Strahlentherapie bei Brustkrebs: Den Atem anhalten und das Herz schützen
Seit einigen Jahren gibt es in deutschen Radiologie-Praxen Apparaturen für die atemgesteuerte Strahlentherapie (Atemgating). Die Autorin hat am eigenen Köper erfahren, wie gut es tut, nicht nur passiv unter dem Gerät zu liegen, sondern sich bei der Behandlung aktiv zu beteiligen.
An manchen Tagen in diesen vier Wochen komme ich mir vor wie eine Morgenschwimmerin, die noch vor der Arbeit im städtischen Hallenbad ihre Bahnen zieht. Auf dem Weg durch die Eingangshalle des Krankenhauses krame ich meine Dauerkarte aus dem Rucksack, laufe die Treppen hinab in den Keller, die Türen der Praxis öffnen sich automatisch. Ich halte meine Karte vor den Scanner am Empfangstresen. Eine Frau, die dahinter sitzt, nickt mir freundlich zu. Es piepst, ein grünes Lämpchen leuchtet auf. Ich kann gleich weitergehen zur Umkleidekabine und muss nicht im Wartebereich Platz nehmen. Leider wartet nach der Umkleide nicht das Schwimmbecken, sondern der Linearbeschleuniger.
„Gehen Sie schon mal durch“, ruft mir die Radiologie-Assistentin zu, die mich aus der Kabine geholt und schon wieder Platz genommen hat an einem überdimensional großen Schaltpult. Ich gehe weiter in einen anderen Raum, der mindestens so groß ist, wie meine komplette Dachgeschosswohnung. Darin: Dicke Wände, schweres medizinisches Gerät, eine Liege, eine Ablage, auf der ich meine Brille und die FFP2-Maske deponiere. Inzwischen kenne ich mich aus und weiß, was zu tun ist. Lege das mitgebrachte Handtuch auf die blaue Liege, stecke mein persönliches Mundstück auf die Apparatur, lege mich hin und setze eine Nasenklammer auf. Einer der freundlichen Menschen, die mich hier Tag für Tag professionell begleiten, hilft mir mit dem Mundstück und reicht mir eine Monitor-Brille.
Wenn der Computer meine persönlichen Daten aufgerufen hat, sehe ich mit der Brille auf einem Bildschirm meine Atemkurve, die sich auf und ab bewegt. Ich bin ein wenig stolz, wie ruhig ich bei allem bleibe. Auch, als die Assistentin den Raum verlässt und sagt, dass es jetzt los geht. Das Bestrahlungsgerät, das mich surrend umkreist und sich aus mehreren Positionen auf meine linke Brust ausrichtet, wird nur dann aktiv – ich höre es an einem knarzenden Alarmton – wenn ich den Atem anhalte. Wie ich ein- und ausatmen, wann tief einatmen und dann den Atem anhalten soll, zeigt mir die Bildschirmbrille mit grünen und roten Symbolen. Bis zu 30 Sekunden darf ich die Luft anhalten, nach etwa einer Minute ist die Bestrahlung dann vorbei.
Die Tür geht auf. Ich kann die Brille ab- und das Mundstück herausnehmen, wieder frei durch die Nase atmen, das tut gut. Wie vieles in diesen Wochen und Monaten, fühlt sich auch die Strahlentherapie irgendwie irreal an. Ich bin froh, dass ich körperlich bis auf eine leichte Schwächung kaum etwas davon bemerke. Auch meine Haut reagiert nur leicht gerötet auf die aggressiven Wellen. Wenn ich aus dem Krankenhauskeller komme, gehe ich noch kurz in den Raum der Stille im Erdgeschoss. Setze mich einen Augenblick. Atme ruhig, manchmal fließen ein paar Tränen.
Strahlentherapie kann das Herz schädigen
Die dem Klinikum angegliederte Radiologie-Praxis, die ich wegen meiner Brustkrebserkrankung aufsuchen muss, macht im Eingangsbereich auf die verwendeten modernen Behandlungsmethoden aufmerksam. Ich bin dankbar, dass ich hier gelandet bin. Auch, weil ich jeden Tag mit dem Fahrrad herkommen kann. „Die Atmung macht den Unterschied: Röntgenstrahlen gehen am Herzen einfach vorbei“, ist der Artikel von Marita Zimmerhof in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 2020 betitelt, der neben dem Empfangstresen aushängt. Dort lese ich: „Wenn Frauen mit Brustkrebs nach der Operation bestrahlt werden, liegt unter der linken Brust das Herz nur einen Daumenbreit entfernt.“ Es besteht die Gefahr, dass die energiehaltige Strahlung das Herzgewebe schädigt, sich winzige Narben bilden und sich die empfindlichen Herzkranzgefäße verengen. Noch Jahre nach der Strahlentherapie können Spätfolgen auftreten, zum Beispiel eine Herzschwäche oder Herzinfarkte.
