„Das Wichtigste am Rhythmus sind die Pausen“

Ein Interview mit dem Geigenbauer Martin Schleske

9 Minuten
F-Loch eines Cellos

Martin Schleske sucht den perfekten Klang. Der 54-jährige Geigenbaumeister arbeitet so lange an seinen Geigen, Bratschen und Celli bis sie mit charismatischer Stimme klangvoll einen Raum erfüllen können. Jedes seiner etwa 30 Instrumente, die jährlich in Schleskes Werkstatt in Landsberg am Lech entstehen, sei eine individuelle Klangskulptur, sagt Schleske.

Eine solche Geige ist das Ergebnis vieler hundert Stunden Arbeit, kombiniert mit einem großen Erfahrungsschatz und leidenschaftlichem Forscherdrang. Der Geigenbaumeister ist im zweiten Beruf Physikingenieur und erforscht im eigenen Akustiklabor Materialien und Geigenlack-Rezepturen für den optimalen Klang. Musiker, Klangforscher und die nationale und internationale Presse sind des Lobes voll:

„Ich habe noch nie eine Geige mit einer schöner singenden E-Saite gespielt. Hier habe ich das Gefühl, nicht mehr Geige zu spielen, sondern zu singen […]. Mit dieser Geige spielt man mühelos über jedes Orchester“, sagt etwa der Geiger Ingolf Turban auf Schleskes Webseite. Vom Harvard-Professor Eric Heller (ein US-amerikanischer Physiker und Chemiker, der unter anderem über Psychoakustik forscht) ist dort zu lesen: „Wenn der Geigenbauer Martin Schleske kein moderner Guarneri ist, was aber durchaus der Fall sein könnte, so ist er sicherlich der am besten informierte und wissenschaftlich tätige Geigenbauer der Welt.“

Geigenbauer Martin Schleske
Martin Schleske

Martin Schleske baut nicht nur Streichinstrumente, er schreibt auch. Die Sätze in seinem Bestseller „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“ sind „Wortskulpturen“, über Jahre geduldig bearbeitetes Gedankenmaterial. Wer sich auf die Lektüre des Bestsellers „Der Klang“ oder Schleskes neuen Buches „Herztöne – lauschen auf den Klang des Lebens“ einlässt, hat Schwarzbrot vor sich. Schnell hinunterschlingen geht bei der Lektüre gar nicht. Langsames Kauen ist nötig. Der Inhalt ist zudem oft tiefreligiös, da mögen die hohen Auflagen von Schleskes Büchern, und die starke Nachfrage, ihn als Redner für Veranstaltungen zu gewinnen, fast verwundern.

Der Zuspruch und das Interesse an Schleske könnten an der Authentizität und Weisheit liegen, die der Mann und sein Werk ausstrahlen. Schleske stellt „Wegweiser“ auf, die in ihrer Glaubwürdigkeit und tiefen Verwurzelung rar sind im hektischen Buchbetrieb unserer Tage. Wie gelingt Martin Schleske das bei all den Anforderungen zwischen Familie und Beruf, zwischen Kunst, Wissenschaft und Berufung? Welche Rhythmen und Rituale pflegt er, aus welchen Kraftquellen schöpft er?

Mögen Sie mir ein wenig von Ihrem Alltag erzählen? Leben Sie bzw. praktizieren Sie einen regelmäßigen Tagesrhythmus, gibt es wiederkehrende Rituale in Ihrem Leben, Herr Schleske?

Das Wichtigste an meinem Tagesrhythmus ist sicher, wie ich den Tag beginne. Nach dem Frühstück gehe ich mit unserem Hund. Tiere sind starke Gewohnheitswesen und ein Hund zwingt einem quasi einen gewissen Rhythmus auf. Auch ich liebe es, immer wieder die gleichen Wege zu gehen. Wir leben in der Nähe des Lech. Ich gehe die Waldwege am Hochufer entlang, die Flussbäume dort haben eine gewaltige Lebenskraft. Man merkt einfach, ob ein Baum am Fluss gewachsen ist oder nicht. Die Wege, die ich morgens gehe und die Plätze, an denen ich mich dort hin und wieder niederlasse, brauche ich, um die Seele aufzuwecken, um ganz präsent zu sein für den Tag.

