Wie Pinguine täglich elf Stunden schlafen, obwohl sie rund um die Uhr wachbleiben müssen

Schlaf ist lebenswichtig und alle Tiere müssen irgendwie schlafen. Selbst dann, wenn sie aufgrund extremer Umweltbelastungen immer aufmerksam bleiben sollten. Bei Zügelpinguinen entdeckten Forschende jetzt eine neue Strategie: Die Vögel machen mehr als 10.000 Kurznickerchen am Tag.

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Ein schwarz-weißer Pinguin breitet seine flossenartigen kurzen Flügel aus. Hinter ihm der tiefblaue Himmel. Das schöne Tier hat einen schwarzen Schädel, eine schwarzen Schnabel und schwarze Augen.

Egal ob Zugvögel, die nicht abstürzen dürfen, auf ihren Wanderungen, Meeressäugetiere, die regelmäßig zum Luftholen auftauchen müssen, oder brütende Vögel, die alleine sind und permanent ihr Nest bewachen müssen: All diese Tiere haben das gleiche Problem. Sie können nicht so schlafen, wie es die meisten Tiere und auch wir Menschen machen: Sie können nicht für eine längere Zeit ihr Wachbewusstsein komplett abschalten und für viele Minuten oder über mehrere Stunden hinweg die nötige Menge an Tiefschlaf bekommen.

Manche Tiere schlafen deshalb immer nur mit einer Hälfte des Gehirns zur gleichen Zeit. Die andere bleibt wach. Andere Tiere machen Mikroschlaf, das heißt sie nicken immer nur für eine oder wenige Sekunden ein und sind danach wieder voll bei Bewusstsein.

Weltrekord im Sekundenschlaf

Jetzt spürten Forschende neue Rekordhalter in dieser ganz speziellen Schlafdisziplin auf: die Zügelpinguine. Diese Vögel schlafen – wenn es sein muss – binnen 24 Stunden mehr als 10.000 Mal ein und haben extrem kurze Tiefschlafepisoden, während denen das Gehirn offenbar die wichtigsten für den Schlaf reservierten Aufgaben erledigen kann. Insgesamt bringen sie es so auf mehr als elf Stunden Tiefschlaf am Tag.

Hier ein Auszug aus der „Sporks Science News #105: 10.000 Nickerchen am Tag? Auch eine Lösung“, dem aktuellen Newsletter vonPeter Spork. Darin beschäftigt sich der Wissenschaftsautor und RiffReporter mit der am gleichen Tag erschienenen Studie zum Schlaf der Zügelpinguine.Weitere Infos zum Newsletter, alle bisher erschienenen Ausgaben sowie eine Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

Liebe Leserïnnen,

viele von euch werden hin und wieder Auto fahren. Dann kennt ihr das ungute Gefühl, übermüdet am Steuer zu sitzen. Den Schlaf Erforschende raten dann dringendst zum sofortigen Anhalten, Kaffeetrinken und Nickerchen machen. Das soll laut wissenschaftlichen Erkenntnissen in dieser Reihenfolge die beste Kombination sein, um möglichst unfallfrei weiterzufahren.

Zügelpinguine haben eine andere Lösung für ein sehr ähnliches Problem gefunden. Sie machen Mikroschlaf. Das sind kurze Episoden, ein paar Sekunden lang, während denen Tiefschlafwellen durch das Hirn huschen und das Wachbewusstsein Pause machen darf.

600 Mikroschlafepisoden pro Stunde

Bei Menschen geschieht ähnliches nur unter extremem Schlafdruck. Bei brütenden Zügelpinguinen ist es der Normalzustand. Sie nicken immer wieder kurz ein, bleiben dabei sitzen oder stehen und sind anschließend sofort hellwach. Auf diese Art halten sie sich ihre größten Feinde, Raubvögel namens Subantarktikskuas vom Leib. Und die Pinguine passen auf, dass ihnen selbst und ihrem Nachwuchs im chaotischen Höllenlärm und stetigen Gedränge inmitten einer typischerweise sehr aggressiven Pinguinkolonie nichts passiert.

Rekordverdächtig sind allerdings die Zahlen, die ein internationales Team um den Vogelforscher Niels Rattenborg vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz in Seewiesen heute im führenden Fachblatt Science veröffentlichten: Der Mikroschlaf tritt bei den Pinguinen mehr als 10.000 Mal pro Tag auf – bis zu 600 Mal pro Stunde. Insgesamt bringen es die Vögel damit binnen 24 Stunden auf die unfassbare Menge von elfeinhalb bis zwölf Stunden Tiefschlaf.

Ein paar schwarz-weiße Pinguine sitzen, stehen oder liegen auf einer fesligen Küstenlandschaft.
Eine Kolonie von Zügelpinguinen.
Eins schwarz-weißer Zügelpinguin bewacht seine beiden grauen Küken.
Wenn sie brüten oder auf ihre Küken aufpassen, schlafen Zügelpinguine immer nur für wenige Sekunden am Stück.
Ein stehender und zwei liegende schwarz-weiße Pinguine. Der Stehende trägt am Rücken eine unauffällig, kleine Kiste. mit Antenne
Schlafende Zügelpinguine. Der eine trägt auf dem Rücken den Schlaftracker, mit dem die Forschenden Daten für ihre Studie gesammelt haben.

