Wie eine Wissenschaftlerin zum Ziel russischer Propaganda wird

Krieg wird immer von Propaganda begleitet. Das trifft auch die Wissenschaft. Russland behauptet, eine deutsche Forscherin sei an der Herstellung von Biowaffen beteiligt. Eine Erklärung, was hinter dem Vorwurf steckt und wie damit wichtige Forschung verunglimpft wird.

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Der russische Diplomat Vassily Nebenzia zeigt bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats Dokumente, die beweisen wollen, dass die Ukraine Biowaffen entwickelt.

Am Nachmittag des 10. März öffnet Cornelia Silaghi eine E-Mail und staunt. Der anonyme Absender beschimpft die Tierärztin des Friedrich-Loeffler-Instituts. Sie sei eine skrupellose Wissenschaftlerin. Er vergleicht ihre Forschung mit den Aktivitäten der Nazis im Dritten Reich. Der Vorwurf in der englischsprachigen Nachricht ist ungeheuerlich. Silaghi sei an einem Geheimprojekt beteiligt, mit dem die Ukraine Biowaffen zur Bedrohung Russlands entwickeln wolle. Einen Moment lang mag sie die E-Mail für einen schlechten Scherz gehalten haben. Doch dann trifft die nächste Nachricht mit dem gleichen Vorwurf ein. Diesmal aus Rumänien. Die Leiterin des Instituts für Infektionsmedizin wird vorsichtig. Den Anhang der rumänischen E-Mail öffnet Cornelia Silaghi aus Sicherheitsgründen nicht.

Ebenfalls am 10. März beschuldigen russische Medien das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) Biowaffen herzustellen. Deutschland finanziere das Projekt Nr. 68727 EN zur Erforschung der Erreger des hämorrhagischen Krim-Kongo-Fiebers und der Hantaviren, berichtet die regimetreue „Prawda“ auf ihrer englischen Webseite. Dafür seien „Hunderte von Blutserumproben von Bewohnern verschiedener Regionen der Ukraine“ an das Institut für Tropenmedizin in Hamburg übermittelt worden. Das russische Verteidigungsministerium habe von den Beschäftigten biologischer Labore in der Ukraine Unterlagen erhalten, in denen die geheimen Aktivitäten zur Herstellung von Biowaffen auf ukrainischen Boden dokumentiert werden.

Dieser 10. März ist der 15. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.

Die russische Propaganda läuft seit Wochen, diesmal richtet sie sich gegen die Wissenschaft. In seiner täglichen Pressekonferenz erhebt der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums den Vorwurf, es werde geheim in der Ukraine an Biowaffen geforscht. Seine vermeintlichen Beweise sind im Fernsehen zu sehen. Er zeigt die erste Seite eines „Transfer Agreement“ vom 11. September 2020 zwischen dem „National scientific center institute of experimental and clinical veterinary medicine“ in Charkiw und dem Friedrich-Loeffler-Institut (FLI). Cornelia Silaghi wird als Empfängerin einer Lieferung von Fledermaus-Parasiten genannt. Ihre E-Mail-Adresse ist gut lesbar. So wird die Forscherin zur Zielscheibe der Proteste.

Im englisch-sprachigen Dokument ist in fetter Schrift hervorgehoben, worum es genau geht. Um den Transport von 143 Exemplaren von blutsaugenden Parasiten, die im Fell oder auf der Haut von Fledermäusen leben. Gelagert werden die Ektoparasiten in 0,2 Milliliter Gefäßen, eingelegt in 70-prozentigem Ethanol. Genauer gesagt sind es 100 Flöhe und 43 Lederzecken. Sie wurden in Charkiw in der Ukraine von unterschiedlichen Fledermausarten gesammelt. Sie sollen am FLI untersucht werden.

Die Herkunft des Dokuments, das die Russen als Beweis vorlegen, ist nicht bekannt. Es entspricht nicht dem Original. Es ist eine Arbeitsversion, vermutlich aus dem E-Mail-Verkehr zwischen den Wissenschaftlern. Das Original mit den handschriftlichen Unterschriften der Institutsleiter trägt ein anderes Datum als der gezeigte Screenshot.

Die 143 Ektoparasiten werden einen Tag später zum Thema im Weltsicherheitsrat. Am 11. März informiert der russische Repräsentant Vassily Nebenzia das höchste Gremium der UN über „schockierende Fakten“, die durch die russische Spezialoperation „ans Licht gekommen seien“: ein von den USA finanziertes Programm zur Entwicklung von Biowaffen.

