Zwölf Mythen über das Mikrobiom
Die Mikrobiom-Forschung boomt. Doch allerhand Falschinformationen kursieren. Und plakative Vereinfachungen wie etwa „Dick durch falsche Darmflora“ schaden letztlich dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Forschung.
Mikroorganismen besiedeln den menschlichen Körper in großer Zahl und beeinflussen die Gesundheit maßgeblich. Die Erforschung des Mikrobioms und seine Bedeutung für diverse Krankheitsbilder ist aktuell eines der spannendsten Wissenschaftsfelder überhaupt. Die Zahl der Fachpublikationen hat dementsprechend in den letzten 20 Jahren exponentiell zugenommen. Allein zwischen August 2022 und August 2023 erschienen laut der Datenbank Pubmed knapp 27.000 Artikel, in denen das Wort „microbiome“ auftaucht.
Das große öffentliche und auch wirtschaftliche Interesse am Thema hat auch Nachteile. Bisweilen hat man beim Blick auf Veröffentlichungen und Pressemitteilungen den Eindruck, nahezu jede Erkrankung stehe in einem Zusammenhang mit dem Mikrobiom. Und man müsse nur die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft verändern und eine Erkrankung sei geheilt oder könne gar nicht erst entstehen.
Der regelrechte Hype um das Thema habe dazu geführt, dass zahlreiche Falschinformationen und ungesicherte Erkenntnisse kursierten, kritisieren jetzt die beiden Mikrobiom-ForscherInnen Alan Walker von der University of Aberdeen und Lesley Hoyles, Nottingham Trent Universityim Journal Nature Microbiology.
In ihrem Fachartikel listen sie insgesamt zwölf Mythen über das Mikrobiom auf – die einen scheinbar trivial, die anderen bedeutsamer. Doch die Summe zeigt deutlich: Fehlinformationen sind in der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Literatur weit verbreitet.
Mythos 1: „Die Mikrobiom-Forschung ist ein neues Wissensgebiet“
Keine Frage, aktuell werden Riesensummen in die Mikrobiom-Forschung investiert. Doch das Feld befindet sich keinesfalls noch in den Kinderschuhen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigen sich mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert mit den Mikroben, die auf engstem Raum zusammen mit – und in – dem Menschen leben. Der Kinderarzt und Bakteriologe Theodor Escherich (1857 bis 1911) beispielsweise isolierte das Darmbakterium „Bacterium coli commune“ aus dem Darminhalt von Neugeborenen und Säuglingen und berichtete darüber erstmals im Jahr 1885. Das später nach ihm benannte Bakterium Escherichia coli ist inzwischen eines der am besten erforschten einzelligen Lebewesen überhaupt und „das“ Arbeitspferd in molekularbiologischen Laboren.
Der Zoologe Ilja Metschnikow (1845 bis 1916) spekulierte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts über die Bedeutung nützlicher Darmbewohner, wie etwa Bifidobakterien. Ihm wird der Satz zugeschrieben: „Die lange Lebenserwartung einiger Ethnien ist die Folge einer Balance zwischen pathogenen und nicht pathogenen Darmbakterien – durch den Konsum fermentierter Milch mit darin lebenden Mikroorganismen.“
Konzepte wie die „Darm-Hirn-Achse“ und die Effekte der Stoffwechselprodukte von Darmbakterien – wie etwa kurzkettige Fettsäuren – auf die Gesundheit, würden bereits seit mehreren Jahrzehnten diskutiert, schreiben Hoyles und Walker.
Mythos 2: „Der Nobelpreisträger Joshua Lederberg hat den Begriff ‚Mikrobiom‘ geprägt“
Der Molekularbiologe Joshua Lederberg (1925 – 2008) hat den Begriff „Mikrobiom“ zwar 2001 genutzt, doch er war keineswegs der Erste. Die US-amerikanische Medizinerin Susan Prescott hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und kommt zum Schluss, dass die Begriffe „Mikrobiom“ oder „Mikrobiota“ bereits in den 1960er Jahren in der wissenschaftlichen Literatur auftauchten.
Ist es eine Lappalie, wenn stattdessen in Hunderten Veröffentlichungen Joshua Lederberg als Namensgeber auftaucht? Keinesfalls, meint Prescott: „Wenn einem Forscher etwas fehlerhaft zugeschrieben wird, insbesondere ein Begriff oder ein Zitat, bleibt die Person oder Personengruppe, die tatsächliche Quelle, im wissenschaftlichen Schatten.“
Wer im wissenschaftlichen Schatten steht, wird nicht wahrgenommen. Prescott nennt als Beispiel die – ihrer Ansicht nach „bahnbrechende“ – Studie der Forscherinnen Linda Hegstrand und Roberta Jean Hine aus dem Jahr 1986, die zeigten, dass Mikroorganismen im Darm die Gehirnchemie beeinflussen. Doch die Studie wird in aktuellen Arbeiten über die Darm-Hirn-Achse so gut wie nicht zitiert. Der Grund? Womöglich hielt es kaum jemand für möglich, dass bereits in den 1980er Jahren wichtige Forschungen in dem Bereich liefen, weil es das Mikrobiom ja offiziell erst seit Anfang der 2000er gab.