„Strahlenbedingte Herzveränderungen, insbesondere Herzkranzgefäßverengungen, machen sich – wenn überhaupt – frühestens nach acht bis zehn Jahren nach einer Strahlentherapie bemerkbar“, schreibt das Informationsangebot von „Stärker gegen Krebs“.
Atemgesteuerte Radiotherapie senkt das Risiko bei linksseitigem Brustkrebs
Die Strahlentherapie bei tiefer Einatmung, englisch „Deep Inspiration Breathhold“-Technik (DIBH) macht sich ein einfaches physiologisches Phänomen zu Nutze: Wenn wir tief einatmen, füllen sich die Lungen und die Organe im Brustkorb und Oberbauch verändern ihre Lage. Das Herz entfernt sich von der Brustwand. Eine atemgesteuerte Strahlentherapie schont die nah an der Brustwand gelegenen Koronararterien, das Risiko für spätere Herzerkrankungen sinkt.
Seit gut 20 Jahren testet man im klinischen Setting die DIBH-Technik bei Brustkrebs. Seit etwa 2018 gibt es die Apparaturen für die „Strahlentherapie bei tiefer Einatmung“ in radiologischen Praxen in Deutschland. Meine Praxis hat für ihre beiden Standorte 100.000 Euro in die moderne Technik investiert. Rund 1000 Patientinnen und Patienten würden jedes Jahr in den beiden Praxen bestrahlt, 350 davon hätten Brustkrebs, 50 bis 100 Patientinnen, eigneten sich konditionell für die Atemsteuerung, lese ich im Artikel. Eine davon bin in diesem Jahr ich.
Ein Satz fällt, den der leitende Strahlenarzt Martin Bender auch mir im Vorgespräch gesagt hat: „60 bis 70 Prozent des Erfolges macht die Operation aus, 30 bis 40 Prozent die Chemo- und die Strahlentherapie.“ Im Vorfeld nicht ausdrücklich erwähnt hat er, mit welcher Strahlendosis ich es tatsächlich zu tun bekomme. Sie ist zwar zu 100 Prozent auf mich abgestimmt und in ihrer Feinheit und Präzision überhaupt nicht vergleichbar mit den Anfängen der Strahlentherapie im letzten Jahrhundert. Aber dennoch, es ist ein Hammer, der da in einzelnen Häppchen auf mich niederfährt. Die Dosis um den Faktor 50.000 höher als bei einem Röntgenbild, lese ich bei Marita Zimmerhof. Die aggressiven Strahlen sollen Tumorzellen, die womöglich trotz OP noch an Ort und Stelle geblieben sind, zerstören.
Recht rasch nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Röntgen (1895) und der Entdeckung des Radiums durch Marie Curie (1898) starteten ÄrztInnen erste Versuche, Tumoren mit Hilfe der Radiotherapie zu behandeln. Heute ergeht es vielen so wie mir: Im Verlauf der Erkrankung bekommt etwa jeder zweite, jede zweite KrebspatientIn eine Strahlentherapie, schreibt das Deutsche Krebsforschungszentrum.
Das Atemgating (Gate = Schranke, Tor) braucht eine gründliche Vorbereitung. Außerdem ist diese Behandlung während der Bestrahlungswochen etwas zeitaufwändiger als die Therapie bei normaler Atmung. Bei einem Extratermin vorab, ich erinnere mich an die angespannte Stimmung der leitenden MTRA, markiert die Assistentin mit einem wasserfesten Stift die Zielscheibe, das Bestrahlungsfeld, auf meiner Brust. Zu Vorbereitung gehört auch, dass die Medizinphysiker der Praxis mit Hilfe der Daten aus Computertomographie zur Lage meiner Lunge, der Brust und des Herzens bei der Atmung, die optimale Körperposition bei der Bestrahlung und den Bestrahlungsplan berechnen.
Höhere Lebenserwartung dank moderner Strahlentherapie?!
