Verdoppelung der Fälle: Die Welt kriegt die Cholera nicht in den Griff
Sauberes Wasser für alle bis spätestens 2030 – das ist eines der wichtigsten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Doch die Weltgesundheitsbehörde schlägt Alarm, dass die Cholera wieder auf dem Vormarsch ist
Am Sitz der Vereinten Nationen in New York beschworen Regierungsvertreter aus aller Welt Mitte September im Rahmen der jährlichen Generalversammlung eines ihrer wichtigsten Ziele: Bis zum Jahr 2030 soll jeder Mensch Zugang zu sauberem Wasser haben. Schon immer zählte das grundlegende menschliche Bedürfnis, sauberes Wasser zu trinken, zu den obersten Prioritäten der Umwelt- und Entwicklungspolitik und aller UN-Strategien in diesem Bereich. 2015 wurde der Zugang zu sauberem Wasser und guten Sanitäreinrichtungen sogar zum Menschenrecht erklärt. Doch in Ländern wie Afghanistan und auf dem afrikanischen Kontinent gibt es Rückschritte.
Ausgerechnet die Cholera, die bakterielle Krankheit, die wie keine mit verschmutztem Wasser in Verbindung steht, breitet sich wieder aus. Die Zahl der Menschen, die durch den Erreger Vibrio cholerae eine schwere Durchfallerkrankung bekommen, an der sie binnen Stunden einen leidvollen Tod sterben können, steigt schon seit 2021 wieder steil an.
Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO nun mitteilte, wurden für 2022 weltweit aus insgesamt 44 Ländern rund 473.000 Fälle gemeldet. Das sind mehr als doppelt so viele Fälle im Vorjahr und neun zusätzliche Länder. Offiziell registriert wurden dabei 2349 Todesfälle, die Vereinten Nationen gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus.
„Eine Milliarde Menschen leben derzeit in akuten Cholera-Risikogebieten“, sagt Philippe Barboza, der bei der WHO die globalen Bemühungen im Kampf gegen die Seuche koordiniert. „Wir fürchten, dass es 2023 eine extrem große Zahl von Fällen und auch Todesfällen geben wird“, warnt Otim Patrick Ramdan, der bei der WHO für Gesundheitsnotstände in Afrika zuständig ist. Bis Mitte März ist bereits eine Steigerung von 40 Prozent gegenüber demselben Zeitraum 2022 zu verzeichnen gewesen. Die WHO warnt, dass die Fallzahlen aus früheren Jahren deutlich übertroffen werden könnten.
Cholera folgt den Naturkatastrophen
In Ländern wie Malawi und Mosambik erkrankten im Frühjahr ungewöhnliche viele Menschen an Cholera. Zyklon „Freddy“, der über Wochen hinweg gewütet hat, verschlimmerte die Lage noch. Der Sturm hat Menschen obdachlos gemacht, zu Überschwemmungen geführt und Brunnen sowie Wasserleitungen beschädigt. Der Erreger, der von Natur aus in Gewässern vorkommt, gelangt dadurch ins Trinkwasser. Erkrankte geben das Bakterium dann weiter. Wo es keine Toiletten mehr gibt, verrichten Infizierte ihre Notdurft irgendwo im Freien, wodurch späteres Trinkwasser mit den Fäkalien verunreinigt wird. Auch über Lebensmittel, die mit verunreinigtem Wasser gewaschen werden, kann sich die Krankheit verbreiten.
In Ostafrika sind nicht Überschwemmungen das Problem, sondern die seit Langem anhaltende Dürre. „Wassermangel führt dazu, dass Menschen auf verschmutzte Quellen angewiesen sind und sich dann infizieren“, sagt WHO-Experte Barboza. Normalerweise kommt und geht die Cholera in Afrika mit Regen- und Trockenzeiten. Regionale Epidemien, bei denen ein Großteil der Infizierten symptomlos bleibt, sollten zudem zu einer zumindest vorübergehenden Herdenimmunität führen. Doch zumindest der saisonale Rhythmus ist nun vielerorts unterbrochen. In Malawi etwa wütet die Krankheit seit mehr als einem Jahr ohne Unterlass. Barboza geht davon aus, dass der menschengemachte Klimawandel das Cholera-Risiko noch vergrößern wird.
Zur derzeitigen Cholera-Welle tragen auch bewaffnete Konflikte und Naturkatastrophen bei. In der syrischen Grenzregion zur Türkei kam in diesem Jahr beides zusammen. Schon vor dem Erdbeben in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar hatte die WHO dort rund 40.000 Cholera-Fälle mit 20 Toten registriert. Das Erdbeben hat die Lage noch massiv verschlechtert.