Mythos 3: „Eine Billion Bakterien in einem Gramm Kot“
Darmbakterien helfen unter anderem dabei, Nahrungsmittel zu verdauen. Abgestorbene und lebende Bakterien gelangen mit dem Kot in den Enddarm und verlassen den Körper. In diesem Zusammenhang wird häufig geschrieben, ein Gramm Kot enthalte eine Billion Bakterien. Doch die Zahl ist falsch. Eine wirkliche Quelle dafür lässt sich auch nicht finden. Verschiedene Methoden belegen dagegen eine Menge, die etwa ein bis zwei Zehnerpotenzen niedriger liegt. Bakterien machen rund die Hälfte der unlöslichen Bestandteile des Kots aus. In einem Gramm davon finden sich zehn bis hundert Milliarden, was natürlich auch nicht wenig ist.
Mythos 4: „Das humane Mikrobiom wiegt ein bis zwei Kilogramm“
Diese Zahl ist deutlich zu hoch angesetzt. In Wirklichkeit wiege das Mikrobiom weniger als 500 Gramm, manchmal sogar deutlich weniger, schreiben die beiden britischen Mikrobiologen.
Mythos 5: „Auf eine Körperzelle kommen zehn Bakterienzellen“
Diese Zahl hält sich in zahlreichen Publikationen hartnäckig, doch auch sie ist falsch und viel zu hoch gegriffen. Das Verhältnis liegt nicht bei 10 zu 1, sondern eher bei 1 zu 1 – inklusive individueller Unterschiede. Der Körper eines durchschnittlichen, 20 bis 30 Jahre alten Mannes (70 Kilogramm schwer, 1, 70 Meter groß) besteht aus rund 30 Billionen Körperzellen und 38 Billionen Bakterienzellen, rechnen Ron Sender, Shai Fuchs und Ron Milo vom israelischen Weizmann Institute of Science vor. Die meisten Bakterien halten sich im Dickdarm auf (100 Milliarden Bakterien je Milliliter), gefolgt vom Zahnbelag, Dünndarm, Speichel, Haut, Magen und Zwölffingerdarm (bei letzteren 1000 bis 10.000 Bakterien je Milliliter).
Mythos 6: „Das Mikrobiom wird bei der Geburt von der Mutter vererbt“
Tatsächlich gelangen Bakterien bei der Geburt von der Mutter auf das Kind. Doch die wenigsten Mitglieder der Mikroben-Community eines Menschen stammen tatsächlich von der Mutter. Nach der Geburt wächst die Vielfalt der Bakterien dramatisch, besonders nach dem Abstillen. Jeder Erwachsene hat sein eigenes, individuelles Mikrobiom; selbst zwischen eineiigen Zwillingen gibt es große Unterschiede. Vermutlich beeinflussen Faktoren wie Ernährung, Alter und Genetik, aber auch der Zufall, das Geschlecht und der Gebrauch von Antibiotika oder anderer Medikamente die Zusammensetzung des Mikrobioms.
Mythos 7: „Die meisten Krankheiten sind durch ein typisches Pathobiom gekennzeichnet“
Die Idee, eine schädliche Interaktion zwischen Mensch und Bakterien-Community löse eine Erkrankung aus, sei viel zu einfach und der Begriff des „Pathobiom“ von Natur aus fehlerhaft, schreiben Hoyles und Walker. Mikroorganismen seien niemals „gut“ oder „schlecht“, sie existierten einfach.
Welche Wirkungen bestimmte Bakterien zum Beispiel auf den Menschen haben, hängt stark von der Situation ab. Das Darmbakterium E. coli mag im Darm harmlos sein. Gerät es dagegen in die Harnröhre, kann es eine schmerzhafte Entzündung auslösen. Ein anderes Beispiel: Ein Mensch trägt jahrzehntelang Bakterien der Art Clostridium diffizile mit sich herum, ohne etwas davon zu bemerken. Doch im fortgeschrittenen Alter schwächelt die Immunabwehr und der Keim kann sich vermehren. Die Folge ist Durchfall.
Immer wieder sind Versuche unternommen worden, einer bestimmten Krankheit oder dem Fortschreiten einer Erkrankung ein bestimmtes Bakterien-Profil zuzuordnen. Diskutiert werden solche Zusammenhänge zum Beispiel für die Alzheimer-Erkrankung, den Diabetes, starkes Übergewicht, Parkinson oder auch Asthma und Krebs. Die Studienlage gebe solche definitiven Zusammenhänge bislang nicht her, schreiben die beiden Mikrobiologen. Diese Art der Korrelationen seien zudem stark fehleranfällig, weil viele andere Faktoren das Mikrobiom wesentlich beeinflussten.
Mythos 8: „Das Verhältnis zweier Bakterien-Stämme ist bei Adipositas verändert“
Bisher gebe es keine Bakterien-Signatur, die für Fettleibigkeit typisch sei, so Hoyles und Walker. Oft liest man in diesem Zusammenhang, das Verhältnis zwischen den Bakterienstämmen der „Firmicuten“ und dem der „Bacteroidetes“ sei verändert. Das schlägt sich dann in Überschriften wie dieser nieder: „Dick durch falsche Darmflora?“ Bacteroidetes seien die Schlank-, Firmicuten die Dickmacher. Beides sind Vereinfachungen, die dem komplexen Geschehen im Verdauungstrakt nicht gerecht werden.
