Kälte, Konkurrenten, Kämpfe – Wie Klima und Einwanderer die Vorzeit Europas prägen

Menschen erobern Europa erst spät und sie haben es auf diesem Erdteil nicht leicht. Das schwankende, oft lebensfeindliche Klima der Eiszeiten verhindert lange, dass sie sich hier dauerhaft ansiedeln können, und immer wieder überrollen neue Einwanderungswellen die bereits Ansässigen. Eine Spurensuche nach den Ureinwohnern unseres Kontinents.

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Die Illustration zeigt eine baumlose Steppenlandschaft mit drei auf den Zuschauer zuschreitenden Jägern und Sammlern in Fellkleidung, die auf dem Rücken Gepäck (einer von ihnen einen Mammutzahn) tragen und Speere in den Händen halten.

Im November 2023 erscheint in der Fachzeitschrift „Quaternary Science Reviews“ ein Bericht, dessen Fazit uns heutigen Menschen schockierend erscheint. William Marsh und Silvia Bello vom Natural History Museum in London hatten Informationen von 59 Fundstätten aus dem eiszeitlichen Europa zusammengetragen und anhand der gefundenen menschlichen Überreste das Bestattungsverhalten der damaligen Jäger und Sammler rekonstruiert. In 13 Fällen entdeckten sie an den Relikten seltsame Spuren: Schnittmarken an den Knochen, gebrochene Gebeine oder solche mit menschlichen Bissspuren. Und sogenannte „skull-caps“ (Schädelbecher) – aufgebrochene Hirnschädel, die offenbar zu einer Art Gefäß umgearbeitet worden waren.

Ein gruseliges Totenritual

Für Silvia Bello lassen die Befunde nur einen Schluss zu: „Statt sie zu begraben, haben die Menschen ihre Verstorbenen gegessen“. Laut der Studie von Bello und Marsh belegen die Spuren eindeutig ein kannibalistisches Totenritual, das die Steinzeitleute damals praktizieren. Alle Gräber mit Indizien für die gruselig anmutende Bestattungsform stammen aus der Zeit vor 18.000 bis 14.000 Jahren. In jener Epoche herrscht von Südwesteuropa bis ins östliche Mitteleuropa eine hoch entwickelte Kultur, die zum Beispiel die wunderbaren Felszeichnungen von Bisons, Hirschen und Wildpferden in der Höhle von Altamira im heutigen Spanien hervorbringt. Stilisierte Frauenfiguren, Tierstatuetten aus Elfenbein oder reich dekorierte Speerschleudern sowie fein gearbeitete Werkzeuge aus Stein, Knochen und Geweih gehören ebenfalls dazu. Die Epoche wird heute Magdalénien genannt und gilt als Blütezeit der eiszeitlichen Kunst und Kultur.

Das Foto zeigt vor schwarzem Hintergrund die oberen Teile zweier Hirnschädel, von der Seite gesehen. Ihre Ränder lassen Bruchspuren erkennen, die auf eine Bearbeitung hinweisen.
An Begräbnisstätten des Magdalénien vor 18.000 bis 14.000 Jahren wurden diese seltsam zugerichteten Schädeldecken – so genannte „skull-caps“ – gefunden. Mitarbeitende des Natural History Museums in London halten sie für Zeichen eines kannibalistischen Totenkults

Umso seltsamer erscheinen die Hinweise, dass Tote verspeist worden seien. Aber haben die damaligen Menschen das Fleisch der Verstorbenen wirklich gegessen und wenn ja, weshalb? Ein weiteres Rätsel schließt sich an: Vor 14.000 Jahren verschwindet das kannibalistische Ritual; die Körper der Toten werden nun in der Erde begraben und auch die sonstigen kulturellen Relikte – etwa die Steinwerkzeuge und Kunstobjekte – wandeln sich. Entwickeln sich die Jäger und Sammler des Magdalénien weiter und übernehmen die neue Kultur vielleicht von benachbarten Völkern? Bringen Zuwanderer die Neuerungen mit und vermischen sich mit ihnen? Oder werden die Alteingesessenen gar von eingewanderten Fremden verdrängt, ja ausgerottet?

Wurden die Menschen des Magdalénien ausgelöscht?

Es wäre nicht das erste Mal im urgeschichtlichen Europa, dass eine Menschenpopulation durch neu eindringende Gruppen ausgelöscht und ersetzt wird. Denn die Geschichte unseres Kontinents ist geprägt durch ein wildes Kommen und Gehen: Eine Vielzahl unterschiedlicher Menschenformen und –gruppen taucht im Lauf der Jahrhunderttausende auf und verschwindet wieder. Wenn man es ganz weit fasst – so wie es etwa die Paläoklimatologin Madelaine Böhme von der Universität Tübingen tut –, dann beginnt diese Geschichte womöglich bereits vor zwölf Millionen Jahren.

