Jahrhundertbiologe Ernst Mayr: Seine unbändige Neugierde hielt ihn jung
Vor 120 Jahren kam in Kempten der Evolutionsbiologe Ernst Mayr zur Welt. Er trat in die großen Fußstapfen von Charles Darwin und hinterließ ein Werk, das von Vogelstudien bis zu biologischen Theorien reichte
Während seiner wissenschaftlichen Laufbahn, die an einem Ententeich in Dresden begann und in den olympischen Höhen von Harvard endete, hat sich der Evolutionsbiologe Ernst Mayr eine Haltung bewahrt, die in der mehr und mehr zur Biotechnologie mutierenden Biologie von heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist, ja die man sogar als in ihrer Existenz bedroht einstufen darf. Mayr, dessen Leben hundert Jahre und einige Tage überspannte und am 5. Juli 1904, also vor 120 Jahren, in Kempten im Allgäu begann, war bei allen Postulaten von Erklärbarkeit, die aus den Titeln seiner populären Bücher „Das ist Biologie“ und „Das ist Evolution“ sprechen, von einer tiefen Ehrfurcht gegenüber der Natur durchdrungen.
Er hat, parallel zu seiner Jahrhundertrolle als „Darwins Apostel“, in der er jeden Versuch einer Abweichung von den orthodoxen Grundregeln der Evolutionslehre mit ätzender Analyse zersetzte, zugleich stets das mysteriöse, undurchdrungene, unwahrscheinliche, nicht-determinierte Wesen der Natur betont, das „Organisch-Unverständliche“, wie es der Biologe im Alter von 97 Jahren bei einem tagesfüllenden Gespräch genannt hat, an dessen Ende die beiden weitaus jüngeren Besucher erschöpft waren, er aber mit kindlich rosigen Wangen und ungebrochener Energie schnurstracks an seinen Schreibtisch zurückkehrte.
Von seiner Ehrfurcht zeugt auch, dass Mayr bis zuletzt jener organismischen Biologie treu geblieben ist, die in seinen Lehrjahren am Beginn des vergangenen Jahrhunderts dominant war, freilich eher aus Mangel an molekular- und systembiologischen Untersuchungsmethoden. Mayr aber hat sich auch am Ende des 20. Jahrhunderts, als Evolutionsbiologie längst zur Biologie der Modellorganismen und der Gene geworden war, bewusst für das ganze Lebewesen als Betrachtungsebene entschieden. Wie um seinen Lebenskreis zu schließen, brachte er noch 2001 zusammen mit Jared Diamond ein fünfhundert Seiten umfassendes Standardwerk über die Vögel Melanesiens heraus. Zu vermuten, es könnte nochmals einen Leitbiologen geben, der sein Lebenswerk mit einer Vogelschau abrundet, wäre wohl verwegen.
Ist die Natur leergedacht?
Was für Darwin die Inselwelt der Galapagosgruppe, waren für Mayrs Denken und für seine herausragende wissenschaftliche Leistung, die 1942 publizierte Zusammenführung von mendelianischer und darwinistischer Lehre in der „Neuen Synthese“, die Urwälder Neuguineas. Dorthin entsandte der Ornithologe Erwin Stresemann vom Berliner Naturkundemuseum sein „Schlaumayrchen“ 1928, nachdem dieser ihn vom Neuauftreten der Kolbenente in Deutschland überzeugt, sodann ein Biologiestudium in Rekordzeit absolviert und das ornithologische Handwerk in der bedeutenden Berliner Vogelsammlung gelernt hatte.
Zweiundzwanzig Jahre war Mayr bei seiner Abreise. Es zeugt, da heute noch Vierzigjährige als „Nachwuchsforscher“ bezeichnet und zwangsinfantilisiert werden, einem offenbar selten gewordenen Vertrauen des Gelehrten in seinen Nachwuchs, dass Stresemann Mayr mit auf den Weg gab, er baue „Häuser“ auf dessen Reise. Er wurde nicht enttäuscht. Mayr kam von einer abenteuerlichen Exkursion, in deren Verlauf ihn seine indigenen Begleiter verließen und ihn für tot erklären ließen, um rasch das unwegige Hochland wieder gegen die vertraute Küste eintauschen zu können, 1930 mit vollen Händen und rundum inspiriert zurück.
