Botschaften für die Zukunft
Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. RiffBuch-Auszug aus „Gesundheit ist kein Zufall“ von Peter Spork
Drei Generationen auf einen Blick
Wie viele Generationen sehen Sie vor sich, wenn Sie eine Schwangere betrachten? Natürlich zwei! Doch stimmt das überhaupt? Die nahe liegende Antwort ist in etwa der Hälfte der Fälle nämlich falsch. Bekommt die Mutter ein Mädchen, dann wächst in ihrem Bauch nicht nur die werdende Tochter heran. Im Fötus reifen bereits die Eizellen für die Enkel. Anstatt zwei sind es also drei Generationen, die Sie vor sich haben!
Diese Erkenntnis wirkt auf viele Menschen fast wie eine Offenbarung. Wenn drei Generationen in einem Organismus vereint sind, dann wirken dieselben Umwelteinflüsse zumindest theoretisch auch auf die Molekularbiologie dreier Generationen zugleich. Auf einmal scheint möglich, was aus der Warte der klassischen Genetik zutiefst unlogisch ist: Dass Erfahrungen und Handlungen eines Menschen auch seine Enkel biologisch verändern. Und das heißt, das Handeln der Eltern hat das Potenzial, das Schicksal der Enkel mitzuprägen.
Dass die Mutter direkt durch ihren Lebensstil und ihre Umwelt geprägt wird, liegt auf der Hand. Über die Interaktion von Erbe und Umwelt, die uns ständig begleitet, habe ich im ersten Teil dieses Buches berichtet. Dass auch schon die Zellen und Organe der Ungeborenen im Mutterleib empfänglich für prägende Einflüsse sind, dass diese Phase zusammen mit den ersten Monaten nach der Geburt sogar besonders wichtig ist, war Inhalt des zweiten Teils. In diesem Teil möchte ich mich nun mit der Frage beschäftigen, ob unsere eigene biologische Prägung womöglich schon bei den Großeltern begonnen hat und bei den Enkeln und Urenkeln noch nachwirken wird.
Vererben wir mehr als unsere Gene? Geben wir auch unsere Anpassungen an die Umwelt an folgende Generationen weiter? Gilt das sogar dann, wenn die Kinder oder Enkel erst Jahrzehnte später gezeugt werden? Wirken sich unser Handeln und unsere persönlichen Erlebnisse also auch auf die Gesundheit mehrerer nachfolgender Generationen aus?
Oder anders gefragt: Endet die biologische Entwicklung eines Menschen gar nicht mit dem Erwachsenwerden, wie man früher dachte, und auch nicht mit dem Tod, wie heute vielfach angenommen wird, sondern eigentlich gar nicht? Macht unsere Entwicklung noch nicht mal an der Grenze zwischen den Generationen halt? Geht sie unentwegt weiter, bis es irgendwann mal keine Nachkommen mehr gibt?
Sollte das stimmen, dann hebelt das zwar noch lange nicht die klassische Evolutionsbiologie aus. Aber es erfordert eine neue Biologie der Vererbung. Und genau darauf möchte ich in den verbleibenden zwei Kapiteln hinaus.
Hätte ich eine solche Behauptung als Schüler während des Biologieunterrichts geäußert, ich wäre wohl mit der Note sechs nach Hause geschickt worden. „Was für ein Unfug“, hätten meine Lehrer damals, vor gut dreißig Jahren, gesagt. „Wir vererben nur die Gene und nichts als die Gene.“ Inzwischen haben sich die Zeiten gewaltig geändert. Heute hören mir Hunderte von Biologielehrern aufmerksam zu, wenn ich für sie einen Vortrag über Epigenetik halte. Es hat sich herumgesprochen, wie wichtig die neue Wissenschaft ist. In einigen Lehrplänen ist der Stoff bereits enthalten.
Allerdings geht es in meinen Vorträgen zum Thema Epigenetik zunächst nur um molekularbiologische Programme in Körperzellen. Dass diese mit vererbt werden, wenn sich die Zellen im Zuge der biologischen Entwicklung, des Wachstums oder der Regeneration ganz gewöhnlich – per so genannter Mitose – teilen, diese Erkenntnis ist allenthalben akzeptiert. Dabei verdoppelt sich ja auch zunächst nur das auf mehreren Chromosomen enthaltene Erbgut der Zelle und wird dann auf beide Tochterzellen aufgeteilt – ein biologisch eher simpler Vorgang, der es offenbar erlaubt, dass außer dem Code der DNA auch die epigenetischen Strukturen weitergegeben werden.
Diese Art der nicht- oder nebengenetischen Vererbung per Zellteilung ist letztlich auch die Grundlage für die Definition der Epigenetik: „Epigenetik ist die Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz“, sagt zum Beispiel Thomas Jenuwein. Ich würde vielleicht noch ergänzen, dass es nicht nur um die Weitergabe der Information geht, sondern auch um deren Speicherung, also um das zelluläre Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Nervenzellen leben beispielsweise meistens bis zu unserem Tod und teilen sich nie. Dennoch können sie ihre Genaktivierbarkeitsprogramme dauerhaft einfrieren und aufbewahren.
