Gendermedizin: Warum Krankheiten bei Frauen oft spät erkannt und falsch behandelt werden

Wir wissen zu wenig über den Frauenkörper und vertrauen Frauen zu wenig. Die geschlechtsspezifische Medizin will das ändern. Ein Überblick

vom Recherche-Kollektiv Der andere Körper:
10 Minuten
Ein Mann und eine Frau stehen jeweils vor einer Leiter. Die Leiter des Mannes hat normale Sprossen, auf der Leiter der Frau sind große Lücken zwischen den einzelnen Sprossen.

Als Martina H. im März 2017 die Schmerzambulanz verlässt, ist sie erleichtert. Die Höllenschmerzen, die sie seit acht Monaten quälen, sind zwar noch da, und sie werden nicht so bald verschwinden. Martina H. weiß auch noch immer nicht ganz sicher, woher sie kommen. Aber die Ärztin in der Ambulanz hat immerhin einen Verdacht. Sie kam darauf, weil sie ihr zugehört hat, sie ernstgenommen hat. In den Monaten davor hat H. oft das Gegenteil erlebt.

Mindestens zehn Ärzten und Ärztinnen hat die damals 40-Jährige in dieser Zeit von ihren Beschwerden erzählt: dass ihre Beine seit Sommer 2016 ständig schmerzen; dass Schmerzmittel nicht helfen; dass sie nur mit winzigen Schritten gehen kann, weil die Beine so krampfen; dass sie kaum noch schläft, weil selbst die Berührung der Bettdecke Schmerzen auslöst. Sie habe immer dazugesagt, dass sie kurz vor Beginn der Beschwerden eine Gürtelrose hatte.

Im September 2019 sitzt Martina H. in Leggings und Langarmshirt in ihrem Wohnzimmer in einem Wiener Außenbezirk. Vor ihr liegt eine Mappe voll mit Ambulanzkarten und Laborbefunden. Martina H. macht es sich auf ihrem Stuhl bequem und erzählt, was sie bei ihrer Suche nach Hilfe von der Ärzteschaft zu hören bekam.

„Sie schauen doch eh gut aus.“ „Warum wollen Sie Fahrrad fahren? Sie sind eh schlank.“ „In Ihrem Alter sind Frauenkörper einfach nicht mehr so belastbar.“ „Mir schlafen auch die Beine ein, wenn ich lange in derselben Position sitze.“ „Werden Sie doch nicht gleich hysterisch.“

Die Ärztin in der Schmerzambulanz, die sie ernstnahm und schließlich herausfand, was mit ihren Beinen nicht stimmte, habe ihr das Leben gerettet, sagt Martina H. „Ich habe damals schon überlegt, wenn ich nicht herausfinde, wie ich mit dem Schmerz umgehen kann“, sie zögert, bevor sie weiterspricht, „bringe ich mich um.“

Das Problem ist systemisch

Martina H.s Krankheitsverlauf war eher untypisch. Aber dass schon leichte Berührungen Schmerzen auslösten, dass die Schmerzmittel nicht halfen, die vorangegangene Gürtelrose: Das hätte all die Fachleute – die Hausärztin, die Orthopäden, die Rheumatologinnen, die Neurologen – durchaus auf die richtige Spur bringen können. Hätten die Mediziner ihr aufmerksamer zugehört, ihren Aussagen mehr vertraut, sie hätten Martina H.s Qualen vermutlich abkürzen können.

Aber es soll hier nicht darum gehen, einzelne Ärztinnen anzuklagen. Denn das Problem liegt nicht nur bei ihnen. Es liegt in einem Gesundheitssystem, in dem Frauen weltweit Medikamente einnehmen, die nur an Männern getestet wurden, und in dem Geschlechterklischees dazu führen, dass Schmerzen von Frauen oft nicht ernstgenommen, ihre Krankheiten nicht erkannt werden. Das Problem zieht sich durch alle Ebenen der Medizin, von der Forschung an Zellkulturen über klinische Studien bis hin zu Lehrbüchern. Es betrifft sowohl das biologische Geschlecht als auch das soziale, und es schadet Frauen – und manchmal Männern – auf der ganzen Welt.

Trust Gap und Knowledge Gap

Es ist möglich, dass die Odyssee eines Martin H. genauso lang gedauert hätte wie die von Martina H. Vielleicht hätten die Ärzte auch einem Martin erklärt, dass er doch gut aussehe und Männerkörper mit 40 eben nicht mehr so belastbar seien. Es ist auch nicht auszuschließen, dass auch einem Martin gesagt worden wäre, er solle „nicht hysterisch werden“. Aber viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass so etwas Frauen öfter passiert als Männern.

