Zu Besuch bei den Trojanern

Zum ersten Mal besucht eine Raumsonde die Trojaner-Asteroiden des Jupiters. Die Mission hat gleich sieben Ziele und ist vergleichsweise günstig. Und sie könnte ein großes Rätsel um die Entstehung der Planeten ergründen.

vom Recherche-Kollektiv Die Weltraumreporter:
7 Minuten
Grafik, die einen Teil von Jupiters Umlaufbahn um die Sonne als Straße visualisiert, auf der vor und nach dem Planeten wolkenartig die Trojaner voraus- und hintendrein fliegen.

Am 22. Februar 1906 erblickte der Heidelberger Astronom Max Wolf in einer fotografischen Aufnahme einen unscheinbaren Strich. Es handelte sich um einen extrem dunklen Asteroiden, der sich noch dazu auf einer merkwürdigen Umlaufbahn bewegte. Bis dahin hatten Forschende lediglich Asteroiden im Hauptgürtel hinter der Marsbahn gekannt. Der neue Körper aber kreiste beinahe auf der gleichen Bahn wie der Jupiter, lief auf dessen Bahn aber um sechzig Winkelgrad voraus. Wenige Jahre später erhielt der merkwürdige Körper den Namen Achilles. Es zeigte sich, dass es sich nur um den ersten einer gewaltigen Gruppe von Asteroiden handelte, die schließlich den Namen Trojaner erhielten. Am 16. Oktober nun startete die NASA-Mission Lucy, die erste Raumsonde, die gleich sechs der noch weitgehend unverstandenen Jupiter-Trojaner zum ersten Mal besuchen soll.

Am Pluto erprobt

Eigentlich kam die Entdeckung nicht ganz unerwartet: Schon ein Jahrhundert vor Max Wolfs Fund berechnete der italienische Mathematiker Joseph-Louis Lagrange, dass sich die Kräfte eines Planeten und der Sonne auf zwei Punkten seiner Umlaufbahn ausgleichen, die diesem Planeten jeweils 60 Grad vorauslaufen oder ihm auf der Bahn folgen. Schon Wolf erwartete deshalb viel mehr dieser Asteroiden – und hatte recht. Mehr als 10.500 Jupitertrojaner sind bis heute bekannt, Analysen deuten aber auf hunderttausende noch unentdeckte Objekte.

Sechs Trojaner und ein Anthropologe

Ihre Fähigkeiten soll Lucy zunächst bei Donaldjohanson unter Beweis stellen. Der nur vier Kilometer große Asteroid im Hauptgürtel ist der kleinste auf der Reise – und wurde erst vor wenigen Jahren nach dem Entdecker des Frühmenschen-Skeletts Lucy benannt, das wiederum Namensgeber der NASA-Mission ist. Dann geht es weiter zur ersten Gruppe der Trojaner, die vielleicht der Planetenforschung ähnliche Einblicke liefern wird wie das Skelett der Disziplin der Anthropologie: Im August 2027 soll Sonde Lucy zunächst am 64 Kilometer großen Eurybates vorbeifliegen. Er gehört zur einzigen bekannten Kollisionsfamilie unter den Trojanern, entstand also durch einen Zusammenstoß, der sich zurückverfolgen lässt. Mit dem Hubble-Teleskop entdeckte das Missionsteam zuletzt einen kaum einen Kilometer großen Mond, der sich möglicherweise auch während des Zusammenstoßes abspaltete.

Nur 34 Tage später folgt der wohl anspruchsvollste Vorbeiflug der Tour: Mit einem Durchmesser von 21 Kilometern ist Polymele nicht nur der kleinste der besuchten Trojaner, sondern auch ein besonders dunkler, der aus der Sicht der anfliegenden Sonde dazu nur flach von der Sonne beleuchtet wird. Spektroskopischen Messungen zufolge gehört Polymele zu den seltenen P-Typ-Asteroiden, die nie zuvor von Raumsonden besucht worden sind.

Einige Monate später, im April 2028, folgt dann ein weiterer Exot: Der 34 Kilometer große Leucus scheint sich extrem langsam um seine Achse zu drehen. Zumindest deutet die schwankende Helligkeit des Trojaners darauf hin, dass er der Sonne nur alle 447 Tagen die gleiche Seite zuwendet. Auch Leucus ist dazu extrem dunkel und dürfte nur schwer mittels optischer Navigation anzuvisieren sein.

Schematische Darstellung von Eurybates, der 60 mal kleiner ist.
Das Größenverhältnis von Trojaner-Asteroid Eurybates und seinem Mond Queta
Grafik zeigt die sieben Ziel-Asteroiden der Mission Lucy. Der kleinste passt dutzendfach in den größten unter ihnen.
Lucys Ziele: Sieben Trojaner und ein Asteroid des Hauptgürtels

Rücksturz zur Erde

Im Anschluss an die Begegnung folgt das größte Manöver der Triebwerke von Lucy, das vor allem die Bahnebene der Sonde massiv, um ganze 15 Grad, verändert. Denn die Trojaner kreisen in einer ausgedehnten Wolke um die Sonne und damit auch weit ober- und unterhalb der Ebene der Planetenbahnen. Hier wird die Sonde im November 2028 auf den 51 Kilometer großen Orus treffen, bevor eine lange und fast ereignislose Zwischenetappe folgt. Jetzt nämlich vollführt Lucy einen Rücksturz zur Erde, wo ein dritter Swing-by am Blauen Planeten ansteht. Das Manöver beschleunigt die Sonde auf eine über zweijährige Reise auf die andere Seite des Planetensystems, in die Gruppe der Trojaner am Lagrangepunkt L5.