Die blanke, wabernde Natur, in der sich Mayr als Mann durchschlagen musste und die er zugleich als Theoretiker und Erkenner durchdrungen hat, existiert noch heute. Doch entweder ist sie leergedacht, da schon lange niemand mehr mit einer wirklich großen Idee von einer großen, einsamen Expedition zurückgekehrt ist, oder der Rückzug in die vollklimatisierten molekularbiologischen Labors, in denen alle Gefahren in Plastikhüllen verschweißt sind, zeigt bei aller Publikationshektik in Wahrheit einen Rückzug, eine Verkümmerung, ein Vergessen der Biologie an.
In Deutschland keine Zukunftsaussichten
Was Biologen heute in der Natur noch auffinden, lässt sich im Format von „National Geographic“ und „Discovery Channel“ verstehen. Vielleicht ist mit Mayr eine umfassende, in der mesoskopischen Natur beheimatete Erkenntnisfähigkeit verschwunden. Vielleicht halten Goretex, Satellitentelefone und Solarduschen die Explorierenden von heute nicht nur von Härten, sondern auch vom Denken ab. Dass ausgerechnet die Natur in ihrer organismischen Erscheinung aufgehört haben soll, die Biologie jenseits der auf die Biodiversität bezogenen Verlustängste anzutreiben, ist jedenfalls erstaunlich.
Seine in Neuguinea und auf den Salomonen entstandenen Sammlungen, Eindrücke und Gedanken ordnete Mayr nicht in Berlin, sondern am American Museum of Natural History in New York, das ihn mit einem Zweijahresvertrag aus Deutschland abwarb und seine Heimat schon vor dem Nationalsozialismus verlassen ließ. Mayr war zu dem Ergebnis gekommen, dass es in Deutschland für ihn als Wissenschaftler „keine Zukunftsaussichten“ gebe. In Amerika erreichte er höchste Gefilde.
Seine Einsichten in das Wesen der biologischen Art, die er nicht morphologisch, sondern als distinkte Fortpflanzungsgemeinschaft definierte, in die Entstehung der Diversität durch geographisch getrennte Gründerpopulationen und in das Wirken der Evolution auf allen Ebenen zwischen Molekülen und Populationen machten ihn zur Eminenz und begründeten seine Tätigkeit an der Universität von Harvard bis zur Mitte der 1970er Jahre.
Gegen den Reduktionismus
Jenseits der engeren Evolutionsbiologie und deren Popularisierung besteht Mayrs übergreifender Verdienst in der Abgrenzung der Biologie von den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Physik und der Chemie. Auch im Lichte des Humangenomprojekts und inmitten einer globalen Erregung über die Möglichkeiten der Biomedizin erzählte er, wie traurig er Anfang der fünfziger Jahre gewesen sei, als in Cold Spring Harbor „echte Biologen“ durch Chemiker ersetzt worden seien. Dass ebendort 1953 die Struktur des DNS-Moleküls entdeckt wurde, stellt die Pointe dieser Erinnerung dar.
Mayr hat sich energisch gegen einen physikalischen Reduktionismus gestellt, der das Leben in Atome auflöst, wieder zusammensetzt und dabei berechenbar machen will. Die Natur, wie er sie sah, ist ein System voll von Unvergleichbarem, das sich der Verfügung starrer Gesetze entzieht. Wie lange dieses Denken noch Gültigkeit hat, ist ungewiss. Schon länger macht sich die Zunft der Systembiologen daran, Lebewesen am Rechner zu simulieren, ja zu entwerfen – vorerst noch mit bescheidenem Erfolg. Nicht mit allen seinen Thesen behielt Mayr recht, angefangen von der Prognose aus dem Jahr 1946, dass das Zeitalter neuer Entdeckungen „praktisch vorbei“ sei und es auf der ganzen Welt höchstens noch hundert neue Vogelarten zu entdecken gebe. Auch die Taxonomie entwickelte sich anders, als Mayr dies erwartete. Aber die großen Impulse, die er gab, werden noch lange weiterwirken.
Ernst Mayr hat nicht der Lektüre von Anti-Aging-Ratgebern bedurft, um hundert Jahre alt zu werden. Er hat in hohen Dosen Vitamin E und Vitamin C geschluckt, aber auch das wird es nicht gewesen sein. Sein Rezept war es, sich bis zuletzt eine unbändige Neugierde zu bewahren. Bis zu seinem Tod am 3. Februar 2005 in seiner Wahlheimat Bedford in Massachusetts lebte in ihm der kleine Junge weiter, der im heimatlichen Voralpenland mit großen Augen die Vogelwelt erkundet hat.