Bereits 2022 zählte Syrien laut WHO zu den globalen Cholera-Hotspots mit mehr als 10.000 Fällen, neben Afghanistan, Kamerun, der Democratischen Republik Kongo, Malawi, Nigeria und Somalia. „Unter den aktuellen Hotspots sticht Syrien hervor, weil Cholera-Ausbrüche dort schon länger nicht mehr vorgekommen sind“, sagt die Epidemiologin Christina Frank vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin.
Es gibt eine Impfung – aber die reicht nicht
Eigentlich ist die Cholera gut behandelbar und heilbar. „Wir kennen die Ursachen von Cholera und die nötigen Gegenmaßnahmen bei Infektionen schon lange bestens“, sagt Frank. Dazu beigetragen hat auch der Namensgeber des RKI, der 1892 bei der letzten großen Cholera-Epidemie in Hamburg herbeigerufen wurde und mit Erfolg Hygienemaßnahmen bei der Wasserversorgung durchsetzte.
Zwei Jahre später entwickelte der katalanische Arzt Jaume Ferran i Clua einen Lebendimpfstoff, der in leicht abgewandelter Form seither dort verabreicht wird, wo Ausbrüche gemeldet werden. Das so genannte „reaktive Impfen“ in Krankheitsherden hat schon ungezählten Menschen das Leben gerettet. Auch bei akuten Erkrankten ist glasklar, was zu tun ist. „Sie müssen möglichst schnell mit sauberem Wasser und Elektrolyten versorgt werden, so dass sie nicht durch die Durchfälle austrocknen“, sagt Frank. Nur selten brauche es zusätzlich Antibiotika oder Infusionen. Frühzeitig behandelt, sei die Cholera „fast nie tödlich“.
Die aktuelle Cholera-Welle zeigt aber auf, dass derzeit weder Vorbeugung noch die Notreaktion so funktionieren, wie die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedsstaaten dies eigentlich längst garantieren wollen. Es gelingt nicht einmal, selbst die simpelsten Hilfsmittel wie Elektrolytlösungen oder Tabletten zur Wasserdesinfektion in ausreichender Mange dorthin zu bringen, wo die Menschen sie brauchen.
Beim Impfmittel sei der Bedarf um ein Vielfaches höher als die Produktion, kritisiert die WHO, der es noch nicht gelungen ist, die nötigen Finanzmittel und Herstellerzusagen für eine Impf-Offensive zu mobilisieren. „Je mehr Cholera-Ausbrüche es gleichzeitig gibt, desto schlechter können WHO und die Hilfsorganisationen reagieren, weil sie auch nur begrenzte Ressourcen haben“, sagt RKI-Expertin Frank. Regional, etwa in Kenia, wurden auch schon Choleraerreger gefunden, die resistent gegen gängige Antibiotika sind.
In 14 Ländern flammte die Seuche 2022 neu wieder auf, darunter auch im Karibikstaat Haiti, wo bereits zwischen 2010 und 2019 rund 820.000 Menschen erkrankten und fast 10.000 starben, nachdem ausgerechnet durch UN-Blauhelmsoldaten kontaminierte Fäkalien ins Wasser gelangt waren. Seit dem Wiederauftreten der Krankheit im Oktober 2022 wurden bis Ende Februar rund 2400 Erkrankungen und knapp 600 Todesfälle registriert, dazu kamen zusätzlich knapp 31.000 Verdachtsfälle. Erstaunlicherweise ist ausgerechnet Haiti in der neu veröffentlichten WHO-Statistik nicht aufgelistet.
Cholera wird tödlicher
Am alarmierendsten finden die Fachleute der WHO, dass der Anteil der tödlichen Verläufe in vielen Ländern wieder deutlich gestiegen ist. „Nachdem es uns seit 2015 gelungen war, den Anteil der Sterbefälle in den meisten Jahren unter die Schwelle von einem Prozent zu drücken, sind wir nun wieder bei bis zwei und in Afrika bei bis zu drei Prozent“, beklagt Krisenkoordinator Barboza.
Wenn infizierte Menschen unbehandelt bleiben, ist das Risiko, zu sterben, enorm hoch. Der Körper verliert dann in kürzester Zeit so viel Flüssigkeit, dass Stoffwechsel und Organe durch die innere Austrocknung ihre Dienste versagen. WHO-Experten erkennen in allen betroffenen Ländern ähnliche Muster. Zum einen habe die Covid-Pandemie auch in vielen Entwicklungsländern die Arztpraxen, Krankenhäuser und Kliniken über Maßen beansprucht, häufig fehle nun das Personal. Zum anderen häuften sich in jüngerer Zeit klimatische Extremereignisse wie Stürme und Dürren, Naturkatastrophen und auch bewaffnete Konflikte auf gefährliche Weise.
