Wollen wir das wirklich? Manifest einer neuen Systembiologie
Datenmedizin, Molekularbiologie und KI machen vielen Menschen Angst. Zu Unrecht: Statt einer Dystopie werden sie uns ein Leben in Gesundheit bringen.
Der modernen Systembiologie wird oft vorgeworfen, es ginge ihr um eine fast schon „messianische“ Optimierung des Menschen. Zudem verharmlose sie die Gefahren des Datenmissbrauchs. Ich nehme diese Vorwürfe ernst und erlaube mir, mit diesem Buchauszug aus „Die Vermessung des Lebens“, der durchaus als Manifest zu verstehen ist, zu antworten.
Wollen wir das wirklich?
„Vitalität und Leben werden durch Beziehungen gemacht. Sie entstehen durch Beziehungen, die Beziehungen aufbauen, die Beziehungen aufbauen und so weiter.“ Diese Worte stammen von Nora Bateson, der Filmemacherin und Autorin, die sich ihr Leben lang mit der Systemtheorie des berühmten Vaters Gregory Bateson beschäftigte und seine Ideen schon während der Kindheit am kalifornische Esalen Institute verinnerlichte. Der wichtigste Aspekt von Gesundheit – egal ob sie den Körper, die Familie oder die Gemeinschaft betreffe – sei nicht die Gesundheit der Individuen, „es sind die Beziehungen dazwischen“.
Bateson schaut auf die Menschen und ihre Gesundheit genauso wie Systembiolog*innen auf Organismen. Sie sucht verborgene Muster in der unerhörten Komplexität des gigantischen Beziehungsgeflechts zwischen den Menschen – so wie die Systembiolog*innen mit Hilfe ihrer Algorithmen nach direkten und indirekten Abhängigkeiten der Messgrößen voneinander fahnden.
Ihre Sicht des Lebens bestätige sich besonders deutlich in der Corona-Pandemie, schreibt Bateson: „Die meisten von uns sind es nicht gewohnt, die Gesundheit anderer als ihre eigene Gesundheit zu begreifen.“ Wer zu Lasten anderer immer nur an den eigenen Nutzen denkt, indem er beispielsweise viel zu früh Lockerungen der pandemiebedingten Beschränkungen fordert, gefährdet nicht nur die Gesundheit anderer, er schadet auch der eigenen. Wer, ohne zur Risikogruppe zu gehören, zum Schutz vor SARS-CoV-2 überflüssige Kontakte meidet, eine Mund-Nasen-Schutzmaske trägt und sich merkt, wem er oder sie begegnet, mag in erster Linie für das Gemeinwohl handeln – schützt damit letztlich aber auch die eigene Vitalität.
„Meine Gesundheit ist nicht mein Eigentum. Sie gehört der Gemeinschaft, sie gehört älteren Menschen, Jugendlichen und sogar den Mikrobiomen, die in meinem Körper oder einfach nur im Erdreich leben“, so Bateson. Diese Thesen sind radikal systemisch – und sie sind zutiefst systembiologisch.
Naheliegend also, dass die Göttinger Physikerin und Systembiologin Viola Priesemann sich im Mai 2020 in der ARD-Talkshow von Anne Will aus dem gleichen Grund zu einem emotionsgeladenen Satz hinreißen lässt: „Jede Neuinfektion, die wir verhindern, ist ein Mensch weniger, der das Virus in die Heime tragen kann.“ Sie sagt das zu jener Zeit, als weite Teile der Gesellschaft auf Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen drängen und viele Politiker*innen diesen Forderungen vergleichsweise früh nachgeben.
Die Modelle von Priesemann und Kolleg*innen empfehlen ein höheres Maß an Vorsicht. Damit gelänge es besser, besonders gefährdete Menschen beispielsweise in Seniorenheimen, vor einer Ansteckung zu bewahren. Wie berechtigt ihre Warnung ist, zeigt sich in dem erneuten exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen im folgenden Herbst.