Im März 2032 dann steht das Finale der Mission an. Lucy nähert sich nach einer Flugstrecke von insgesamt vier Milliarden Kilometern einem weiteren Trojaner-Paar. Patroclus und Menoetius gehören wie schon Polymele zum seltenen spektralen Typ P, sind mit jeweils über hundert Kilometern beinahe Zwillinge. Dazu kreisen sie wie ein Paar in die Luft geworfene Hanteln um einen gemeinsamen Masseschwerpunkt. Möglicherweise entstanden sie zusammen und wurden während eines Zusammenstoßes sanft voneinander getrennt, ohne völlig auseinanderzudriften.

Woher stammen die Trojaner?

Was die Forschenden mit Lucy verstehen wollen, ist eine kritische und dynamische Entwicklungsphase des Planetensystems. Bis vor wenigen Jahren hatten sie geglaubt, Planeten und Asteroiden seien auf ihren heutigen Bahnen aus einer Gas- und Staubscheibe um die junge Sonne entstanden. Seit einigen Jahren gilt dieses Lehrbuchwissen als veraltet: Forschende entdeckten zwei riesige Exoplaneten, also Planeten um weit entfernte Sterne. Diese Planeten umkreisten besonders junge Sterne in sehr geringem Abstand und auf instabilen Bahnen, viele noch innerhalb des Bahnabstands des Merkurs. Allein das deutete darauf hin, dass Planeten gelegentlich den Abstand von ihrem Stern verändern könnten – wofür es auch Indizien aus unserer eigenen Nachbarschaft gibt: Diverse Beobachtungen deuteten auf eine rasch zunehmende Zahl von einschlagenden Meteoriten vor rund vier Milliarden Jahren auf allen felsigen Oberflächen unseres Planetensystems. Im Jahr 2005 gelang es dann einer Gruppe von Astrophysikern um Alessandro Morbidelli vom Observatorium der Côte d'Azur und dem heutigen Lucy-Missionsleiter Hal Levison vom Southwest Research Institute in Boulder, Colorado, mit einem numerischen Modell die heutige Verteilung von Planeten und Asteroiden ganz anders zu erklären. Morbidellis Team errechnete, wie die Bahnen unserer Gasriesen Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun kurzzeitig instabil wurden, bevor sie durch gegenseitige Störkräfte nach außen wanderten. Es ist das sogenannte Nizza-Modell.

Wenn dieses zutrifft, dürften sich die Spuren dieser Planetenwanderung an den Trojanern ablesen lassen. Denn einmal auf den Lagrange-Punkten des Jupiters gefangen, sind die Orbits der Begleiter des Jupiters eigentlich sehr stabil. Erst als Jupiter mit dem zweitschwersten Planeten Saturn eine Resonanz entwickelte, das heißt als ihre Umlaufzeiten ein ganzzahliges Vielfaches zueinander erreichten, entfalteten sich die errechneten Störkräfte. In diesem Moment dürften besonders die kleineren Körper des Sonnensystems inklusive jener des fernen Kuipergürtels durchmischt worden sein und wurden erst danach in den heutigen Lagrangepunkten des Jupiters gefangen. Wenn diese Annahme stimmt, sollten die Trojaner reich an Eis und organischem Material sein, wie die Objekte des Kuipergürtels.

Lucy sucht nach Spuren des planetaren Chaos

Viele Grundannahmen des Nizza-Modells gelten heute als akzeptiert, allerdings schuf die Erklärung wandernder Riesenplaneten neue Probleme. Eines davon ist ausgerechnet die Existenz von Mars, Erde und den anderen kleinen Gesteinsplaneten, die durch wandernde Gasriesen eigentlich zerstört oder aus ihren Bahnen geworfen worden sein müssten, weshalb mittlerweile noch komplexere Modelle entwickelt wurden. Lucy kann die Grundannahme dieser Ideen jetzt prüfen: „Die Idee besteht darin, dass die Trojaner während dieser chaotischen Phase eingefangen wurden“, sagt die stellvertretende Missionsleiterin Cathy Olkin. Wenn die besuchten Trojaner sich stark voneinander unterscheiden, spricht das für eine frühe Chaosphase. Ähneln sie sich hingegen, könnten sie vielleicht doch vor Ort entstanden sein.

Grafik von Lucy, ein grauer Sondenkörper mit Parabolantenne und hervorstehender Instrumentenplattform. Gerade werden kreisförmige Solarzellen entfaltet.
NASA-Raumsonde Lucy

Mit irdischen Teleskopen lässt sich über die Trojaner nur wenig in Erfahrung bringen, doch wirken sie tatsächlich eher heterogen. Manche besitzen eine völlig konturlose Oberfläche. Die meisten sind sehr dunkel und auf einigen gibt es spektroskopische Hinweise auf Eis und organische Verbindungen. Vielleicht sind ihre Oberflächen aber auch durch die Effekte des Weltraums, durch Kollisionen, Aufheizung und Ausgasungen, derart umgestaltet worden, dass ihre wirkliche Beschaffenheit erst beim Vorbeiflug zu Tage tritt.

„Das wichtigste Kriterium bei unserer Auswahl war es, dass wir möglichst diverse Trojaner anfliegen“, sagt Cathy Olkin. Lucy ist somit eine Explorations-Mission, weil sie erstmals in eine bisher unbekannte Sphäre des Planetensystems vordringt. Wenn die Sonde die zwölf Jahre im All übersteht, besteht sogar Aussicht auf mehr: Die Forschenden planen, im Laufe der Mission nach weiteren Zielen am Lagrangepunkt L5 zu suchen.

Eine frühere Version dieses Textes ist auf Spektrum.de erschienen.

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