Die US-Journalistin Maya Dusenbery hat für ihr 2018 erschienenes Buch „Doing Harm“ mit Ärzten und betroffenen Frauen gesprochen und Dutzende Studien gewälzt. Sie definiert darin zwei „Lücken“, die Frauen immens schaden: den „Knowledge Gap“, die Wissenslücke, und den „Trust Gap“, die Vertrauenslücke.

Die Wissenslücke bedeutet: Wir wissen viel weniger über Frauen- als über Männerkörper. Nicht weil der Frauenkörper so viel komplizierter wäre, sondern weil er weniger erforscht wurde.

Nach dem Skandal um das Beruhigungsmittel Contergan, das in den 1950 er-Jahren zu Fehlbildungen bei Tausenden Neugeborenen führte, verschärfte die für Medikamentenzulassungen zuständige US-Behörde FDA die Regeln für Arzneimitteltests. Sie wollte verhindern, dass durch Tests an schwangeren Frauen Ungeborene geschädigt würden. Aber statt etwa vorzuschreiben, dass Frauen vor einer Teilnahme nach einer möglichen Schwangerschaft gefragt und über die Risiken aufgeklärt werden, schloss die FDA Frauen im gebärfähigen Alter komplett von klinischen Studien aus. Die Ironie: Gegen einen Fall wie Contergan hätte ein solches Verbot gar nicht geholfen, denn die betroffenen Frauen nahmen Contergan nicht im Zuge einer Studie, sondern nach seiner Zulassung. In den nächsten Jahrzehnten wurde es dennoch zur Regel, Medikamente an Männern zu testen und sie dann Frauen zu verabreichen. Bis heute machen Frauen nur einen kleinen Teil der Versuchspersonen in medizinischen Studien aus.

Geforscht wurde nur an Männern

Dusenbery beschreibt bizarre Auswüchse, zum Beispiel eine Studie von 1986 zum Einfluss von Übergewicht auf Brust- und Gebärmutterkrebs, die ohne eine einzige weibliche Teilnehmerin auskam. Und nicht nur Frauen werden in der medizinischen Forschung oft übergangen, sondern auch weibliche Mäuse und Ratten und sogar weibliche Zellen in der Petrischale.

Einerseits wurde argumentiert, Studien an Frauen oder weiblichen Tieren seien aufwendiger, weil man bei der Auswertung ihren Hormonzyklus berücksichtigen muss. Andererseits – und in einem gewissem Widerspruch dazu – ging man davon aus, dass Frauenkörper, von den Fortpflanzungsorganen abgesehen, einfach nur kleinere Männerkörper seien und an Männern gewonnene Erkenntnisse daher 1:1 auch für Frauen gälten.

„Atypische“ Symptome führen zu Fehldiagnosen

Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld und der niederländischen Radboud-Universität, zuvor hat sie am 2003 gegründeten Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité geforscht, dem ersten solchen Institut im deutschsprachigen Raum. Fragt man sie, warum die Medizin erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten begann, auf die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkörpern zu achten, antwortet sie trocken: „Weil erst mal Frauen sterben mussten.“ Der Erkenntnisprozess begann in der Kardiologie. „Bis Ende der 1990 er-Jahre dachte man, junge Frauen können keine Herzinfarkte haben“, sagt Oertelt-Prigione. „Dann sah man: Doch, sie haben Herzinfarkte, und sie sterben öfter daran als Männer.“

Es zeigte sich, dass Herzinfarkte bei Frauen später erkannt werden, weil sie öfter „atypische“ Symptome haben als Männer und seltener die klassischen in den Arm ausstrahlenden Brustschmerzen; und es zeigte sich auch, dass viele Medikamente bei Frauen mehr Nebenwirkungen haben, entweder weil ihre Wirkstoffe unterschiedlich abgebaut werden oder weil sie für Frauen schlicht zu hoch dosiert sind. Eine Studie aus dem Jahr 2000 untersuchte die Krankengeschichten von Menschen mit akuten Herzdurchblutungsstörungen. 2, 2 Prozent von ihnen waren in der Notaufnahme falsch diagnostiziert und nach Hause geschickt worden – bei Frauen unter 55 lag die Rate drei Mal so hoch.

