„Community Immunity“ würde Umgang mit Infektionen grundsätzlich ändern
Aktivieren Warnreize kranker Mitmenschen unbewusst die eigene Immunabwehr?
Die Forscherinnen Lena Pernas vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln und Sophie Steculorum (Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung in Köln) wollen in einem Gemeinschaftsprojekt herausfinden, ob es so etwas wie eine „Community Immunity“, eine „Gemeinschaftsimmunität“ gibt: Kann ein Kranker einen gesunden Menschen durch die Signale, die er aussendet, etwa über den Geruch oder das Aussehen, widerstandsfähiger gegen einen Infekt machen?
Während der Corona-Pandemie wurde viel über den Begriff „Herdenimmunität“ diskutiert. Das Robert-Koch-Institut findet hierfür den Begriff „Gemeinschaftsschutz“ passender: „Wenn einzelne, nicht immune Individuen in einer Gemeinschaft (“Herde„) durch die Immunität der anderen Individuen in der gleichen Gemeinschaft indirekt geschützt sind“, lautet die RKI-Definition. Die „Community Immunity“, von der Lena Pernas und Sophie Steculorum sprechen, ist ein bisher nicht beachteter, aber womöglich wichtiger Nebenpfad des Phänomens der Herdenimmunität. Ich habe mich mit den beiden über die besonderen Herausforderungen aber auch Chancen ihres ungewöhnlichen Forschungsprojektes unterhalten.
Was genau verbirgt sich hinter eurem Projekt?
Sophie Steculorum: Wir wollen herausfinden, ob sich die einzelnen Individuen einer Gemeinschaft gegenseitig vor Krankheitserregern schützen können. Sind Säugetiere, also auch Menschen, in der Lage, Signale, von kranken Artgenossen wahrzunehmen, so dass sie schließlich selber besser mit dem Infekt klarkommen, sollten sie sich anstecken. Oder andersherum: Kann ein infizierter Mensch einen gesunden Menschen durch die Signale, die er aussendet, widerstandsfähiger gegen den Infekt machen?
Lena Pernas: Von Pflanzen weiß man, dass sie sich innerhalb einer Gemeinschaft gegenseitig schützen. Wenn zum Beispiel ein Baum mit einem Krankheitserreger infiziert ist, kann er Substanzen freisetzen, die die Immunabwehr der Bäume in der Nähe aktivieren. Ob es so einen Effekt auch bei Säugern gibt, ist bisher komplett unerforscht.
Wie seid ihr persönlich auf dieses Forschungsthema gekommen?
Sophie: Das hat viel mit unserem jeweiligen wissenschaftlichen Hintergrund zu tun. Ich bin von Haus aus Neurobiologin. In meinem Labor am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung interessieren wir uns dafür, auf welche Weise das Gehirn den Stoffwechsel kontrolliert. Welchen Einfluss dafür haben zum Beispiel Reize aus der Umgebung, also etwa das, was wir riechen oder sehen, während wir essen?
Lena:Mein Hintergrund ist die Mikrobiologie. Klassischerweise untersucht man, auf welche Weise Mikroorganismen Prozesse innerhalb ihrer Wirte manipulieren, inklusive des Stoffwechsels. Wir schauen bei unserer Forschung am MPI für Biologie des Alterns aus der umgekehrten Perspektive: Wie verändert der Wirt einzelne Stoffwechselprozesse, um sich gegen einen Erreger zu wehren?
Was hat das mit eurem Projekt zu tun?
Lena: Das Gehirn, der Stoffwechsel und die Immunabwehr beeinflussen sich auf vielen Ebenen gegenseitig. Unser Gehirn verarbeitet permanent all das, was wir über unsere Sinne wahrnehmen. Mit unserem Projekt versuchen wir das alles zusammenzubringen: Können Sinnesreize, die wir von unserem kranken Nachbarn bekommen und im Gehirn verarbeiten, auf unsere Immunabwehr einwirken?
Sophie: Lena und ich haben viel diskutiert und uns gefragt, ob es solche „unausgesprochenen Warnungen“, die wir von Pflanzen her kennen, möglicherweise auch beim Menschen gibt? Könnten visuelle Reize – ich sehe, dass jemand krank ist, weil ihm die Nase läuft – meine Immunabwehr aktivieren? Wie sieht es aus mit akustischen Signalen, Geschmack, Geruch?
Lena: Schon Hippokrates wusste: Wenn du krank bist, riechst du anders.
Sophie: Tatsächlich ist der Geruch als Diagnose-Kriterium in der Medizin gerade ein neu aufkommendes, spannendes Thema. Hunde riechen beispielsweise, ob eine Person von einer bestimmten Erkrankung betroffen ist. Bisher hat sich aber keiner mit der Frage beschäftigt, was dieser veränderte Geruch bei den Mitmenschen auslöst.
Auf der Verhaltensebene geschieht aber schon etwas?!