Silaghis Namen nennt der Diplomat nicht, wohl aber berichtet er über den Transport von mehr als 140 Containern aus der Ukraine ins Ausland. Angesichts der geschickten Wortwahl setzt sich in den Köpfen vieler Zuhörer das Bild von 140 Übersee-Containern fest. Dabei bedeutet das Wort „Container“ lediglich „Behälter“, in diesem Fall handelt es sich um Plastikröhrchen von der Größe eines kleinen Fingers. Den nächsten Vorwurf schiebt Nebenzia gleich hinterher. „Wir wissen nichts über das Schicksal dieser gefährlichen Biomaterialien und die Folgen, die eintreten können, wenn sie sich (möglicherweise in Europa) ‚verflüchtigen‘, da es keine internationale Kontrolle gibt“, sagt er. In jedem Fall sei das Risiko groß, dass sie für terroristische Zwecke gestohlen oder auf dem Schwarzmarkt verkauft werden könnten.

Abgetötete Zecken sind keine Biowaffen

Zu diesem Risiko bezieht die Forscherin fünf Tage später Stellung. Silaghi gibt in einem Interview bereitwillig Auskunft über den Verbleib der Biomaterialien. „Ich kenne ihr Schicksal – sie sind in meiner Gefriertruhe“, erklärt sie. Zudem gehe von den Zecken und Flöhen keinerlei Gefahr aus. Die Lagerung im 70-prozentigen Alkohol tötet alles ab: Sowohl die Parasiten, als auch darin möglicherweise vorhandene Krankheitserreger. Die Parasitologin hat nichts zu verbergen. „Nach der ersten Lieferung haben wir noch eine zweite aus der Ukraine erhalten“, erzählt sie. Insgesamt seien im Rahmen der Kooperation mehr als 200 Flöhe, Fliegen und Zecken untersucht worden.

Geheim ist daran nichts. Erste Forschungsergebnisse wurden im Juni 2021 bei der Jahrestagung der Fachgruppe Parasitologie der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft online präsentiert. Derzeit bereitet Cornelia Silaghi eine wissenschaftliche Publikation zu den Resultaten vor. Die meisten Zecken waren frei von Pathogenen. „Wir haben insgesamt wenig und sehr viel Unspektakuläres gefunden“, sagt sie. Von 100 Zecken waren nur neun von Krankheitserregern befallen. Je eine mit den Erregern der Ehrlichiose und der Anaplasmose. Bei sieben Zecken wurde der Erreger Rickettsia parkeri gefunden, ein Bakterium, das bei Menschen Fleckfieber auslösen kann, wenn sie von der Zecke gebissen werden.

Rickettsien können schwere Erkrankungen auslösen

Rickettsien können gefährlich sein und sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Krankheitserreger bekannt. Die Bakterien können nicht eigenständig überleben und benötigen Zecken, Flöhe, Milben oder Läuse als Wirte. In Deutschland müssen Infektionen mit Rickettsien dem Robert-Koch-Institut gemeldet werden. Hierzulande besteht kaum Gefahr, seit 2001 gab es sechs Fälle. Alle Patienten haben sich im Ausland infiziert. Zuletzt erkrankte im August 2019 eine 24-jährige Frau, die sich in Indonesien angesteckt hatte.

Doch wie gefährlich die Rickettsien an den Fledermäusen für die Menschen in der Ukraine und in den Nachbarländern sind, kann Silaghi nicht abschätzen. „Das wäre sicher etwas, das man in weiterführenden Projekten untersuchen sollte“, sagt sie. Dann würden die Forschenden über Jahre hinweg Ektoparasiten an mehreren Fledermausstandorten sammeln. Die Fragestellung: War der Rickettsien-Fund in Charkiw ein Einzelfall oder haben sich die Bakterien in der Ukraine schon weiterverbreitet? Die bisher untersuchten Proben stammen zum einen aus leerstehenden Gebäuden in Charkiw. Ukrainische Forscher hatten dort Fledermäuse im Winterschlaf untersucht. Zum anderen wurden sie in einer Station gesammelt, in der kranke und verletzte Tiere aufgepäppelt werden.