Eine Hand in weißem Stoffhandschuh hält zwischen Daumen und Zeigefinger ein dunkelbraunes, rundes Knochenstück. Daneben weitere, längliche Knochenteile in gleicher Farbe.
War das der erste Europäer? Die Paläoklimatologin Madelaine Böhme und ihr Team entdeckten im Allgäu die zwölf Millionen Jahre alten Relikte eines aufrecht gehenden Menschenaffen und glauben, er könne unser aller Vorfahr gewesen sein
Das Foto zeigt mehrere einfache Steingeräte, teils rötlich, teils gelblich oder grau gefärbt.
Diese recht primitiv wirkenden Steingeräte wurden in Korolevo im Westen der Ukraine gefunden. Sie sind 1,4 Millionen Jahre alt, ermittelte ein Team unter Leitung der Tschechischen Akademie der Wissenschaften – und damit die ältesten Zeugnisse für die Anwesenheit von Menschen in Europa
Das Foto zeigt vor verschwommenem hellblauem Hintergrund einen muskulösen Mann mit freiem Oberkörper, Bart, zerfurchtem Gesicht und mächtiger Nase, der sich auf einen Holzspeer stützt
Die Neandertaler - hier eine Rekonstruktion des Neanderthal Museums in Mettmann - entwickelten sich in Europa, trotzten der größten Kälte und waren hier rund 200.000 Jahre lang zu Hause
Auf dem linken Foto ist das graue Gemäuer einer alten Burg zu sehen, die auf einem Felsen steht, in den eine Höhle hinein führt. Das rechte Bild zeigt vor schwarzem Hintergrund zwei hellgraue Steinspitzen, die wie Blätter geformt sind.
Ein sensationeller Fund verbarg sich in Ilsenhöhle unter der Burg Ranis (links) in Thüringen: 45.000 Jahre alte Knochen sowie filigrane, beidseitig bearbeitete Steinspitzen (rechts) eines sehr frühen Homo sapiens in Europa
Das Foto zeigt vor schwarzem Hintergrund zwei gelblich-braune menschliche Schädel, die nahezu komplett sind; lediglich ein Teil der Zähne fehlt. Der linke Schädel ist etwas zur Seite gedreht, der rechte direkt auf den Betrachter gerichtet
Diese beiden Schädel sind 14.000 Jahre alt und wurden in Oberkassel gefunden. Die Analyse ihres Erbguts zeigt: Sie gehörten Menschen, die nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit aus dem Süden eingewandert sind
Die Grafik zeigt eine Karte Europas, in die kleine Vierecke, Dreiecke und waagerechte Balken in jeweils blauer oder roter Farbe eingezeichnet sind. Die Symbole stehen jeweils für einen Fundort und die Farben weisen auf die Bestattungsform – Erdbestattung oder Kannibalimus – sowie die genetische Herkunft hin.
Im Europa der Eiszeit vor 18.000 bis 14.000 Jahren bestatten die Angehörigen der Magdalénien-Kultur ihre Toten mit kannibalistischen Ritualen (Cannibalism, rote Rechtecke). Und sie zeigen ähnliche Gene (Genetic ancestry, rote Balken), sind also miteinander verwandt. Am Ende dieser Epoche wandelt sich das Bild: Nun werden die kompletten Körper von Verstorbenen begraben (Primary Burial, blaue Dreiecke). Und das Erbgut weist jetzt auf eine andere Herkunft hin (Genetic ancestry, blaue Balken). Offenbar ist eine neue Gruppe eingewandert und hat die alten Bewohner verdrängt
Das Foto zeigt fünf hellbraune, kompakt gebaute Pferde mit dunkelbraunen kurzen, dichten Mähnen. Sie stehen in einer Grasebene, vorne grün, weiter hinten braun, in der Ferne zeichnen sich Hügel ab. Die beiden äußeren Pferde grasen, die drei in der Mitte schauen nach rechts.
Vor 5000 Jahren bringen Steppenvölker der Jamnaja-Kultur aus dem Osten domestizierte Pferde und das Rad nach Europa. Die hier gezeigten Przewalski-Pferde, auch Mongolische Wildpferde genannt, sind gut an Wüsten und Steppen angepasst – ob sie allerdings etwas mit den ersten domestizierten Pferden zu tun haben, ist umstritten
Eine Karte Europas, Nordafrikas und der heutigen Türkei, die die historische Lage in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung darstellt. Eingezeichnet sind eine Vielzahl von Pfeilen und Jahreszahlen, die die Bewegungen unterschiedlicher Menschengruppen in jener Zeit veranschaulichen.
Ausgelöst durch den Einfall von Hunnen aus dem asiatischen Raum, machen sich während der „Völkerwanderung“ in den Jahren 375 bis 568 n. Chr. zahllose Menschen auf die Suche nach neuen Lebensräumen
Das Gemälde einer grausamen Schlacht, in der Kämpfer auf Pferden einander mit Schwertern und Degen attackieren. Im Zentrum ein braunes Pferd, das sich aufbäumt und von dessen Rücken ein tödlich getroffener, in einen weißen Mantel gehüllter Mann stürzt.
Während des 30-jährigen Kriegs – hier dargestellt der Tod des schwedischen Königs Gustav II. Adolf während der Schlacht bei Lützen im Jahr 1632 – sterben Schätzungen zufolge 20 bis 45 Prozent aller Menschen. Zudem lösen Gewalt, Hunger und umherziehende Armeen zahllose Migrationen von Menschen in jener Epoche aus
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