pflanzen blühen nicht gleichzeitig im Jahreslauf, manche bleiben bei schlechtem Wetter länger geschlossen. Außerdem stimmen die in Uppsala ermittelten Blühzeiten lange nicht mit denjenigen anderswo in Europa überein, da der Breitengrad und damit die Tageslänge die Blüte beeinflussen. Die Wegwarte etwa öffnet sich in Linnés nordschwedischer Wirkungsstätte schon zwischen 4 und 5 Uhr morgens (bei uns gegen 6 Uhr) und schließt sich bereits um 10 Uhr morgens (bei uns gegen 14 Uhr).
Die Uhr
(Die Uhrzeiten gelten für Uppsala (60° nördlicher Breite.)
Es öffnen die Blüte:
3 bis 5 Uhr Wiesenbocksbart
4 bis 5 Uhr Wegwarte, Bitterich
5 Uhr Gänsedistel, Islandmohn
5 bis 6 Uhr Löwenzahn
6 Uhr Doldiges Habichtskraut
6 bis 7 Uhr Gemeines Habichtskraut
7 Uhr Weiße Seerose
8 Uhr Felsennelke
9 bis 10 Uhr Ackerringelblume
Es schließen die Blüte:
8 bis 10 Uhr Löwenzahn
9 bis 10 Uhr Wiesenbocksbart
10 Uhr Wegwarte
11 bis 12 Uhr Gänsedistel
12 Uhr Ackerringelblume
13 Uhr Felsennelke
14 Uhr Gemeines Habichtskraut
17 Uhr Weiße Seerose, Doldiges Habichtskraut
19 Uhr Islandmohn
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Der Dichter
Den deutschen Schriftsteller Jean Paul (eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, 1763 – 1825) inspirierte die Blumenuhr in einer Passage seines humoristischen Romans „Siebenkäs“ zum Entwurf einer „Menschen-Uhr“, in der er die Tagesrhythmen seiner geschäftigen Mitmenschen beschrieb:
„Ich glaube, Linnés Blumenuhr in Upsal (horologium florae), deren Räder die Sonne und Erde, und deren Zeiger Blumen sind, wovon immer eine später erwacht und aufbricht als die andere, gab die geheime Veranlassung, daß ich auf meine Menschen-Uhr verfiel. Ich wohnte sonst in Scheerau, mitten auf dem Markt, in zwei Zimmern; in mein vorderes schauete der ganze Marktplatz und die fürstlichen Gebäude hinein, in mein hinteres der botanische Garten. Wer jetzo in beiden wohnt, hat eine herrliche vorherbestimmte Harmonie zwischen der Blumenuhr im Garten und der Menschenuhr auf dem Markt.“
(„Siebenkäs“, eigentlich „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel“, Kapitel 67) (4)
Um drei Uhr erwachen Wiesenbocksbart und der Stallknecht, der zu füttern beginnt; um vier Uhr das kleine Habichtskraut und die Bäcker; um fünf Uhr die Butterblumen und die Küchen- und Viehmägde; um sechs Uhr die Gansdisteln und Köchinnen;
„Um 7 Uhr sind schon viele Garderobejungfern im Schlosse und der zahme Salat in meinem botanischen Garten wach, auch viele Kauffrauen (..) Um 9 Uhr regt sich schon der weibliche Adel und die Ringelblume (..).“
In einem Kapitel des „Siebenkäs“ („Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“) gehe es laut Sven Friedrich, dem Direktor des Jean-Paul-Museums in Bayreuth, um die existenzielle Verstörung der Menschen in der Zeit Jean Pauls. In einer aufgeklärten Welt ohne metaphysischen Bezugspunkt, in einer Welt ohne Gott, sei das Ich orientierungs- und haltlos geworden (5). Wie wohltuend sind da der Blick auf die Rhythmen der Natur, die Sonnenaufgänge und die Sonnenuntergänge, auf die Pflanzen und Tiere, die erwachen und auch auf die Rhythmen erfüllter Menschen in ihrem Dasein.
„So können wir Menschen für höhere Wesen Blumen-Uhren abgeben, wenn auf unserem letzten Bette unsere Blumenblätter zufallen – oder Sand-Uhren, wenn die unsers Lebens so rein ausgelaufen ist, daß sie in der andern Welt umgekehrt wird – oder Bilder-Uhren, weil in jene zweite, wenn hier unten unsere Totenglocke läutet und schlägt, unser Bild aus dem Gehäuse tritt – – sie können in allen solchen Fällen, wo 70 Menschenjahre vorüber sind, sagen: »Schon wieder eine Stunde vorbei! Lieber Gott, wie doch die Zeit verläuft!«"
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Die Blüte
Um Samen zu bilden und sich fortzupflanzen, haben sich bei Blütenpflanzen verschiedene Strategien herausgebildet. Die Bestäubung mit Hilfe tierischer Blütenbesucher hat im Vergleich zur Windbestäubung den Vorteil, dass der Pollen wesentlich gezielter von Pflanze zu Pflanze übertragen wird.
Wenn sich die Blüten mancher Pflanzenarten einer Region gesammelt nur in einer begrenzten Zeitspanne öffnen (wie bei den Pflanzen der Blumenuhr), erhöhen sie durch das „geballte Angebot“ die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Bestäubung, weil wenig Pollen an andere Pflanzenarten verloren geht.