Gesundheit als systemisches Beziehungsgeflecht
Dieses Beispiel unterstreicht, ähnlich wie die AIR Louisville-Studie mit den Asthmatiker*innen aus Kentucky, wieso es so wichtig ist, Gesundheit als systemisches Beziehungsgeflecht zwischen uns, unseren Mitmenschen und der ganzen Umwelt zu betrachten. Es verdeutlicht aber auch, dass die vielen Kritiker*innen irren, die wie der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer der digitalen Medizin und letztlich der Systembiologie eine „Ideologie des messianischen Solutionismus“ unterstellen, die unsere Lebenswelt „kolonialisieren“ wolle.
Welzer irrt, wenn er mahnt, das endlose Sammeln und Auswerten von Daten mache uns abhängig und unfrei. Er schreibt: „Inzwischen ist man bei einer Weltsicht angelangt, wo es statt um politische Fragen der Gestaltung nur noch um ‚Optimierung‘ von irgendwas geht — mithin um die Vorstellung, dass alles — von Institutionen bis zu menschlichen Körpern und Gehirnen — defizitär sei und daher ‚verbessert‘ gehöre.“
Aber die vielen Beispiele in diesem Buch belegen, es ist genau andersherum: Die Systembiologie wird uns freier machen. Diese Freiheit ist die direkte Folge des Erkenntnisgewinns. Sie wird uns allen erlauben, so zu sein, wie wir es uns wünschen. Es wird Aufgabe der Politik sein, diesen Freiraum zu gestalten und für die angemessenen ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu sorgen.
Die Gesellschaft muss gemeinsam dafür sorgen, dass die individuellen Ziele gemeinnützig sein werden, dass sie nicht zu Lasten Dritter gehen. Wir alle müssen Verantwortung übernehmen, denn unsere Macht wird in gleichem Maße steigen wie unsere Freiheit.
Organismen optimieren sich nämlich nicht. Sie passen sich an. Heute existierende biologische Systeme sind im Laufe der Evolution über fast vier Milliarden Jahre hinweg entstanden. Sie haben sich in dieser Zeit immer wieder verändert, neue Lebensräume erobert, Spitzenleistungen erreicht und wieder verloren. Und sie sind vor allem immer stabiler geworden. Dabei half ihnen die Darwin‘sche Evolution, die ihnen eine zunehmende Zahl an immer komplexeren Sinnesorganen, Nervensystemen und Genregulationswerkzeugen schenkte.
Diese produzieren übrigens auch Daten. Sehr viele Daten sogar. Es sind Signale im Nervensystem, Duftstoffspuren in der Luft, durch die Gewebe diffundierende Wachstumsboten, an Genschalter andockende Transkriptionsfaktoren, epigenetische Modulatoren und sehr vieles mehr. Alle diese Lebens-Daten haben Empfänger. Sie werden verrechnet – nur nicht von Computern, sondern von lebendigen Zellen und Zellverbänden. Ihr Gespräch dient der Koordination des gigantischen systemischen Netzwerks, das Leben heißt. Ohne ihre eigene Art von Datenverarbeitung wäre die Natur und mit ihr der Mensch noch nicht allzu weit gekommen.
Wie alle anderen Lebewesen auch, sind wir Menschen tatsächlich das Resultat eines „Solutionismus“, eines besonders ausgefeilten sogar. Aber dieser Solutionismus ist nicht „messianisch“, er ist natürlich. Und er engt uns auch nicht ein, er macht uns nicht abhängig, er beraubt uns keiner Freiheiten. Im Gegenteil: Die Fähigkeit zur Anpassung befreit uns von der Abhängigkeit von äußeren Umständen. Sie ist die eigentliche Triebfeder der Evolution und damit des Lebens. Sie ist unsere Gesundheit.
Evolution mit technischen Hilfsmitteln fortschreiben
Wenn nun also die Systembiologie beginnt, die Evolution mit technischen Hilfsmitteln fortzuschreiben, dann ist das zutiefst natürlich. Leistungssportler mögen das System tatsächlich zur Optimierung und Verbesserung nutzen. Normalen Menschen hilft es bei der Anpassung: Es hilft ihrer Gesundheit. Es hilft ihnen, das Leben zu führen, das sie sich wünschen. Es macht sie frei.