„Mammafrühkarzinom: Studie sieht keinen langfristigen Überlebensvorteil durch Radiotherapie“ – diese Überschrift im „Deutschen Ärzteblatt“ von Ende November 2022 jagt mir zunächst einen Schrecken ein. Aber es lohnt ein genauer Blick auf die Ergebnisse. So einfach wie in der Überschrift formuliert, ist das wahre Leben denn doch nicht. Die Studie aus Schottland verfolgte knapp 600 Patientinnen (70 Jahre oder jünger) bis zu 30 Jahre nach ihrer Brustkrebsdiagnose. Die Hälfte der Frauen hatten neben der Operation eine Bestrahlung erhalten, die andere Hälfte nicht. Zwar senkte die Bestrahlung das Risiko, dass der Tumor im Laufe der ersten zehn Jahre in der operierten Brust zurückkehrte. Auf lange Sicht brachte das zumindest nicht allen Frauen einen Vorteil: 30 Jahre später lebten in der Bestrahlungsgruppe noch 24 Prozent der Frauen, in der anderen Gruppe ohne Radiotherapie waren es knapp 28 Prozent. Möglicherweise seien durch die Strahlentherapie zwar einige Todesfälle durch Brustkrebs verhindert worden, andere Todesfälle durch Schäden an den Gefäßen oder am Herzen aber hinzugekommen, schätzt einer der beteiligten Ärzte, Ian Kunkler von der University of Edinburgh, die Situation ein.
Das Ergebnis aus Schottland ist auf der einen Seite zwar aktuell, auf der anderen Seite ist es das aber überhaupt nicht. Denn: Die Frauen in der Studie erhielten vor 30 Jahren ihre Bestrahlung. Der technische Stand von heute ist dem damaligen weit überlegen. Ich erinnere mich an die Worte einer älteren Radiologie-Assistentin, die ich bei der Behandlung traf. Seit Jahrzehnten arbeitete sie mit KrebspatienntInnen und erlebte immer wieder neue Geräte und Methoden: „Die Therapie-Möglichkeiten heute können Sie überhaupt nicht mit damals vergleichen.“
Brustkrebspatientinnen hätten häufig eine lange Lebenserwartung, lese ich dankbar in einer Studie von Viola Salvestrini und ihren KollegInnen an der Universität Florenz. Daran, dass die Lebensqualität von Langzeitüberlebenden nicht durch toxische Begleiteffekte der Strahlentherapie gefährdet wird, habe die DIBH ihren Anteil. Die Strahlenbelastung von Herz und Koronararterien verringert sich durch die Technik laut einer weiteren Studie aus Italien um bis zu 80 Prozent.
Den eigenen Heilungsweg finden
Wie sicher viele andere Frauen fragte sich auch die Neurowissenschaftlerin und Veterinärmedizinerin Tanja Spanic als sie mit 26 Jahren an Brustkrebs erkrankte: „Was ist die beste Behandlung für mich – nicht nur um den Krebs zu therapieren, sondern auch um mir zu helfen, ein langes, gesundes Leben zu führen?“ Nicht jede Option, Bestrahlung, Chemo-, Hormontherapie, ist für jede Frau das beste Mittel. Es brauche mehr Langzeitstudien, die die Betroffenen eine wirklich lange Zeit ihres Lebens weiter begleiteten, fordert Tanja Spanic. Das würde zum Beispiel den allein in Deutschland jährlich etwa 71.000 Frauen (Stand 2019), die eine Brustkrebsdiagnose erhalten, helfen, zusammen mit ihren ÄrztInnen Entscheidungen für ihren persönlichen Heilungsweg zu fällen.
Dazu gehört, auf den eigenen Körper zu hören, die eigene Lebenssituation zu betrachten: Was ist jetzt für mich der richtige Weg? Das ist angesichts von gerätedominierter, leitlinienorientierter, evidenzbasierter Medizin, über die ich mich nicht beschweren will und der ich viel verdanke, gar nicht so leicht. Geholfen dabei haben mir persönlich die Gespräche mit den vielen Menschen, denen ich in dieser Zeit begegnet bin.
Geholfen haben mir natürlich auch die Maschinen in oder unter denen ich gelegen habe. Doch gerade im Kontakt mit den Maschinen wird einem die Verletzbarkeit des eigenen Lebens besonders bewusst. In sich den Atem zu spüren, die Lebendigkeit, mitten in der Bestrahlungstherapie mit diesem Atem zu arbeiten, nicht passiv in der Maschine zu liegen, ihn bewusst für die eigene Heilung einzusetzen, machte für mich an dieser Stelle des Weges einen entscheidenden Unterschied.