Das All wird zum Schlachtfeld
Der erdnahe Weltraum galt lange als gemeinsames Erbe der Menschheit. Doch strategische Erwägungen gefährden es zusehends.
Im Januar 2019 rollt eine Trägerrakete auf die Startrampe im indischen Raumfahrtzentrum Satish Dhawan. Studenten und Schüler sitzen auf den Besucherbänken im Kontrollraum, denn der gemeinsam von ihnen gebaute Kleinsatellit Kalamsat V2 soll starten. Die Organisation Space Kidz India will damit junge Inderinnen und Inder für den Weltraum begeistern und laut ihrer Webseite „das Bewusstsein für eine Welt ohne Grenzen befördern“. Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Der zweite Satellit an Bord verfolgt keine friedlichen Ziele. Microsat-R ist angeblich ein militärischer Aufklärungssatellit, der am 27. März von einer viel kleineren, ballistischen Rakete abgeschossen wird. – Es ist der erste Test einer Anti-Satelliten-Rakete seit über einem Jahrzehnt. Nach dem Start verkündet Premierminister Narendra Modi, Indien habe sich in die Riege der Weltraummächte eingereiht. Doch gleichzeitig ist es ein weiterer Schritt einer Rüstungsspirale, der zeigt: Strategen sehen im Weltraum ein entscheidendes Schlachtfeld der Zukunft.
Die Entwicklung von Anti-Satelliten-Waffen ist nicht neu: Schon die Sowjetunion und die USA verfolgten solche Ideen, doch strategische Erwägungen bremsten sie für lange Zeit: Abrüstungsverträge zwischen den Atommächten setzten auf Satelliten, die das Vertrauen zwischen Ost und West erst herstellten. Das änderte sich mit den neuen High-Tech-Feldzügen in Afghanistan und dem Irak nach 2001: Wieder waren Satelliten eine Lebensversicherung, dieses Mal aber zementierten sie die Überlegenheit des US-Militärs. In Afghanistan waren beispielsweise 60 Prozent der abgefeuerten Munition zielgesteuert.
Vor allem China entwickelt seither ebenso wie Russland seine militärischen Fähigkeiten im All weiter: 2007 schießt eine chinesische Rakete einen ausgedienten eigenen Wettersatelliten in großer Höhe ab. China nimmt dabei auch 3000 neue Trümmerteile im Orbit in Kauf, die dort bis heute kreisen und die als Weltraumschrott andere Satelliten gefährden. Im September 2015 nähert sich der russische Satellit Luch Olymp-K dem kommerziellen US-Kommunikationssatelliten Intelsat 905 bis auf zehn Kilometer – und damit für orbitale Verhältnisse empfindlich nah. Drei Jahre später manövriert Luch ähnlich nah an den militärischen Kommunikationssatelliten Athena-Fidus heran, der von Frankreich und Italien betrieben wird. In Syrien wird im Januar 2018 ein Geschwader aus 13 bewaffneten und mittels Satellitennavigation gesteuerten Drohnen zur Landung gezwungen, durch einen Störsender in einem russischen Militärstützpunkt.
Die USA: Die Space Force als Antwort
Die Antwort der Vereinigten Staaten war absehbar: Im März 2018 ruft US-Präsident Donald Trump das All zum neuen Kampfgebiet neben Land, Meer und Luft aus. Die Space Force soll laut Vizepräsident Mike Pence sicherstellen, dass Amerika seinen Vorsprung gegenüber China und Russland hält. Dass die USA im Geheimen längst an taktischen Fähigkeiten forschen, zeigt das Beispiel von X-37. Am 27. November 2019 landete dieses unbemannte Shuttle im Kennedy Space Center von seiner fünften Mission. Was hat es während seiner 25 Monate im All genau gemacht? Laut Daniel Porras vom UN-Institut für Abrüstungsforschung in Genf handelt es sich wohl um ein Spionage-Versuchsfeld, um wahrscheinlich die Kommunikation anderer Nationen abzuhören – und damit nicht unähnlich zu dem, was dem russischen Luch Olymp-K vorgeworfen wurde.
Das Interview mit Abrüstungsforscher Daniel Porras können sie ergänzend in unserem Podcast AstroGeo nachhören:
Xavier Pasco von der Pariser Denkfabrik Fondation pour la Recherche Stratégique geht davon aus, dass die USA derzeit ihre Doktrin weiterentwickeln: Sie würden sich im All als mächtig und widerstandsfähig darstellen, mit Mitteln, die jedem möglichen Feind schaden, der die Vereinigten Staaten ins Visier nehmen könnte. Das zeigt ein Wettbewerb, den die militärische Forschungsorganisation Darpa derzeit veranstaltet: Raketen und Satelliten sollen binnen weniger Tage entwickelt, gebaut und gestartet werden. Kommunikation, Navigation oder Aufklärung sollen schon bald nicht über tonnenschwere und leicht zu zerstörende Satelliten erfolgen, sondern über viele kleine Satelliten im Erdorbit verteilt werden.
NATO und Frankreich ziehen nach
Wie wichtig der Weltraum in strategischen Erwägungen ist, zeigt eine Entscheidung des NATO-Rats vom 20. November 2019: Das Militärbündnis erklärte da offiziell den Orbit zu einem neuen Operationsgebiet. Vordergründig geht es darum, dass Alliierte leichter gegenseitig die Fähigkeiten ihrer Satelliten nutzen können, beispielsweise zur Aufklärung. Doch währenddessen nimmt die Zahl jener Staaten weiter zu, die ihre Satelliten wiederum mit eigenen Waffensystemen schützen wollen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte im Juli eine eigene Weltraum-Waffengattung an. Der Plan umfasst neuartige kleine Bodyguardsatelliten, die sich langsam nähernde Spionagesatelliten frühzeitig erkennen und Frankreichs wertvollste Satelliten bewachen sollen. Im Notfall sollen Hochleistungslaser die Instrumente der Angreifer blenden. Bei dieser Technik habe speziell Russland gegenüber Frankreich einen großen technischen Vorsprung.