Fledermäuse können weite Strecken fliegen, sie stoppen nicht an Ländergrenzen. Deshalb dürfte auch Russland an den Erkenntnissen über die Verbreitung der Rickettsien in ukrainischen Zecken interessiert sein. Im Oktober 2021 meldeten Mediziner aus Moskau den gut dokumentierten Fall einer Rickettsienerkrankung. Sie war Folge eines Zeckenbisses. Der betroffene 35-jährige Mann lebt in der russischen Region Woronesch, die direkt an die Ukraine grenzt.

Zu einem Antrag auf Fördermittel für weiterführende Forschung kam es allerdings nicht mehr. Am 24. Februar begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Charkiw wird gleich in den ersten Kriegstagen beschossen.

Feuerwehrleute löschen ein Wohnhaus nach einem russischen Raketenangriff in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine,
Charkiw am 14. März, die russischen Angriff haben einen Teil der Innenstadt zerstört.

Seitdem hat die russische Propaganda das Forschungsprojekt zu einer Geheimsache zur Entwicklung von Biowaffen erklärt. „Ich habe keine Ahnung, wie die darauf gekommen sind, sich dieses Projekt und dieses Transfer Agreement auszusuchen, es ist vollkommen ungeeignet für diesen Vorwurf“, sagt Silaghi. Denn die dort beschriebene Forschung ist alles andere als ungewöhnlich.

Fledermausforschung soll vor Infektionen schützen

Fledermäuse sind seit den 2000 er-Jahren in den Fokus der Infektionsforscher gerückt. Eine australische-US-amerikanische Forschergruppe hat 2006 in einem Übersichtsartikel das damalige Wissen über Krankheitserreger bei den Fledertieren zusammengetragen. Die Liste enthält 66 Viren, die in Gewebeproben isoliert wurden, einige davon können bei anderen Tieren oder beim Menschen Krankheiten auslösen. „Es ist klar, dass wir nicht genug über die Biologie der Fledermäuse wissen und dass es noch eine Vielzahl von Fragen zur Rolle der Fledermäuse bei der Entstehung von Krankheiten gibt“, schreibt Charles H. Calisher von der Colorado State University, einer der führenden Virologen in den USA.

Fledertiere beherbergen von allen Säugetieren die meisten zoonotischen Erreger. Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die von Bakterien, Parasiten, Pilzen, Prionen oder Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können. Schon heute sind nach Zahlen der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) 75 Prozent aller neu auftretenden Infektionskrankheiten auf Erreger zurückzuführen, die ihren Ursprung in einem Tier haben. Das könnte auch auf die Covid-Pandemie zutreffen. Vor kurzem wurden mehrere Genomsequenzen von Fledermaus-Coronaviren gemeldet, die eine große genetische Ähnlichkeit mit dem SARS-CoV-2-Virus aufweisen.

Schildzecke: das achtbeinige Tier lebt im Fell von Fledermäusen. Es hat keinen schützende Schild und kann Krankheiten übertragen
Bestimmte Zecken haben sich speziell an Fledermäuse angepasst, wie diese Ixodes verspertiliones, die Schildzecke der Fledermaus. Die Untersuchungen erfolgten aber an einer anderen Art, an Lederzecken der Fledermaus. Sie leben im Fell oder auf der Haut von Fledermäusen und saugen deren Blut. Lederzecken haben keinen Schild, der für andere Zeckenarten typisch ist. Sie können Krankheitserreger übertragen.

Russische Forschende verwenden gleiche Technik

Seit etwa zehn Jahren beschränken sich viele Studien nicht nur auf mögliche Infektionsherde in Fledermäusen, sondern untersuchen auch die Zecken, Flöhe und andere Ektoparasiten, die beispielsweise im Fell der Tiere leben. Vor diesem Hintergrund ist die deutsch-ukrainische Kooperation nichts Ungewöhnliches. Das Procedere ist überall auf der Welt ähnlich und wurde auch im Friedrich-Loeffler-Institut angewandt. Zunächst werden die Ektoparasiten gesammelt und abgetötet. Aus den toten Flöhen oder Zecken extrahieren die Forschenden DNA, die sie dann mit Hilfe der PCR auf bestimmte Krankheiterreger untersuchen. Inzwischen existiert eine Gen-Datenbank mit charakteristischen DNA-Sequenzen, die Forschenden weltweit zur Verfügung steht.

Auch russische WissenschaftlerInnen arbeiten so. Sie kooperieren beispielsweise mit Forschenden aus Kasachastan bei der Suche nach Rickettsien.