Von „Frauenkrankheiten“ und „Männerkrankheiten“

Bei anderen Erkrankungen zeigen sich ebenfalls Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Asthma etwa, sagt Oertelt-Prigione, werde bei Mädchen später diagnostiziert als bei Buben, weil sie seltener die pfeifenden Laute beim Atmen von sich gäben, sondern oft nur einen trockenen Husten hätten. Die Rheuma-Erkrankung Morbus Bechterew galt lange als Männerkrankheit – heute vermuten manche Experten, dass sie bei beiden Geschlechtern gleich häufig auftritt, bei Frauen aber oft unerkannt blieb. Bei ihnen verläuft die charakteristische Versteifung der Wirbelsäule langsamer, dafür haben sie häufiger Entzündungen in den Knie- oder Hüftgelenken.

Umgekehrt sei die Situation bei Autoimmunerkrankungen, etwa bei Lupus erythematodes, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Davon sind tatsächlich mehr Frauen betroffen, aber Männer werden auch seltener und später diagnostiziert, weil sie oft keine roten Backen haben und ihre Finger nicht auf Kälte reagieren.“ Das sei doppelt problematisch, weil Autoimmunerkrankungen bei Männern meist schneller voranschritten als bei Frauen. Auch Osteoporose werde bei Männern oft nicht erkannt, dabei betreffe sie immerhin jeden dritten Mann über 70. Bei solchen Fehldiagnosen spielen neben „atypischen“ Symptomen auch die Bilder eine Rolle, die Ärztinnen und Ärzte aus dem Medizinstudium mitnehmen, sagt Oertelt-Prigione: „Autoimmunerkrankungen oder Osteoporose hat in den Lehrbüchern fast immer eine Frau, einen Herzinfarkt ein Mann.“

Maya Dusenbery nennt dieses Problem den „knowledge-mediated bias“, eine „Wissensverzerrung“: Das Bewusstsein, dass eine bestimmte Krankheit bei einem Geschlecht häufiger vorkommt, könne sich so weit verselbstständigen, dass die Krankheit beim anderen Geschlecht gar nicht mehr erkannt werde. Dusenbery schildert etwa den Fall einer Frau, die unter der „Männerkrankheit“ Cluster-Kopfschmerz litt und der von Neurologen erklärt wurde, die Symptome, die sie beschreibe, könne sie gar nicht haben.

Wir trauen Frauen weniger als Männern

Die Wissenschaft macht mittlerweile Fortschritte, auch wenn manche Kollegen geschlechterspezifische Forschung immer noch für „Quatsch“ halten. Es ist allerdings nicht damit getan, Frauen an Studien teilnehmen zu lassen. Die Forscher:innen müssten ihre Daten auch auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin auswerten. Das aber geschehe bis heute eher selten, sagt Alexandra Kautzky-Willer von der Medizinischen Universität Wien; von Auswertungen, die zwischen Frauen vor und nach der Menopause unterscheiden, ganz zu schweigen.

Kautzky-Willer ist Leiterin der Abteilung für Endokrinologie an der MedUni, seit 2010 die österreichweit erste Professorin für Gendermedizin und derzeit Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Gendermedizin. Sie hat zum Beispiel erforscht, wie Diabetesmedikamente mit Krebserkrankungen zusammenhängen und welche Unterschiede es dabei zwischen den Geschlechtern gibt. Österreich stehe in Hinblick auf die gendermedizinische Forschung und Lehre im internationalen Vergleich ganz gut da, sagt sie. Neben der MedUni Wien hat auch die Medizinische Universität Innsbruck heute einen Lehrstuhl für Gendermedizin. An beiden Unis sei das Thema in den Lehrplänen fix verankert, „auch Linz, die Donau-Uni Krems und mittlerweile auch die Paracelsus-Privatuniversität in Salzburg bemühen sich, es aufzugreifen“.

Neben dem biologischen Geschlecht spielt in der Medizin auch das soziale Geschlecht eine Rolle. Hier wirkt sich aus, was Autorin Dusenbery den „Trust Gap“ nennt, die Vertrauenslücke: Wir trauen Frauen weniger als Männern, wenn sie von ihren Beschwerden berichten. In einer Online-Umfrage unter 2400 Frauen mit Fibromyalgie, Migräne und anderen chronischen Schmerzen 2014 gaben 45 Prozent der Befragten an, mindestens einmal von einem Arzt gehört zu haben, sie bildeten sich ihre Schmerzen nur ein, und mehr als der Hälfte war gesagt worden: „Sie sehen gut aus, es muss Ihnen besser gehen.“ Für eine Anfang 2019 veröffentlichte Studie der Universität Yale zeigten Forscher 264 Erwachsenen ein Video, in dem jemand einem kleinen Kind über den Finger Blut abnimmt. Einer Hälfte wurde das Kind als Samuel präsentiert, der anderen als Samantha. Die Versuchspersonen, besonders die Frauen unter ihnen, stuften „Samuels“ Schmerzen als stärker ein als „Samanthas“.