Wir sollten also nicht die Datenerfassung an sich verteufeln, auch nicht die Deep-Learning-Algorithmen, die das Datenchaos in klare Zeichnungen übersetzen. Fortschritt ist gut. Und er war schon seit der Steinzeit darauf ausgerichtet, uns Problemlösungen und zunehmende Stabilität zu schenken.
Ja, wir sollten all unsere Kraft investieren, um zu verhindern, dass die Daten in die falschen Hände geraten, dass Regierungen sie missbrauchen, wie es derzeit zum Beispiel in China passiert, oder dass sie Großkonzernen wie Apple, Google oder Facebook bei der bloßen Geldvermehrung helfen, damit ihre Aktionär*innen noch höhere Dividenden erhalten. Wir sollten aufpassen, dass auch nicht unsere Krankenkassen, andere Versicherungen oder die Arbeitgeber*innen unkontrolliert und gegen unsere Interessen an sensible Daten gelangen. Anders als wir haben diese Institutionen tatsächlich ein reales Interesse daran, uns zu optimieren.
Aber: Wir wollen und können mit Hilfe der Systembiologie das biologischste Ziel überhaupt erreichen – einfach nur gesund sein.
Digitaler Zwilling liefert Rückkopplung
Ein digitaler Zwilling macht nichts anderes als der Temperaturrezeptor in der Fingerspitze, der uns meldet, dass die Herdplatte, die wir gerade berühren, definitiv zu heiß ist. Der digitale Zwilling liefert uns eine Rückkopplung, er schließt den Regelkreis. Er macht dies lediglich in solchen Bereichen, für die die Evolution noch keine biologischen Lösungen gefunden hat. Er hebt die Evolution auf eine neue Ebene.
Übrigens berauben uns die Algorithmen auch nicht unseres persönlichen Willens: Zumindest solange uns keine politische oder „höhere“ Macht davon abhält, können wir uns jederzeit über die Vorgaben der Computer hinwegsetzen. Oder wir passen einfach unsere Zielvorgaben an, mit denen die systembiologischen Gesundheitshelfer justiert werden. Probieren Sie es bitte nicht aus, aber: Wenn Sie es sich fest vornehmen, können Sie Ihre Hand länger auf die heiße Herdplatte legen, als es Ihnen gut tut.
Der große Philosoph Walter Benjamin schrieb einmal, die eigentliche „Katastrophe sei, „daß es ‚so weiter‘ geht“. Sie sei „nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene“. Und dann folgt ein wunderbarer Satz: „Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“
Unsere Rettung heißt Veränderung. Unsere Gesundheit heißt Anpassung. Unsere Freiheit heißt, auch mal nichts zu tun. Stillstand und ewige Wiederkehr des immer Gleichen sind die Katastrophe. Sie bedeuten Krankheit und letztlich Tod. Veränderung und Anpassung bedeuten aber noch lange nicht Wachstum. Sie sind auch keine Optimierung oder Verbesserung. Sie sind der Benjamin‘sche „kleine Sprung“. Sie erfordern die permanente Fähigkeit, bei neuen Herausforderungen neue Zielvorgaben zu definieren und neue Programme abzurufen.
Die Lösung kann immer auch sein, sich neue Aufgaben zu suchen. Eine Spitzensportler*in ist ziemlich aufgeschmissen, wenn ihre Disziplin aus dem Wettkampfplan genommen wird. Breitensportler*innen satteln einfach um.
Ja, wir wollen…
Wir können die Frage danach, ob wir den Weg der Systembiologie wirklich wollen, also getrost mit „ja“ beantworten. (Und ich weiß, dass das jetzt ziemlich messianisch klingt:) Ja, wir wollen das Ende der Medizin, wie wir sie heute kennen. Ja, wir wollen den Anfang eines Lebens in Gesundheit. Ja, wir wollen, dass uns dabei die Systembiologie hilft. Ja, wir wollen dafür ganz viele unserer Daten sammeln und an die richtigen Leute weitergeben. Ja, wir wollen zumindest hin und wieder auf unseren digitalen Zwilling hören.
Das Buch
Peter Spork: Die Vermessung des Lebens. Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen, 328 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2021, 24,00 EUR [D], 24,70 EUR [A], ISBN: 978 3 421 04850 9.