Wenn ich dann zurückkomme, gehe ich nicht gleich in die Werkstatt, sondern zunächst auf den Spitzboden unseres Werkstatthauses. In einem kleinen Raum, den man nur mit einer Leiter erreichen kann, habe ich mir zwischen den uralten Balken (aus dem 18. Jahrhundert) eine Dachkapelle eingerichtet. Durch ein Fenster in der Dachschräge fällt Licht auf einen kleinen Holzstuhl. Außerdem gibt es dort oben eine kleine Liege und eine Kniebank sowie einige Bücher, vor allem verschiedene Bibeln. Die Dachkapelle ist für meinen Lebensrhythmus wohl einer der wichtigsten Orte. Hier lasse ich mich nieder, nehme die Bibel in meine Hände, die ich wie eine Schale halte. Mit diesem Ritual mache ich mir bewusst, dass ich lebendiges Wasser trinke, wenn ich in der Bibel oder anderen Weisheitsschriften, wie dem „Tao Te King“ von Laotse lese. Ich tauche ein in die Gebetsgegenwart und erst danach gehe ich an die Werkbank.

Wenn ich tagsüber irgendwie nervös werde, durch Sorgen, Überforderung, Ängste oder Stress, ist es das Allerwichtigste für mich, mich zu unterbrechen. Für fünf oder zehn Minuten gehe ich dann wieder in die Dachkapelle, an diesen Platz der Stille; das wirkt Wunder und es ist kaum zu glauben, wie wenig Zeit an diesem Ort ausreicht. Wichtig bei all dem ist, dass ich mich unterbreche. Würde ich ohne Unterbrechung an der Werkbank weiterarbeiten, würde ich, das zeigt mir die Erfahrung, die Dinge, die ich mache, nicht gut machen. Wenn die Seele signalisiert, dass es nicht mehr geht, ist es wichtig, dem nachzugeben und mich zu unterbrechen. Beim Tagesrhythmus ist es wie in der Musik. Die Unterbrechungen, die Pausen, sind das Wichtigste.

Wie meinen Sie das mit den Pausen genau?

In den Pausen atmet die Musik. Die Musik lebt von diesem Luftholen. Jede Art von Musik, ob nun klassische Musik, Blues oder auch improvisierte Musik will etwas erzählen. So eine Erzählung braucht Betonungen, Akzente und Pausen. In den Pausen wird Luft geholt, der Zuhörer kann das Gehörte aufnehmen, bevor das nächste gesagt wird. Wenn die Musik pausenlos wäre, dann wäre sie nichts als ein Quasseln und Plappern. Wenn wir in unserem Leben keinen Rhythmus haben, keine Pausen, kein Luftholen, dann ist unser Leben ein nichtssagendes Quasseln und Plappern. Man merkt einem Leben (wie auch der Musik an), ob es aus der Stille, aus dem Atmen, aus dem Luftholen kommt.

Martin Schleske an der Werkbank
Martin Schleske an der Werkbank

Wie sieht das Luftholen ganz praktisch bei Ihnen aus?

Vor einer Weile bin ich in der Bibel, in den Sprüchen Salomos (5,15) auf ein wichtiges Wort gestoßen. „Trinke Wasser aus deiner Quelle und was quillt aus deinem Brunnen.“Das ist eine Mahnung, die eigenen Quellen zu kennen, aus denen ich schöpfe. Ich muss wissen, wo ich mich stärken kann. Es gibt wohl mindestens sieben solcher Quellen (*), die jeweils wieder ihre „Unterquellen“ haben. Ich persönlich kenne meine Quellen, aus denen ich Kraft schöpfen kann. Die Quellen, die mich Luft holen lassen, sind die Natur, das Gebet und die Weisheitsliteratur.