Vergleiche auf der Ebene von Bakterienstämmen seien zudem viel zu ungenau, kritisieren Walker und Hoyles. So gehören Menschen, Vögel, Fische und Reptilien allesamt zum Stamm der Chordatiere. Wie man unschwer erkennen kann, handelt es sich dabei jedoch um verschiedenste Lebewesen mit völlig unterschiedlichen Körperfunktionen. Ähnliches gilt auch für die Vertreter innerhalb der Stämme der Firmicuten und Bacteroidetes.
Mythos 9: „Die Fähigkeiten der einzelnen Darmbewohner überschneiden sich, das Darmmikrobiom ist funktionell redundant“
Einige Dinge, wie etwa die Produktion kurzkettiger Fettsäuren „können“ viele verschiedene Bakterienarten. Es gibt aber auch Schlüsselfunktionen, die nur von bestimmten Arten erledigt und nicht unbedingt von allen möglichen anderen übernommen werden können. Dazu zählen etwa der Abbau von Oxalat – dem Salz der Oxalsäure – oder resistenter Stärke (Ballaststoff, der erst im Dickdarm von den Bakterien unter Sauerstoffabschluss abgebaut wird). Beide Prozesse können nur von gewissen Spezialisten erledigt werden. Fehlen diese im Mikrobiom, fehlt die Funktion komplett.
Mythos 10: „Sequenzierungen liefern stets objektive, reproduzierbare Ergebnisse“
Heutzutage isolieren Forschende die DNA aus Mikrobiomproben, analysieren sie und schließen daraus auf die Zusammensetzung der Mikroben-Community. Keine Frage, die extrem schnellen und genauen Sequenzierungsmethoden haben der Mikrobiom-Forschung enormen Aufwind gegeben. Dennoch haben auch diese Verfahren ihre Schwächen. Welche Basenabfolgen sie detektieren, welchen Bakterien sie tatsächlich in einer Probe auf die Schliche kommen, hängt auch davon ab, wie die Probe genommen, aufbewahrt und auf welche Weise die DNA daraus gewonnen wurde.
Mythos 11: „Wir brauchen standardisierte Methoden“
Um Studien miteinander vergleichen zu können, wird immer wieder der Ruf nach standardisierten Methoden laut. Doch keine Methode sei perfekt und welches tatsächlich die „beste“ Methode sei, hänge von der Fragestellung, der untersuchten Körperregion und der individuellen Mikrobiomprobe ab. Hoyles und Walker plädieren einerseits für die Nutzung vielfältiger Methoden und andererseits für mehr Transparenz über die Arbeitsweisen, die die jeweiligen Forschungsgruppen verwenden.
Mythos 12: „Die meisten Bakterien des Mikrobioms kann man nicht im Labor kultivieren“
Um Bakterien im Labor zu halten, zu kultivieren, braucht man eine passende Nährlösung, in der sie sich wohlfühlen und sich vermehren können. Die Bedingungen für ein optimales Wachstum herauszufinden, ist arbeits- und zeitintensiv. Dass so viele Bakterien des menschlichen Mikrobioms noch nicht kultiviert worden seien, läge eher daran, dass man es noch nicht versucht habe, als dass es gar nicht ginge, meinen die beiden britischen Mikrobiologen. Mikrobiomforschung ohne Bakterienkulturen sei undenkbar. Bakterien zu kultivieren und sie im Labor zu haben, sei Sequenzierungsmethoden in vielen Bereichen überlegen. Denn nur im Labor können die einzelnen Bakterien, ihre Eigenschaften und ihr Stoffwechsel untersucht werden.
Verfestigung von Fehlinformationen durch Wiederholungen
Lesley Hoyles und Alan Walker machen mit ihrer Arbeit auf ein Phänomen aufmerksam, das es natürlich nicht nur in der Mikrobiom-Forschung gibt. Wissenschaftskommunikation ist anfällig für Vereinfachungen, die die Fakten beziehungsweise den Wissensstand nicht immer korrekt und manchmal auch missverständlich weitergeben. Doch auch Forschende selbst tragen zur Verfestigung von Fehlinformationen bei, weil sie in ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Beispiel im erklärenden Einleitungsteil „Fakten“ aus anderen Publikationen übernehmen.
Der Wahrheitsgehalt dieser scheinbaren Fakten auch rund um das Mikrobiom wird natürlich nicht dadurch größer, indem man sie immer und immer wiederholt. Ganz im Gegenteil. Hartnäckige Fehlinformationen hemmen vielmehr den Forschungsfortschritt und können das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft auf längere Sicht schwächen. „Angesichts der potenziellen Bedeutung menschlicher Mikrobiome für die Gesundheit, ist es entscheidend, dass die Meldungen zum Thema tatsächlich auf Beweisen beruhen“, schreiben die beiden britischen Mikrobiologen.