Der Sicherheitsexperte Xavier Pasco hält die Pläne daher für rational und notwendig. Denn eine Militärmacht, die in einer bestimmten Region im Ausland eingreifen wolle, müsse über alle militärischen Mittel verfügen. Und ohne Satelliten seien die Bodenaufklärung oder das Wissen über die Luftabwehr kaum möglich, ebenso wie die Steuerung von Drohnen.
Militärische Versuche "nicht ratsam"
Für Holger Krag hat das Säbelrasseln im All einen hohen Preis: Er leitet das Büro für Weltraumrückstände bei der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) in Darmstadt. Allein der Satelliten-Abschuss Chinas von 2007 hat im Erdorbit so viele Trümmerteile erzeugt, dass ESA-Satelliten ihnen bereits mehrmals ausweichen mussten, um nicht ungewollt von ihnen zerstört zu werden. Denn jedes Teil in der Umlaufbahn, ob intakter Satellit oder Trümmerhaufen, kreist dort mit 28.000 Kilometern pro Stunde und mehr. Schon ein Staubkorn kann beim Aufprall die Energie einer Gewehrkugel entwickeln. Der Test Indiens vom März 2019 fand zwar nur in einer Höhe von rund 300 Kilometern statt, in der ein Großteil der Trümmer innerhalb von zwei Wochen verglühte. Aber einzelne Bruchstücke kreuzten auch noch die weit darüber liegende Bahnhöhe der Internationalen Raumstation. Daher ist es für Holger Krag „absolut nicht ratsam, solche Tests durchzuführen.“ Auch ESA-Direktor Jan Wörner fand gegenüber den Weltraumreportern deutliche Worte.
Noch ein anderer Raumfahrtingenieur schüttelt mit dem Kopf: Roger Förstner vom Institut für Raumfahrttechnik und Weltraumnutzung an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München beschäftigt sich mit den alltäglichen Herausforderungen des Weltraums. Schon das Vakuum ist aus seiner Sicht bedrohlich genug, wo kosmische Strahlung oder ein Teilchensturm der Sonne einem Satelliten – unglücklich getroffen – den Garaus machen kann. Dabei sei die Ursachenforschung schwierig: Ingenieure sähen oft nur das Symptom, dass irgendwas kaputt sei oder nicht mehr so funktioniere, wie es solle. Warum es aber kaputt sei, könne häufig gar nicht nachvollzogen werden. Das wird zum Problem, wenn zunehmend militärisch genutzte Satelliten nachvollziehen sollen, ob sie angegriffen wurden. Missverständnisse scheinen da unausweichlich.
Wie es weiter geht: Die Tragödie des Allgemeinguts
Seit 62 Jahren startet die Menschheit Satelliten ins All. Die Umlaufbahn gilt als gemeinsames Erbe der Menschheit, so formuliert es der internationale Weltraumvertrag von 1967. Dieses Erbe setzen Militärstrategen nun aufs Spiel. Abrüstungsforscher Daniel Porras sieht hier ein Muster: Es ist die Tragödie des Allgemeinguts, ein Dilemma, bei dem der Vorteil von Einzelnen im Widerspruch zum langfristigen Ziel der ganzen Gesellschaft steht. Die Zahl aktiver Satelliten, ob zivil oder militärisch, nimmt zu und das macht allgemeingültige Verkehrsregeln im All nötiger denn je, die bis heute nicht existieren. Der Weltraumvertrag verbietet lediglich die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im All. Und mit militärischen Ambitionen verkomplizieren sich die Verhandlungen über neue Regeln.
Aus der Sicht von Daniel Porras bestünde die beste Lösung darin, wenn sich alle Staaten auf ein akzeptables Verhalten im All einigen würden. Die Abrüstungsforscher schlagen beispielsweise eine Sicherheitszone von 50 Kilometern um jeden Satelliten vor. Wer näherkommt, dem dürfe eine feindliche Absicht unterstellt werden. Waffentests sollten vorab international angekündigt werden. Und sie sollten möglichst keine Trümmer erzeugen – und falls das unvermeidbar ist, sollten diese nur in niedrigen Bahnhöhen entstehen, wo sie innerhalb kurzer Zeit wieder verglühen.
Ohne internationale Regeln wird das Wettrüsten im All wohl weitergehen, während die Verantwortlichen auf die Selbstverteidigung ihrer eigenen Satelliten pochen. Daniel Porras fürchtet, dass die Staatengemeinschaft erst handelt, wenn es schon zu spät ist: nämlich dann, wenn der entstandene Weltraumschrott das Leben eines Raumfahrers an Bord der Internationalen Raumstation oder eines Weltraumtouristen gefordert hat.
Eine gute Recherche dazu ist aufwendig. Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann abonnieren Sie das Angebot von "Die Weltraumreporter – Ihre Korrespondenten aus dem All" am Button unten rechts oder das Gesamtangebot von Riffreporter als Flatrate. Mit einem Abo erhalten Sie guten Weltraumjournalismus und stärken uns bei unseren Recherchen.
Eine frühere Fassung dieser Recherche erschien am 1. Dezember 2019 im Deutschlandfunk.