Wenn ich im Tagesverlauf merke, jetzt brauche ich körperliche Bewegung, dann gehe ich raus, das ist dann wichtiger als alles andere. Die Dinge, die ich tue, bekommen eine andere Qualität, wenn ich Acht gebe, wie es mir geht. Ich lebe dann im Rhythmus zwischen Innenraum, der Werkstatt, und Außenraum, dem Gang in die Natur. Ich brauche dieses Atmen im Wald, der Duft des Waldes, das ist eine Urkraft. Vor einer Weile war ich wegen einer Konzertlesung drei Tage in Dortmund, in einem Hotel in der Innenstadt. Danach war ich am Ende. Mich kann man mit einer Woche Stadt an den Rand meiner seelischen Kraft bringen. Ich brauche einfach Bäume.

Um im Rhythmus zu leben, muss ich wissen: wo (oder wann) erneuere ich mich und wo (oder wann) verausgabe ich mich? Neben dem Verausgaben, sich einer Aufgabe mit Herzblut hinzugeben, muss es Zeiten der Erneuerung geben. Beides ist wichtig, der Rhythmus zwischen beidem ist wichtig. Es muss nicht heißen: „Sei immer entspannt!“, das finde ich ein ziemlich blödes Motto, dieses Diktat, ständig entspannt zu sein. Wir dürfen uns verausgaben, hingeben, aber wir sollen auch wissen, wann es Zeit ist, zu unterbrechen und aus unseren Kraftquellen zu schöpfen.

Kann ein (Lebens)Rhythmus auch erstarren und Leben hemmen, statt es zu fördern?

Es ist wichtig, zwischen Ritus und Routine zu unterscheiden. Wenn die Kraftquellen, von denen ich eben sprach, zur Routine werden, dann versiegen sie. Wenn ein Ritus, ein Rhythmus uns stärkt, lebendig ist, ist er nicht zur Routine geworden, auch wenn er ständig wiederkehrt. Wir sollten uns da immer mal wieder prüfen. Im Grunde merkt man es an der Freude der Seele. Wenn ich in den Wald gehe oder mich oben in die Dachkapelle setze und dabei ein tiefe wohlige Freude spüre, ist der Ritus „lebendig“ und ich merke: ja, hierher kommt meine Kraft. Der Seele fehlt etwas, wenn sie keine Rituale hat. Es ist wichtig, sich Rituale in guten Zeiten zu schaffen und nicht erst dann, wenn man sie dringend braucht.

Inwieweit braucht die Kreativität den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Verausgabung und Erneuerung, den Tagesrhythmus, die Pausen, das Luftholen?

Die wirklich wichtigen Dinge können nicht gemacht, erzwungen werden, sie können nur empfangen werden. Meine Aufgabe ist es, mich empfänglich zu machen. Unter Druck oder krampfhaft geht das nicht. Ich öffne mich, ich schaue, was geschieht, wenn die Muße zu kurz kommt, bin ich auch nicht empfänglich.

Auf einer Reise nach Cambridge zu einem Symposium letztens habe ich mir den Luxus gegönnt, etwas Luft in meinem Zeitplan zu lassen. Ich war drei Stunden zu früh da. Nicht auf den letzten Drücker zu kommen, war das Allerschönste. Einfach durch die Stadt zu gehen und zu schauen, es musste nicht nützlich sein, einfach nur da sein .. .