Die Ergebnisse zeigen, wie weit Rickettsien in Zecken bei Fledermäusen verbreitet sind. Sie werden in Ländern in Nord-, Mittel- und Südamerika gefunden, auch in China, Großbritannien und Frankreich. Besonders relevant für die Forschung am FLI ist die Entdeckung der Krankheitserreger in Fledermausparasiten aus Rumänien, Ungarn und Polen – drei Nachbarn der Ukraine. Rumänische Forschende berichteten im Februar 2021, dass sie die Krankheitserreger in 47 von 322 untersuchten Fledermäusen gefunden haben. Welche Gefahr von ihnen für den Menschen ausgeht, sei noch unklar, schreibt die Studienleiterin Ioana A. Matei in einem wissenschaftlichen Paper.

Zur selben Zeit untersuchte das Team um Cornelia Silaghi tote Zecken auf Rickettsien.

Silaghi ist eine der bekanntesten ZeckenforscherInnen in Europa. Die Leiterin des Instituts für Infektionsmedizin (IMED) hat sich bereits 2006 während ihrer Doktorarbeit an der LMU München mit Rickettsien in Zecken beschäftigt. „Ich habe ein grundlegendes Interesse daran, das Wissen zu vergrößern, welche Art von Pathogenen oder bakteriellen Erregern in verschiedenen Ektoparasitenpopulationen vorhanden ist“, sagt sie. Selbst in Fachkreisen sei häufig nicht bekannt, dass ein Zeckenbiss neben FSME und Borreliose auch ganz andere Infektionen verursachen kann.

Auwaldzecke breitet sich in Deutschland aus

„Mich interessieren aber nicht nur die Pathogene, die darin sind, sondern auch die verschiedenen Spezies der Ektoparasiten selbst“, erklärt sie. Silaghi berät nationale und internationale Verbände und Regierungen. Es gehört zu ihren Aufgaben, die Verbreitung von Zecken in Deutschland zu untersuchen und die Risiken zu bewerten. Deshalb sammelt Silaghi auch Zecken, die auf Pflanzen sitzen und dort auf ihre Wirte warten. In Mecklenburg-Vorpommern hat Silaghi 1174 Zecken gesammelt und dabei die Auwaldzecke gefunden, die früher nicht in der Region bekannt war. Zecken könnten zu den Profiteuren des Klimawandels gehören und sich weiter Richtung Norden verbreiten.

Die Forscherin bekommt regelmäßig Anfragen, ob sie Zecken untersuchen kann. Es sind Zecken von Schafherden in Bayern, aus dem Spessart oder der Rhön. 2020 untersuchte das FLI Zecken, die bei Rinderherden in Ägypten, Füchsen in Rumänien oder Dromedaren in Nigeria gesammelt wurden.

Zeckenlieferung mit der Paketpost

Jede Zeckensendung an das FLI ist mit einem „Transfer Agreement“ versehen, das für jedes einzelne Probenröhrchen die Herkunft und die Art des Ektoparasiten dokumentiert. Das Papier, das der russische Verteidigungsminister als geheim vorstellt, ist eine Art Lieferschein. Darin steht zum Beispiel auch, wem das Material gehört, dass es nicht weitergegeben werden darf und wie die beteiligten Institute mit den wissenschaftlichen Ergebnissen umgehen wollen. Der Versand verläuft unspektakulär mit einem Paketdienstleister. Da die abgetöteten Ektoparasiten nicht infektiös sind, müssen keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden.

Es ist das erste Mal, dass Silaghi sich mit den Ektoparasiten der Fledermäuse beschäftigt. Die Initiative für die Kooperation zwischen Charkiw und dem FLI ging von der Ukraine aus. „Die erste Anfrage habe ich im Jahr 2019 als E-Mail bekommen“, sagt Silaghi. „Damals wollten die Kollegen eine Studentin oder Doktorandin über ein Erasmus-Stipendium zu uns ins Labor schicken, damit diese selbst die Untersuchungen durchführt.“ Doch die Kandidatin habe das angestrebte europäische Forschungsstipendium nicht bekommen. „Dann habe ich ein Jahr später eine erneute Anfrage erhalten, ob wir selbst die Proben untersuchen würden, auch wenn kein Personal dafür kommt“, berichtet Silaghi.