Was die so genannte transgenerationelle Epigenetik betrifft, also die potenzielle Vererbung von Umweltanpassungen über die Keimbahn an folgende Generationen, gab es bis vor ein paar Jahren kaum sichere Belege für deren Existenz bei Säugetieren und somit auch beim Menschen. Heute ist die Situation eine andere und wir wissen, dass wir zumindest theoretisch und unter bestimmten Umständen in der Lage sind, als Reaktion auf Impulse aus der Umwelt erworbene molekularbiologische Programme zur Aktivierbarkeit von Genen in einzelnen Organen oder Organsystemen an unsere Kinder und Enkel weiterzugeben.
Dass dennoch bis heute so viele Menschen bei der Epigenetik sogleich an die Vererbung von Umweltanpassungen an Kinder und Enkel denken, ist im Grunde ein Missverständnis. Weil in der Definition der Epigenetik von „Vererbung“ oder „Weitergabe“ die Rede ist, denken viele, es ginge um die geschlechtliche Vererbung per Keimbahn, nicht um die simple Zellteilung.
Bei der geschlechtlichen Zellteilung, Meiose genannt, bilden sich zunächst weibliche und männliche Keimzellen mit einem einfachen Chromosomensatz. Erst mit der Verschmelzung von Ei und Spermium im Zuge der Befruchtung entsteht wieder eine gewöhnliche Zelle mit dem üblichen doppelten Chromosomensatz. Aus dieser entwickelt sich danach ein neues Lebewesen.
Genetiker und auch die allermeisten Epigenetiker konnten sich früher nicht vorstellen, dass die Umwelt auf Ei- oder Samenzellen einwirkt. Beides widerspricht der fast schon als Gesetz geltenden Idee der „Weismann-Barriere“, benannt nach dem deutschen Biologen August Weismann. Er hatte im Jahr 1883 postuliert, Keimbahnzellen wären von äußeren Einflüssen strikt abgeschnitten. Sie seien dazu da, das genetische Erbe für die folgenden Generationen möglichst unverfälscht zu bewahren, und dürften, anders als die Zellen des Körpers, niemals auf Umwelteinflüsse reagieren.
Die Idee der transgenerationellen Epigenetik ist jedoch noch aus einem zweiten Grund umstritten: Sie rüttelt nämlich nicht nur am Alleinstellungsanspruch der Genetik. Sie widerspricht sogar dem eigentlichen Standardwissen der Epigenetik: Die epigenetische Information der Elterngeneration werde in der Keimbahn regelrecht ausradiert, erklärt der bekannte deutsche Epigenetiker Jörn Walter von der Universität Saarbrücken. Er selbst hat mit Kollegen schon vor Jahren entdeckt, dass jede Eizelle direkt nach der Befruchtung ihre Epigenetik umfassend zurückprogrammiert. Ähnliches geschehe mit den Keimzellen sogar schon früher, wenn sie sich noch im unreifen Stadium einer Vorläuferzelle befinden. „Die Zelle wird gleich zwei Mal entwicklungsbiologisch auf null zurückgesetzt“, sagt Walter.
Der Keim gibt also nach der bisherigen Lehrmeinung seine epigenetische Identität auf, wird ein Blankoblatt, das völlig neu beschrieben werden kann. Erst so gelingt es ihm, wieder in jenen Pluripotenz genannten Urzustand zurückzukehren, der Ausgangspunkt eines jeden kompletten neuen Menschen ist. Und daraus kann dann wieder jeder der möglichen menschlichen Zelltypen entstehen. Gelöscht werden bei der doppelten Reprogrammierung allerdings – zumindest in der Theorie – auch sämtliche im Laufe des Lebens erworbenen Umweltanpassungen, die auf irgendeine bislang unerklärliche Weise die Weismann-Barriere überwunden hatten.
So dachte man zumindest bis vor kurzem. Inzwischen scheint das Dogma weitgehend widerlegt zu sein. Dank einer Reihe bahnbrechender Experimente akzeptiert die Mehrzahl der Epigenetiker mittlerweile, dass auch die Keimzellen der Säugetiere Mittel und Wege gefunden haben, wichtige epigenetische Informationen auf die kommende Generation zu übertragen.
Ein paar Fälle von transgenerationeller epigenetischer Vererbung habe ich bereits zu Beginn des vorangegangenen Teils vorgestellt: Stress, Drogenkonsum oder eine Fehlernährung von Mutter oder Vater aus den letzten Monaten vor der Zeugung verändern das RNA-Muster der Keimzellen. Sogar epigenetische Markierungen an der DNA von Ei- und Samenzellen sind manchmal abgewandelt. Beides trägt zur Prägung des neuen Lebens bei.
Auch die wenige Tage bis Wochen alten Eizellen, die schon im Fötus ausreifen, sind wohl empfänglich für Signale aus der Umwelt. Womöglich reagieren sie darauf sogar besonders sensibel, weil sie sich gerade erst entwickeln. Und selbst Samenzellen, oder besser ihre Vorläufer, aus denen die Spermien im Hoden massenhaft immer wieder neu produziert werden, scheinen Informationen über den Lebensstil speichern und weitergeben zu können.
Dieser Auszug stammt aus „Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt. Die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik“ von Peter Spork, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, 416 Seiten, 22,99 Euro.