Muße ist etwas, das in unserer Lebenswelt heutzutage kaum noch zu finden ist. Wenn etwas Zeit für Muße da wäre, wenn Menschen einmal Zeit hätten zwischendurch, füllen sie diese Zeit sofort wieder. Im öffentlichen Raum sieht man heute kaum noch Menschen, die einfach nur dasitzen und schauen. Kaum jemand ist einfach nur da, schaut und spürt, was gerade um ihn herum ist. Stattdessen schauen die Menschen auf ihr Handy, verschicken Nachrichten, machen Fotos oder lesen. Zeit vertreiben, Zeit zerstreuen, Lücken füllen – das ist keine Erholung und das Gegenteil von Rhythmus. Wenn die Menschen nur noch auf ihren Bildschirm schauen, sind sie gar nicht mehr in der Gegenwart. Das macht mir Sorge und letztlich ist es auch ein geistliches Thema. Der Name Gottes „JHWH“ („Ich bin, der ich bin“ oder „Ich bin da“) hat im Hebräischen die gleiche Wurzel wie das Wort „Gegenwart“. Gott ist Gegenwart. Und wenn ich dieses „Jetzt“ nicht erlebe, weil ich es ständig zerstreue, durch Handy, durch Lesen, durch irgendetwas, dann bin ich gar nicht da. Dann bringe ich mich um die Möglichkeit der Gottesgegenwart, ich bringe mich um das echte Leben.

Martin Schleske spielt Geige
Martin Schleske an der Geige

Kürzlich lief bei „Arte“ die Dokumentation „Die Seele der Geige“. Der Film begleitet zwei Männer auf der Suche nach dem perfekten Klang: den Geiger Frank Peter Zimmermann (der die Stradivari „Lady Inchiquin“ als „seine“ Stimme entdeckt hat) und Sie, Herr Schleske. In diesem Film sagen Sie, eine neue Geige brauche drei Monate um „aufgeweckt“ zu werden. Hat auch eine Geige einen Lebensrhythmus?

Wenn eine Geige neu ist, muss sie erst einmal lernen zu schwingen. Die Holzfasern im Instrument haben nie geschwungen, die Schwingungsbäuche haben sich noch nicht ausgebildet, das dauert etwa drei Monate. Eine Geige muss außerdem täglich aufgeweckt werden. Wenn man ein Spitzeninstrument morgens aus dem Kasten nimmt, braucht es ungefähr 20 Minuten bis es eingespielt ist. Die Tonleiter- und Fingerübungen macht man nicht nur für sich selber, sondern auch für die Geige. Die Holzfasern müssen sich wieder einschwingen. Physikalisch lässt sich das durch das frei bewegliche, nicht gebundene Wasser (die Holzfeuchte liegt bei etwa 8 Prozent) erklären. Die freien Wassermoleküle wandern durch die Schwingung, werden gleichsam einmassiert ins Holz, das Instrument „warm“ gespielt, aber nicht im Sinne von Temperatur, sondern im Sinne von Klang. Nach diesen 20 Minuten klingt die Geige anders, sie klingt frei. Eine Geige, die 10 Jahre nicht gespielt wurde, braucht Monate bis sie wieder klingt.

(*) Die sieben Kraftquellen, von denen Martin Schleske spricht, sind:

1.) Gebetsquellen (z. B. Kontemplation, Lobpreis, hörendes Beten, Stille);

2.) Weisheitsquellen (z. B. die Vertiefung in die Weisheit der Bibel);

3.) Kreativität (z. B. Musik, Tanz, Malerei);

4.) Gemeinschaft (Dialog, Austausch, Freundschaft)

5.) Körperlichkeit (Bewegung, Zärtlichkeit)

6.) Schöpfung (Natur, Begegnung mit der Lebenskraft, die uns umgibt)

7.) Ritus (Rituale, Regelmäßigkeit, Rhythmus, Balance zwischen Arbeit und Feiern, Berufung und Sammlung, Aufgabe und Ruhe etc.)

Literatur/Quellen:

M. Schleske: „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“, Kösel Verlag, München 2010

M. Schleske: „Herztöne – Lauschen auf den Klang des Lebens“, adeo Verlag, Asslar 2016

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