Messung von EEG und EMG unter normalen Lebensbedingungen

Die Forschenden versahen 14 Pinguine mit kleinen Geräten zur Messung der Oberflächenströme des Gehirns (EEG) sowie der Muskelspannung der Nackenmuskulatur (EMG). Außerdem wurden die Tiere an Land gefilmt und auf ihren teils tagelangen Beutezügen im Meer mit GPS-Sensoren getrackt.

War ein Pinguin unterwegs, musste der Partner oder die Partnerin alleine aufs Gelege aufpassen. Dann griff die Nickerchen-Strategie: Manchmal schliefen dabei beide Hälften des Gehirns gleichzeitig. Manchmal schlief aber auch nur eine Hirnhälfte, so dass die andere aufmerksam bleiben und ein Auge offen bleiben konnte. Einzelne Schlafepisoden dauerten durchschnittlich etwa vier Sekunden.

Auch Stockenten schlafen manchmal mit nur einer Hirnhälfte

Niels Rattenborg machte schon vor mehr als 20 Jahren bei Stockenten die Entdeckung, dass Vögel ähnlich wie Wale, Delfine oder Robben den sogenannten Halbseitenschlaf beherrschen. Bei den Enten ermöglicht er es jenen Tieren, die am Rand einer Gemeinschaft schlafen, das nach Außen gerichtete Auge zum Aufpassen geöffnet zu lassen. Aber dass den Zügelpinguinen diese Fähigkeit offenbar nicht reicht, sondern dass sie zusätzlich bei extremen Umweltbedingungen auf tausende kurzer Mikroschlafeinheiten zurückgreifen, um ihr Schlafpensum zu erreichen: Das ist neu.

Kehrten die Tiere von ihren Beutezügen zurück, mussten sie zusätzlich oft Schlaf nachholen. In den ersten Stunden machten sie deshalb besonders viele Nickerchen. Diese Beobachtung erinnert an Fadenwürmer. Auch diese winzigen, vergleichsweise einfachen Tiere müssen schlafen, machen es aber immer nur für wenige Sekunden. Hindert man Fadenwürmer im Experiment am Einschlafen, fallen sie im Anschluss häufiger und länger in Schlaf.

Dieser Test ist letztlich der Beleg dafür, dass es sich bei den erstarrenden Fadenwürmern tatsächlich um schlafende und nicht etwa um ruhende Tiere handelt. (EEGs, die den Schlafzustand eindeutig erkennen könnten, sind hier nicht möglich.) Versäumter Schlaf muss nämlich per Definition nachgeholt werden. Es ist ein biologisch notwendiger Zustand, der homöostatisch geregelt ist. Für Ruhe gilt das nicht.

„Eine der größten offenen Fragen der Biologie“

Womit wir bei „einer der größten offenen Fragen der Biologie“ angelangt wären, wie es der Schlafforscher Allan Rechtschaffen einst formulierte: Warum müssen wir schlafen? Längst ist zwar klar, dass Schlaf lebenswichtig und chronischer wie akuter Schlafmangel eine ernsthafte Bedrohung für die psychische wie körperliche Gesundheit sind.

Ein Pinguin dreht uns seinen schwarzen Rücken zu. Er hat zwar die Augen geschlossen, es wirkt aber so, als würde er aufs blaue Meer schauen. Darüber der ebenfalls sehr blaue Himmel.
Zügelpinguine können im Stehen oder im Liegen schlafen. Dabei schließen sie die Augen.

Immer mehr Studien – wie die heute erschienene über die Zügelpinguine als Nickerchenweltmeister – zeigen zudem, dass letztlich keine einzige Tierart existiert, die nicht irgendeinen mehr oder weniger kuriosen Weg gefunden hat, sogar unter extremsten Lebensbedingungen irgendwie ausreichend Schlaf zu finden. Aber was sich die Evolution dabei gedacht hat, für den Schlaf ausgerechnet das Wachbewusstsein abschalten zu wollen, ist noch immer unklar.

Schlafen für das Bewusstsein

Ich vermutete es schon am Ende meines Buchs Das Schlafbuch: „Ohne Schlaf gibt es kein Bewusstsein.“ Und ich betone es immer wieder bei meinen Vorträgen zum Thema: Offensichtlich kam der Schlaf mit den ersten Nervensystemen, vielleicht sogar mit den allerersten Nervenzellen in die Welt. Diese benötigen zwingend den Wechsel aus Informationsaufnahme und Verarbeitung – Speicherung und Konsolidierung – Wachzustand und Schlaf.

Logisch, dass ich mich für neue Studien wie die vorliegende begeistere. Sie machen die Hypothese vom „Schlafen für das Hirn“ immer wahrscheinlicher. Rattenborg und Kollegïnnen formulieren es nüchterner, meinen aber letztlich das Gleiche: „Die Fähigkeit eines Tieres, sich während des Wachzustandes adaptiv mit der Umwelt auseinanderzusetzen, hängt vom Schlaf ab, einem Zustand, in dem sich das Tier von der Umwelt abkoppelt und von dem man annimmt, dass er erholsame Funktionen für sein Gehirn erfüllt.“

Soweit der Auszug aus der „Sporks Science News #105: 10.000 Nickerchen am Tag? Auch eine Lösung“, dem aktuellen Newsletter von Peter Spork.Weitere Infos zum Newsletter, alle bisher erschienenen Ausgaben sowie eine Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

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