Vorwürfe Teil einer großen Kampagne

Der Biowaffen-Vorwurf gegen das FLI ist nur ein Baustein der russischen Kampagne, die im März anlief. Schon am 9. März, einem Tag vor den E-Mails an Silaghi, meldete die russische Nachrichtenagentur Tass, dass Diplomaten Beweise für kriminelle Aktivitäten der USA in den Biowaffenlabors in der Ukraine hätten. Die Agentur beruft sich auf eine Sprecherin des russischen Außenministeriums. Demnach seien die Labors am 24. Februar – dem Tag des Beginns der russischen Invasion – vom ukrainischen Gesundheitsministerium offiziell angewiesen worden, die dort befindlichen biologischen Stoffe vollständig zu vernichten.

In den Nachrichtensendungen haben die Vorwürfe aus den März-Tagen nur eine kurze Lebensdauer. Die Folgen sind trotzdem weitreichend. Die Kampagne der Russen löste eine Lawine von Beschimpfungen und Hassnachrichten aus, die über die Forschenden niederging. In den Sozialen Medien führen sie noch Wochen und Monate später ein wucherndes Eigenleben. Längst geht es nicht mehr um die ursprünglichen Vorwürfe, in der Ukraine würden geheime Biowaffen entwickelt, sondern um die große Weltverschwörung.

Cornelia Silaghi wird schon im März von ihren Beratern gewarnt, sie möge besser nicht mehr lesen, was in den Sozialen Medien über sie geschrieben wird. Trotzdem erreichen sie die Beleidigungen und Bedrohungen. Bekannte und Fremde sprechen sie auf die Beiträge in den diversen Internet-Kanälen an. Die Zeckenforschung beschäftigt mittlerweile auch die Kontrolleure bei Facebook und Co., die Beiträge sperren, weil sie menschenverachtend sind und zur Gewalt aufrufen.

Die Anweisung, biologisches Material in ukrainischen Labors zu zerstören, hat es wahrscheinlich gegeben. Skandalös ist sie nicht. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat dieses Vorgehen mit Kriegsbeginn empfohlen. Sie wollte verhindern, dass zur Forschung verwendete Erreger infolge der Kriegshandlungen entweichen. Mit Biowaffen hat das nichts zu tun. Der russische Repräsentant im Weltsicherheitsrat, Vassily Nebenzia, griff den Vorwurf des russischen Außenministeriums trotzdem auf. Nach seinen Kenntnissen seien mehr als 320 Container zerstört worden.

Krankheitserreger regelmäßig untersuchen

Um dieses Vorgehen zu verstehen, muss man mehr über die Bedeutung internationaler Forschung wissen. Wie in vielen anderen Ländern, gibt es auch in der Ukraine Labors, die zu gefährlichen Infektionskrankheiten forschen. Dahinter steht die Aufforderung der WHO an ihre Mitgliedsländer, dass sie Krankheitsgefahren durch Viren und andere Erreger rechtzeitig erkennen und darauf reagieren sollen. WissenschaftlerInnen weltweit suchen daher Wege, um die Bedrohung für Tiere und Menschen zu bewerten und einzudämmen.

Die Forschungslabore in den einzelnen Ländern arbeiten meist mit Krankheitserregern, die in ihrer Region endemisch sind oder aus Nachbarländern eindringen könnten. Zu dieser Forschung gehört, dass in Blutproben der Menschen vor Ort gezielt nach Antikörpern gesucht wird, so wie es das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin getan hat. So lässt sich bestimmen, welcher Anteil der Bevölkerung bereits eine Infektion durchgemacht hat. Nicht nur die Ukraine, auch andere Staaten, erhalten für diese Forschung finanzielle Unterstützung, beispielsweise von den USA, der EU oder der WHO.

Einige ukrainische Projekte wurden im Februar 2017 bei einer Konferenz in den USA vorgestellt, an der auch afrikanische und asiatische Forschende teilnahmen, die ebenfalls Gelder der USA bekamen. Die WissenschaftlerInnen betreuen vergleichbare Projekte wie die ZeckenforscherInnen am FLI. Einige ForscherInnen beschäftigen sich mit der Suche nach den Erregern von Tularämie und Milzbrand, die in ukrainischen Wildschweinen vorkommen.

Gefahr durch Schweinpest erforschen

Andere Gruppen arbeiten an einer verbesserten Diagnose, Überwachung und Prävention der afrikanischen Schweinepest, die sich in Osteuropa ausbreitet. Auch dort geht es unter anderem um Zecken, die die Krankheit möglicherweise übertragen. Und auch die afrikanische Schweinepest ist immer wieder Bestandteil der russischen Propaganda. 2012 warfen die Russen dem Nachbarland Georgien vor, mit der Verbreitung des Schweinepesterregers gezielt die russische Wirtschaft schwächen zu wollen. Die Schweinepest ist für Menschen ungefährlich, für Schweine aber in der Regel tödlich. Die hochansteckende Seuche verbreitet sich allerdings durch wildlebende Schweine, es braucht dafür keine Menschen.