Eine Frau, die weint, ist wehleidig – eine, die nicht weint, ist nicht krank

Die Vertrauenslücke ist es, die auch Martina H. zu schaffen machte. „Die meisten Ärzte haben mich behandelt wie eine Hochstaplerin“, sagt sie. In der Schmerzambulanz wurde bei ihr schließlich eine Post-Zoster-Neuralgie diagnostiziert, ein Nervenschmerz, der als Folge einer Gürtelrose auftreten kann. Es ist eine Krankheit, die man nicht auf Röntgenbildern oder in Blutwerten erkennt. Man diagnostiziert sie, indem man bestimmte Medikamente, bei Martina H. waren es Anti-Epileptika, verschreibt – helfen die, ist die Diagnose bestätigt. Um überhaupt so weit zu kommen, muss ein Arzt dem Patienten allerdings glauben, dass seine Schmerzen real sind, auch wenn sie sich nicht in Laborbefunden widerspiegeln. Daran scheiterte Martina H.: „Es gab nur meine Aussage, und die war nichts wert.“ Das Geschlecht der Behandelnden habe bei all dem genauso wenig eine Rolle gespielt wie die Frage, ob es ein Kassen- oder ein Wahlarzt war. Gerade Aussagen zu ihrem Äußeren seien meist von Frauen gekommen.

Irgendwann begann H., ihren Freund zu Arztterminen mitzunehmen – und war verblüfft, welchen Unterschied das machte. „Ich sage, dass ich Schmerzen habe, es kommt eine blöde Meldung zurück“, erzählt sie. „Dann wiederholt mein Freund, was ich gesagt habe, und die Ärztin sagt: Aha, ja, verstehe.“

Das verbreitete Stereotyp, dass Männer Schmerzen gern ignorieren, Frauen aber emotional reagieren und schnell zum Arzt laufen, führt Frauen in eine klassische Zwickmühle: Schildert eine Frau ihre Beschwerden emotional, weint sie gar, wird sie als Heulsuse abgestempelt. Bleibt sie ruhig und sachlich, können ihre Schmerzen nicht so schlimm sein, sonst würde sie ja weinen.

„Haben Sie mal über Psychotherapie nachgedacht?“

Sigrid Pilz hatte als Wiener Patientenanwältin zehn Jahre lang täglich mit Beschwerden aus dem Gesundheitsbereich zu tun. „Dass jemand konkret sagt, ich bin als Frau diskriminiert worden, kommt selten vor“, berichtet Pilz. „Dass man den Eindruck hat, man wurde nicht ernstgenommen oder dass Schmerzen als psychosomatisch abgetan werden, das trifft aber eher Frauen.“ So wie bei jener Patientin, deren angeblich psychisch bedingte Beschwerden sich als schwerwiegende Folgen einer Operation entpuppten.

Auch Martina H.s Schmerzen schoben viele Ärztinnen auf ihre Psyche. Als sie nach Monaten des Leidens zu verzweifeln begann, erzählt sie, habe sie immer öfter gehört: „Sie wirken so gestresst, so angespannt, das ist bestimmt psychosomatisch.“ Man hört ihr noch heute den Ärger an, wenn sie diese Gespräche wiedergibt: „Haben Sie schon mal über eine Psychotherapie nachgedacht? Sie wollen so viel vom Leben! Vielleicht überfordern Sie sich.“

Das Wissen, dass Frauen häufiger unter Depressionen leiden als Männer, führt dazu, dass bei ihnen gern alle möglichen körperlichen Symptome auf die Psyche geschoben werden. Bei Männern hingegen bleiben Depressionen oft unerkannt – das dürfte ein Grund dafür sein, dass sie viel öfter als Frauen Suizid begehen.

Martina H. erinnert sich noch daran, wie die Sonne durch die Fenster im Treppenhaus schien, als sie im Frühling 2017 das erste Mal wieder von ihrer Wohnung im dritten Stock ins Erdgeschoß hinunterging, ohne sich am Geländer festzuhalten, ohne nach jedem Treppenabsatz eine Pause zu machen, ohne Schmerzen. Eineinhalb weitere Jahre sollte es dauern, bis sie ihre Medikamente absetzen konnte. Eine Anfälligkeit für Schmerzen und Krämpfe in den Beinen ist auch fünf Jahre später noch da.

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