Buchtipp zur Sommersonnenwende
In dem fantastischen Buch der britischen Autorin Olivia Laing geht es „Zum Fluss – (auf) eine Reise unter die Oberfläche“.
Im Frühsommer zeigt sich das Leben in seinem unschlagbaren Reichtum. Wer das Glück hat, fern von Steinwüsten zu leben, kann jetzt Kraft und vielleicht auch Zuversicht tanken beim Anblick von wucherndem Grün und leuchtenden Blüten.
Olivia Laing beginnt ihre Wanderung am längsten Tag des Jahres. Es hat einen Grund, warum sich die britische Autorin die hellste Phase des Jahres für ihre Unternehmung ausgesucht hat. Sie steckt in einer Lebenskrise – Trennung vom Partner, Verlust der Arbeit – und beschließt, allein den Fluss „Ouse“ von der Quelle bis zur Mündung hinabzulaufen. Der Trip dauert eine knappe Woche. Glücklicherweise lässt uns Laing in ihrem Buch „Zum Fluss – eine Reise unter die Oberfläche“ an ihrer Wanderung teilhaben.
„Flüsse sind von einem Geheimnis umgeben, das uns anzieht, denn sie entspringen dem Verborgenen und nehmen morgen vielleicht schon einen ganz anderen Lauf als heute. Im Unterschied zu einem See oder Meer hat ein Fluss ein Ziel, und die Bestimmtheit, mit der er sich darauf zubewegt, gibt ihm etwas ungemein Beruhigendes, insbesondere in den Augen derer, die den Glauben an ihr eigenes Fortkommen verloren haben.“
(Seite 19, Olivia Laing „Zum Fluss – eine Reise unter die Oberfläche“, Verlagsgruppe Random House, München 2020)
Der Fluss im Süden Englands sucht sich zielstrebig seinen Weg zum Meer. Laings Gedanken jedoch strömen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Sie erzählt von ihrer Liebe zu Matthew. Wir bekommen etwas mit von den körperlichen Befindlichkeiten während der Tour, dem Sonnenbrand, einem Anflug von Migräne, Blasen an den Füßen und dem Genuss eines deftigen Abendbrotes am Ende eines Wandertages.
Neben Persönlichem erfahren wir viel über die Geschichte des durchwanderten Landes. Wir lesen Interessantes über die Entwicklungen der Wirtschaft, der Städte, aber vor allem geht es um die Landschaft, die Natur, die Bedrohung der Artenvielfalt. Die Fülle an Themen, die die 44-Jährige dabei streift, ist groß, ihre Interessen ganz offenbar breit gestreut. Das zeigt sich auch an der langen Liste zitierter Literatur am Ende des Buches. Zahlreich sind die Quellen, aus denen sich Laings Assoziationen, Anmerkungen und Verknüpfungen speisen.
Wir laufen mit Olivia Laing durch das frühsommerliche East Sussex. Sehen das „Blau des Rittersporns“, hören dem „murmelnden Geplauder“ der Angler über Fisch und Fang zu, hören das „tosende Summen“ der Bienen. Eine ständige Begleiterin auf dieser Wanderung ist Virginia Woolf. 1912 hatte sich die Schriftstellerin in Lewes an der Ouse ein kleines Haus gemietet. Sieben Jahre später bezog sie zusammen mit ihrem Mann Leonard, den sie ihre „unverletzliche Mitte“ nannte, ein blaues Cottage auf der anderen Seite des Flusses: „Monk`s House“ in Rodmell. Hier schrieb Virginia Woolf unter anderem an „Mrs. Dalloway“ und „Zum Leuchtturm“ und verfasste zahllose Essays und Rezensionen. Die Ouse ist aber auch der Fluss, in dem sich Woolf, die vermutlich an einer Bipolaren Erkrankung litt, im März 1941 mit einem Stein in der Manteltasche ertränkte.
Wer die Tagebücher Virginia Woolfs gelesen habe, wisse, dass sie keinesfalls trist und trübselig, sondern vielmehr voller Humor und einer ansteckenden Liebe zur Natur gewesen sei, schreibt Laing. Die Autorin liebt die Natur ebenfalls und kann wunderbar darüber schreiben.
„Der Weizen ließ mir keine Ruhe. Er hatte hier ein neues Stadium erreicht; die langen grünlichen Härchen hatten sich entfaltet und das Feld in einen Ozean von Gras verwandelt, über den der Wind hinwegfuhr wie über eine Wasserfläche und die Ähren mal in diese, mal in jene Richtung neigte.“ (Seite 122)
Olivia Laing hat einen besonderen Blick auf die Natur. Sie beschreibt eine (andere) Welt, deren Gegenwart wir wohl alle erahnen, deren Eigenschaften wir aber kaum in Worte fassen können.
„Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, würde alles gesehen, wie es ist“, zitiert Laing den englischen Dichter, Maler und Mystiker William Blake (1757 – 1827).
Was reinigt unseren Blick auf die Welt, was lässt uns andere Welten sehen? Große Freuden können dies wohl ebenso auslösen wie großes Leiden. Als katholisch erzogenes Kind weiß Laing, dass diese Welt nicht alles ist. Den Glauben an andere Reiche über den Wolken oder unter dem Boden habe sie zwar inzwischen abgelegt, schreibt sie. Das Gefühl, dass die Erde „porös sei“ und man seinen Augen nicht wirklich trauen könne, ist der Autorin jedoch noch nicht abhanden gekommen. Im Gegenteil. Gerade im Mittsommer würde die Wand zwischen den Welten dünner werden.
Der Gedanke, dass es eine Welt neben der unseren geben könnte, taucht immer wieder auf. „Wälder haben etwas Beunruhigendes. Sie sind der Eingang zu einer anderen Welt unter oder neben der unseren.“ Nach der Ankunft am Ärmelkanal an der Mündung der Ouse bei Tide Mills/New Haven möchte Laing zuerst gar nicht nach Hause. Sie ist „so glücklich wie noch nie“, „unter dem blauen Gewölbe des Himmels“.
„Ich hatte das Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein, einer Welt neben der unseren, und obwohl ich jeden Augenblick zurückgeworfen werden konnte, glaubte ich, den Trick gemeistert zu haben und nach Lust und Laune zwischen den beiden hin- und herspringen zu können.“ (Seite 346)
Am Ende ihres Weges fällt die Schwere von Laing ab. Dazu beigetragen hat der Fluss, das Fließen, das Wasser. Hin und wieder ist die Autorin in diesen frühsommerlich heißen Tagen eingetaucht in das kühle Nass und hat dabei eine zweifache Wirkung des Wassers gespürt.
„Manchmal, wenn ich mich durch Wasser bewege, habe ich das Gefühl, von allen Gedanken, allen Sehnsüchten und Begierden rein gewaschen zu sein: träge und zufrieden dahinzutreiben wie ein Seestern, im Rhythmus meines Herzschlags.“ (Seite 153)
Manchmal passiert aber auch das Gegenteil.
„Es gab Zeiten, da habe ich in einem Fluss oder dem kalkgrauen Meer gebadet und hatte plötzlich das Gefühl, dass die Vergangenheit wie eine Welle über mir zusammenschlug. Das Wasser hat etwas gelöst; etwas verflüssigt, das eingetrocknet war und jetzt, wie mit Blei beschwert, durch meine Adern strömt.“ (Seite 153)
Die Wanderung hat die Autorin innerlich beruhigt.
„Seit fünf Tagen war ich nun schon auf Wanderschaft und hatte kaum ein Wort gesprochen; ich schien bis zum Hals in der Welt versunken, und die Panik, die mich monatelang wie ein Schatten begleitet hatte, war wie weggeblasen. Mein Handy hatte ein paarmal geklingelt, aber ich war nicht drangegangen. Ich wollte mich in meiner unverhofften Lebensfreude nicht stören lassen. Zu Hause machte die Einsamkeit mir Angst, zog sie sich endlos und weiß wie Papier dahin, während ich früher immer gern allein gewesen war. Hier jedoch, auf den Wiesen und Feldern, wo ich das Tempo bestimmte, fühlte ich mich nicht abgesondert oder isoliert.“ (Seite 249)
Was ist der Mensch in dieser Welt oder in diesen Welten? Was wir mit all den Lebewesen auf diesem Planeten teilen, ist die Vergänglichkeit. Der Tag wird kommen, da wird sich die Flut nicht nur den Abendsegler, die Mückenfledermaus oder den Eichenspinner holen, sondern jede(n) von uns. „.. Und irgendwann werde auch ich darin versunken sein.“ (Seite 242)
Der Fluss fließt von der Quelle bis zur Mündung. Doch wie unser Weg weitergehen wird, wissen wir nicht. „ .. wir leben ohne eine Zukunft. Das ist das Merkwürdige, wir pressen unsere Nasen an eine verschlossene Tür“, zitiert Laing einen Satz von Virginia Woolf, den diese in ihr Tagebuch schrieb, als im Zweiten Weltkrieg erste Bomben auf die Ouse fielen. Diese Erkenntnis macht Laing nicht unglücklich. Im Gegenteil. Sie fühlt sich verbunden. Kann ganz im Augenblick sein. Wie der Austernfischer, den sie am Ufer beobachtet, wie der Kiebitz, der über den Fluss segelt, wie die stahlblauen Libellen, die sie ein Stück des Weges begleiten.