Der russische Diplomat Vassily Nebenzia sieht die Bevölkerung der Ukraine durch die Arbeit der dortigen Labors bedroht. „Die Zahl der Fälle von Röteln, Diphtherie und Tuberkulose ist gestiegen, das Auftreten von Masern hat um mehr als das 100-Fache zugenommen“, warnte er im UN-Gremium. Der Zusammenhang ist aber mehr als fraglich. Tuberkulose ist weltweit auf dem Vormarsch. Die WHO hat im Jahresbericht 2020 festgestellt, dass die Zahl der Todesfälle durch Tuberkulose binnen eines Jahres weltweit von 1,4 Millionen auf 1,5 Millionen gestiegen sei.

Zugvögel sind mit Viren belastet

Falsch hergestellte Zusammenhänge sind ein beliebtes Mittel der Propaganda. Der Prawda-Artikel vom 10. März zeigt eindrücklich, wie vermeintliche Beweise erzeugt werden. Dort heißt es: Ein Ziel der Biowaffenherstellung sei es, gefährliche Infektionen durch Zugvögel zu verbreiten, die auf ihrem Weg in Russland Station machen. In den russischen Regionen Ivanovo und Voronezh seien Vögel entdeckt worden, die im Rahmen der biologischen Forschung im ukrainischen Naturreservat bei Cherson beringt wurden. Bei den Vögeln habe man die Erreger der H5N1-Influenza und der Newcastle-Krankheit entdeckt.

Ein Beleg für den Einsatz von Biowaffen ist auch das aber nicht. Dass Zugvögel weltweit Krankheiten übertragen, wissen Tiermediziner und andere Forscher seit Jahrzehnten. „Das ist ganz normal“, sagt Cornelia Silaghi. Sie müssen dafür nicht von Menschen infiziert werden, sondern tragen die Erreger bereits in sich. Derzeit zirkulieren in zahlreichen Ländern Grippeviren wie der H5N1 unter Vögeln. Die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) meldete zwischen November und Dezember 2021 Ausbrüche in mehr als 20 Ländern. Bei engem Kontakt können sich Geflügelhalter bei ihren Vögeln offenbar anstecken: Von 2003 bis Ende 2020 registrierte die Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als 860 bestätigte H5N1-Infektionen beim Menschen.

Ein weißes Baumwolltuch dient den Forschern als Zeckenfalle. Sie schwenken es durch eine Gras- und Buschlandschaft. Die Zecken an den Pflanzen krallen sich am Tuch fest und können später gesammelt werden.
So sammeln WissenschaftlerInnen Zecken: Geschützt mit Stiefel und spezieller Hose laufen sie durch Zeckengebiete und ziehen ein weißes Baumwolltuch mit. Die Zecken, die an den Gräsern auf ihre Wirte warten, krallen sich am Tuch fest und sind leicht zu erkennen.

Die Beispiele zeigen: Es gibt immer wieder und seit Jahrhunderten Fälle, in denen sich Menschen bei Tieren anstecken. Sie sind ein Grund, warum sich Cornelia Silaghi durch die russische Propaganda nicht einschüchtern lässt. Im Mai 2022 macht sie sich wieder auf den Weg, und sammelt in Mecklenburg-Vorpommern Zecken. Wer ihr Team bei der Arbeit sieht, wird sich wundern. Die Forschenden ziehen Flanelltücher über den Boden. Die Zecken krallen sich an der Unterseite des Tuchs fest, werden im Anschluss gesammelt, gezählt und bestimmt. Die Tipps, wo die Zeckenforscher suchen sollen, stammen manchmal von Hundebesitzern, die aufmerksam beobachten, welche Zecken sich an ihren Tieren festbeißen. Die nächste internationale Kooperation läuft auch schon. Das FLI unterstützt einen pakistanischen Doktoranden, der Zecken von Rindern aus seiner Heimat untersucht, auch Ektoparasiten von Rentieren werden im Labor analysiert. Mit der Herstellung von Biowaffen hat das nichts zu tun.

Die Recherchen und der Fotoeinkauf für diesen Beitrag wurden aus Fördermitteln der Andrea-von-Braun-Stiftung unterstützt.

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