Lena: Ja klar, wenn wir eine Person sehen, die offensichtlich krank ist, versuchen wir uns zu schützen, indem wir zum Beispiel Abstand halten. Was uns interessiert, ist die unbewusste Reaktion. Wie reagiert unser Körper, genauer unsere Immunabwehr darauf, wenn jemand in unserer Umgebung krank ist.
Wie wollt ihr das herausfinden?
Sophie: Unser Modell ist die Maus. Wir werden einen Teil der Tiere mit dem Parasiten Toxoplasma gondii infizieren und dann gesunde und kranke Mäuse zusammenbringen. Wie reagieren die gesunden Mäuse auf ihre kranken Artgenossen? Und vor allem, was verändert sich auf immunologischer Ebene bei den gesunden Mäusen?
Wie verhindert ihr, dass sich die gesunden Mäuse anstecken, wenn sie mit den kranken Mäusen zusammenkommen?
Lena: Unsere Testinfektion ist die Toxoplasmose. Die Mäuse können sich untereinander nicht mit diesem Parasiten anstecken. Der Infektionsweg läuft in der Regel über rohes Fleisch, das mit den infektiösen Entwicklungsstadien des einzelligen Parasiten belastet ist. Die Toxoplasmose ist auch eine Infektionskrankheit des Menschen. Etwa 60 Prozent der Bundesbürger sind mit Toxoplasmen infiziert.
Wie wollt ihr herausfinden, welches Signal der kranken Tiere mögliche Prozesse bei den anderen Mäusen anstößt?
Lena: Wenn wir Veränderungen bei den gesunden Mäusen sehen, wollen wir hinter den genauen Mechanismus kommen: Auf welche Signale reagieren die Tiere? Welche Regionen des Gehirns sind beteiligt? Wir werden alle Sinne testen, um zu verstehen, wie das passiert.
Sopie: Sehen, riechen, schmecken sie etwas, das ihr eigenes Immunsystem schließlich aktiviert? Passiert der gleiche Effekt zum Beispiel, wenn die Tiere sich nicht sehen oder sich nicht riechen können?
Was werden jetzt die nächsten Schritte sein?
Sophie: Wir planen gerade die ersten Experimente mit den Mäusen und manövrieren uns aktuell durch all die Auflagen und Anträge, die dafür notwendig sind. In den nächsten Wochen sollen die Versuche starten.
Lena: Schon in der ersten Phase könnten sich Dinge zeigen, mit denen wir jetzt noch gar nicht rechnen. Wir werden sicher innerhalb der nächsten drei Jahre eine solide Antwort auf die Frage bekommen, ob es eine „Community Immunity“ tatsächlich gibt. Welche Faktoren im Einzelnen diesen Mechanismus antreiben, wie die Immunabwehr dann genau aktiviert wird – das herauszubekommen, wird eine wesentlich längere Zeit dauern.
Was sagen eure Kolleginnen, eure Kollegen zu eurem Projekt?
Lena: Aus meiner Community bekomme ich zwei Arten von Antworten. Die erste: „Das klingt so offensichtlich. Bist du sicher, dass das bisher noch keiner ausprobiert hat?“ Die zweite: „Das ist verrückt. Nein, das wird sicher nicht funktionieren!“
Sophie: Bei meinen Leuten ist es ähnlich. Für manche ist der Grundgedanke völlig naheliegend. Mäuse wie Menschen senden und empfangen als soziale Tiere – über ihr Verhalten oder die verschiedenen Sinne – permanent gegenseitig Informationen. Wenn sich ein Tier anders verhält oder andere Signale aussendet, wird das logischerweise Veränderungen im Organismus der Artgenossen in der Nähe auslösen. Andere halten die Idee eher für ein wenig bizarr. Es ist ein Projekt, mit dem wir ein hohes Risiko eingehen. Das wissen wir.
Lena: Wir werden zwar von unseren jeweiligen Instituten optimal unterstützt. Aber ohne die Förderung der Volkswagenstiftung hätten wir dieses Projekt nicht starten können. Es gibt einfach noch keine Daten zum Thema und es ist schwierig einen Förderer zu finden für etwas, das so vollkommen „out of the box“ ist.
Was wäre das optimale Ziel eurer Forschung?
Lena: Das beste Resultat wäre, wenn wir bei den Mäusen und schließlich auch beim Menschen eine „Community Immunity“ finden würden. So ein Ergebnis würde unser Denken über Infektion und Immunität vollkommen verändern und auch die Art und Weise, wie wir mit Infektionen umgehen. Vielleicht wird es eines Tages ausreichen, mein Immunsystem für den Tag zu stärken, wenn ich Duftstoffe, die von einer kranken Person stammen, einatme oder mir auf meiner Handy-App fünf Minuten am Morgen eine schniefende Person anschaue.
Dieser Text erschien in leicht veränderter Form bereits auf dem Online-Portal der Volkswagenstiftung.