Für Menschen in reichen Ländern ist es selbstverständlich, dass sauberes Trinkwasser fließt, wenn sie den Wasserhahn aufdrehen. Doch zur Wasserkonferenz in New York im Frühjahr und zur Generalversammlung im September mussten sich die fast 200 Mitgliedsstaaten eingestehen, dass sie dieses Menschenrecht in weiten Teilen der Welt noch nicht einlösen können. Trotz der Fortschritte war nach UN-Angaben im Jahr 2020 fast die Hälfte der Weltbevölkerung, nämlich 3, 6 Milliarden Menschen, auf sanitäre Einrichtungen angewiesen, in denen Fäkalien unbehandelt blieben. Schätzungsweise 494 Millionen Menschen verrichteten ihre Notdurft im Freien, mit dem größten Risiko für die Ärmsten der Armen in ländlichen Regionen und für indigene Völker.
In einem sind sich Fachleute einig: Obwohl es einen einigermaßen effektiven Impfstoff gibt, wird dieser nicht die Lösung des Cholera-Problems sein. „Wir werden Cholera nicht mit dem Vakzin kontrollieren können“, sagt WHO-Koordinator Barboza. Der Grund dafür ist, dass eine flächendeckende Infrastruktur nötig wäre, um das oral eingenommene Impfmittel in regelmäßigen Abständen an mehr als eine Milliarde Menschen in armen Ländern zu verteilen. Im Gegensatz zu anderen Impfmitteln entsteht bei der Cholera-Impfung nämlich keine dauerhaft Immunität, es braucht also regelmäßige Auffrischungen. Deshalb hat man sich darauf verständigt, den Impfstoff immer dort geballt zu verabreichen, wo ein Ausbruch gemeldet wird. Wenigstens das müsste in Zukunft wieder reibungslos funktionieren, damit sich die Krankheit nicht unkontrolliert ausbreiten kann.
Es gibt nur ein Gegenmittel
Doch auch mit der besten Impfstrategie könnte man die Cholera nicht ausrotten, wie man das beim Pocken-Virus geschafft hat. Denn das Bakterium Vibrio cholerae ist in der Natur weit verbreitet, es kommt wie die gesamte Gruppe der so genannten Vibrionen in einer Vielzahl von Gewässern vor, sofern diese einigermaßen warm sind und einen gewissen Gehalt an Salzen haben.
Auch andere Strategien garantieren nicht den gewünschten Erfolg. Gerne wird in Cholera-Regionen etwa empfohlen, die Hände intensiv zu waschen und Wasser vor dem Trinken abzukochen. „Maßnahmen wie Händewaschen oder Abkochen kommen aber dann an ihre Grenzen, wenn es keine Seife oder kein Feuerholz gibt“, sagt RKI-Expertin Christina Frank.
Fachleute sind sich einig, dass es eigentlich nur einen Weg gibt, die Cholera dauerhaft und verlässlich in Schach zu halten: „Regierungen müssen jetzt Investitionen in eine sichere Wasserversorgung und Entsorgung die höchste Priorität geben“, sagt der Cholera-Forscher Samuel Kariuki, Direktor für Forschung und Entwicklung am Kenya Medical Research Institute, dem führenden Zentrum für Gesundheitsforschung in dem ostafrikanischen Land. Dazu gehöre, Wasserleitungen zu bauen, die saubere Reservoirs anzapfen, überall Toiletten zur Verfügung zu stellen sowie Kläranlagen samt sicheren Zu- und Ableitungen zu errichten. Zumindest müssten Regierungen in jeder Gemeinde Abgabestellen für sauberes Wasser anbieten und dort, wo es kein Abwassersystem gibt, Fäkalien in Containern einsammeln und entsorgen.
„Was man gegen die Cholera machen kann, ist schlicht und einfach sicheres Trinkwasser, sicheres Trinkwasser, sicheres Trinkwasser“, sagt Christina Frank. Sie hält es angesichts der brutalen Rückkehr der Cholera für sinnvoll, dass auch die Bundesregierung weltweit in Wasser-Infrastruktur investiert und Staaten ihre Zuwendungen an die WHO für die Bekämpfung der Seuche steigern.
Denn damit wirklich bis zum Jahr 2030 jeder Mensch Zugang zu sauberem Wasser hat, wie es die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen vorsehen und es in New York bei der „Wasser-Konferenz“ nun vielfach erneut versprochen wird, sind gigantische Investitionen nötig. „Die reichen Länder haben sich schon vor langer Zeit damit von der Cholera befreit“, sagt WHO-Experte Barboza. „Jetzt muss dasselbe in den ärmeren Ländern gelingen, um Millionen Menschen vor einer schweren Krankheit und Todesgefahr zu bewahren.“