Pflanzen legen ein ganz unterschiedliches Blühverhalten an den Tag. Manche blühen erst, wenn der Tag eine gewisse Länge reicht hat (beim Wiesenklee zum Beispiel mindestens 12 Stunden). Andere blühen nur dann, wenn eine bestimmte Tageslänge nicht überschritten wird (Erdbeere höchstens 10 Stunden). Wieder andere sprechen nicht oder kaum auf die Tageslänge an (Löwenzahn).
Die Grundlage von allem (nicht nur die Blüten können sich rhythmisch öffnen, auch die Produktion von Nektar, Duftstoffen und die Verfügbarkeit von Pollen schwankt im Tagesverlauf) bilden genetisch festgelegte, biologische Rhythmen, die sich periodisch wiederholen, tagtäglich, die aber auch mit den äußeren Umweltbedingungen abgestimmt werden bzw. sich durch sie beeinflussen lassen. Nur so kann sich eine Pflanze, die ihren Standort nun einmal nicht wechseln kann, an unterschiedliche Umgebungsfaktoren anpassen.
Das Nahrungsnetz
Jochen Fründ, Zoologe in der Abteilung für Biometrie und Umweltsystemanalyse an der Universität Freiburg, untersucht, welchen Einfluss bestäubende Insekten auf die Blütenöffnung haben. Licht und Feuchtigkeit beeinflussen die Blühzeiten, aber welche Rolle spielen Insekten für die Blumenuhr?
Fründ und sein Team stellten im Freiland offene oder geschlossene Käfige hauptsächlich über eine Gruppe von Pflanzen, die Cichorioideae (alter Name: Zungenblütige Korbblütler), zu denen auch das Habichtskraut auf unserer Obstwiese gehört (6). Die von Fründ untersuchten Korbblütler stellen immerhin 27 der 44 in Linnés Blumenuhr eingeschlossenen Arten und sind ein wichtiger Teil der europäischen Vegetation.
In die offenen Käfige auf der Wiese nun konnten Bienen oder andere Insekten ein- und ausfliegen, Nektar und Pollen sammeln, die Blüten bestäuben, in die geschlossenen Käfige nicht. Fehlten die Bestäuber, verlängerte sich die Blühzeit der Pflanzen um bis zu drei Stunden. Die Blumenuhr ging nach. Der Herbstlöwenzahn beispielsweise blühte im Experiment ohne Insekten bis 18 Uhr, normalerweise schließt sich die Blüte auf der Wiese bereits gegen 15 Uhr.
In einem aktuellen Projekt beschäftigt sich Jochen Fründ mit den Auswirkungen auf die komplexen Nahrungsnetze zwischen Pflanzen und Insekten, wenn die Blüten mancher Pflanzen länger geöffnet bleiben, weil etwa zu wenige Bienen als Bestäuber umherfliegen. Das Insektensterben stört das fein austarierte Miteinander in der Natur massiv, das ist keine Frage. Auch auf die Blumenuhr wirkt es sich aus.
Der Komponist
Der französische Pianist und Komponist Jean Francaix (1912 bis 1997) hat sich in seiner Suite für Orchester und Oboe „L’horloge de Flore“ (Die Blumenuhr) musikalisch mit der Blumenuhr beschäftigt. Jedem der sieben Sätze ist eine Blütenpflanze und eine Uhrzeit zugeschrieben.
In aller Frühe, bereits um drei Uhr morgens, begrüßt eine Gladiole die bald aufgehende Sonne. Um 5 Uhr erscheint die blaue Liebesblume, um 10 Uhr ein Säulenkaktus mit großen Blüten, um 12 Uhr ein Gewächs von der indischen Pfefferküste, um 17 Uhr die „Schöne der Nacht“, um 19 Uhr die Hängegeranie und um 21 Uhr die Klatschnelke, die zwar Tag und Nacht blüht, jedoch nur in der Dunkelheit einen süßlichen Duft verströmt, um Insekten anzulocken (7).
Wer einmal versuchen möchte, aus dem „Andantino“ einen Säulenkaktus oder aus dem „Allegrissimo giusto“ eine Hängegeranie herauszuhören, kann das hier tun.
„Doch will ich ehrlich sein: Beim Komponieren sind die schönsten Theorien das allerletzte, woran ich denke. In erster Linie sind es nicht die ‚gedanklichen Autobahnen‘, denen mein Interesse gilt, sondern die 'Waldwege‘. “
(Jean Françaix) (8)
Quellen:
(1) „Darwin & CO. – Eine Geschichte der Biologie in Portraits“, herausgegeben von Ilse Jahn und Michael Schmitt, Verlag C. H. Beck, München 2001
(2) „Biologie in Zahlen“, Rainer Flindt, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000
(3) „Die Blumenuhr“, Una Jacobs, OMNIBUS Taschenbuch, München 2004
(4) https://gutenberg.spiegel.de/buch/siebenkas-3215/67)
(5) CD "Der Literaturverführer – Jean Paul vorgestellt von Sven Friedrich, Auricula GmbH, Berlin 2009
(6) https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1461–0248.2011.01654.x
(7) http://www.berliner-musikedition.de/index_htm_files/Die-Blumenuhr_Info.pdf