Neues Buch von Hendrik Streeck zur Corona-Pandemie: Vernebelung statt Aufklärung

Der Bonner Virologe verspricht, mit „Nachbeben“ Lehren aus der Pandemie vorzulegen. Doch die kommen insgesamt so kurz wie auch der Blick auf die eigene Rolle – eine Enttäuschung

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Der Virologe Streeck in einem Laborsetting mit einem Modell des Virus in der Hand.

Bald fünf Jahre sind vergangen, seit das Coronavirus in Deutschland angekommen ist. Die heiße Phase der Corona-Pandemie, die auf den ersten Fall vom 28. Januar 2020 folgte – mit zwischenzeitlich mehr als tausend Toten täglich, Lockdowns, Maskenpflicht, Impfkampagnen und hitzigen Debatten – löst heute hauptsächlich drei Reaktionen aus: Ein großer Teil der Menschen ist hauptsächlich erleichtert, dass das Ganze vorbei zu sein scheint, und übt sich aus nachvollziehbaren Gründen in kollektivem Vergessen und Verdrängen. Hunderttausende Menschen, die unter den Langzeitfolgen ihrer Covid-Erkrankung leiden, fühlen sich mit ihren Beschwerden alleingelassen. Und einige wenige Hartnäckige verlangen vehement nach einer „Aufarbeitung“ der Pandemie.

Die letztere Gruppe ist sehr heterogen zusammengesetzt: Auf der einen Seite wollen „Querdenker“ unbedingt ihre kruden Verschwörungsthesen belegen, auch wenn die Impfung ihre Wirkung zeigte und der Staat Eingriffe in Freiheitsrechte längst wieder zurückgenommen hat. Auf der anderen Seite bemühen sich Wissenschaftler, Experten und einige Politiker, die richtigen Lehren aus den harten Jahren zu ziehen. Die nächste Pandemie komme ganz bestimmt, sagen sie – und die Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre sollten helfen, uns besser darauf vorzubereiten. Angesichts der Nachrichten von der Ausbreitung der Vogelgrippe erscheint es geradezu lebenswichtig, beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein.

Wortführer für das „Team Eigenverantwortung“

Zu den Aufklärern zählt sich Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Streeck betrieb – was für sich genommen sehr verdienstvoll war – Anfang 2020 als einer der ersten Wissenschaftler Freiland-Forschung im ersten Infektions-Hotspot. Das trug dazu bei, dass er in der Hochphase der Pandemie zu den Wissenschaftlern zählte, die am häufigsten in Talkshows eingeladen wurden. Dabei profilierte sich Streeck mit Forderungen, die Restriktionen zurückzufahren und mehr auf Freiwilligkeit im Umgang mit dem Virus zu setzen, als eine Art Gegenpol zu Christian Drosten von der Berliner Charité, der das „Team Vorsicht“ repräsentierte.

39 Millionen nachgewiesene Infektionen, mehrere Hunderttausend Long-Covid-Erkrankungen und rund 184.000 Corona-Tote später legt Streeck nun mit „Nachbeben“ ein Buch vor, das darzustellen verspricht, was wir aus der Pandemie lernen können. Die Rückschau erscheint zu einem für den Wissenschaftler wichtigen Zeitpunkt: Anfang September nominierte der CDU-Kreisverband Bonn den 47-jährigen als Direktkandidaten für den Bundestag. Das Buch darf auch als Versuch gelesen werden, der politischen Karriere Schwung zu geben. Es gelte, „die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden, den Populismus zu bekämpfen und das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen wiederherzustellen“, schreibt der Wissenschaftler.

Die Lehren aus der Pandemie kommen zu kurz

Und wirklich nennt das Buch manche Lehren aus der Pandemie, über die sich nachzudenken lohnt. Streeck legt dar, wie wenig die Effizienz der Corona-Maßnahmen wissenschaftlich untersucht wurde. Er schlägt vor, künftig viel systematischer und durch Praxisversuche zu ermitteln, was bei der Eindämmung eines Krankheitserregers funktioniert und was nicht, etwa indem in einer Region eine Maskenpflicht gilt und in einer anderen nicht. Er regt an, dafür die Expertisen des Staates besser zu bündeln.

Gleichzeitig warnt der Virologe davor, zu sehr auf seine eigene Disziplin zu hören. Er möchte künftig vor allem Psychologen und Ökonomen stärker in die Krisenberatung einbezogen sehen. Die wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland solle zudem straffer und effizienter organisiert werden. Dabei schwebt ihm vor, im Bundeskanzleramt einen wissenschaftlichen Chefberater zu installieren und individuelle Forscher mit einem Sprechermandat auszustatten. Streeck fordert auch, die psychischen Folgen von Vereinzelung etwa auf Kinder und ältere Menschen in Pflegeheimen stärker zu berücksichtigen und Schulkonzepte zu entwickeln, die auch in Pandemiezeiten funktionieren, darunter Unterricht im Freien, bevor man Schulen schließt und Kontakte einschränkt.

Doch diesen teils sinnvollen Lehren aus der Pandemie widmet der Autor in seinem Werk leider nur wenig Platz. Den größten Teil der 272 Seiten nehmen Schilderungen ein, die den Effekt von Nebelkerzen haben. Ein ums andere Mal kleistert Streeck in seinen Analysen – etwa zur Effizienz von Lockdowns, Masken und Testungen – vorliegende Erkenntnisse mit einem Brei von Details und widersprüchlichen Studienergebnissen zu.

Verlässlich münden solche Ausführungen in der Aussage, es sei doch alles „sehr komplex“. Klarheit und Orientierung sehen anders aus, Lehren auch. Auf die Binsenweisheit, dass FFP2-Masken nur dann wirken, wenn man sie korrekt trägt, kann jeder selbst kommen. Nur bei der Impfung findet Streeck klare Worte: Ja, es gibt Nebenwirkungen, aber ihre Zahl ist im Vergleich zur Zahl der Menschenleben, die durch Impfung gerettet wurden, sehr klein.

Überaus verständnisvoll zeigt sich Streeck wiederum für Aktionen wie #Allesdichtmachen, bei der Schauspieler, Künstler und Regisseure im April 2021 auf ihre wirtschaftliche Not aufgrund abgesagter Veranstaltungen und Dreharbeiten aufmerksam machten. Viele verstanden die Aktion damals nicht als sachliche Kritik, sondern als blanker Zynismus, der das Leid auf den Intensivstationen und der Hinterbliebenen ignoriert. Streeck schreibt den Initiatoren in seinem Buch fast den Rang einer verfolgten Minderheit zu, die bis heute viel weniger Aufträge bekomme. Wissenschaftler, behauptet er, hätten Äußerungen zur Rolle von Schulen beim Infektionsgeschehen zurückgezogen, um nicht „im medialen Feuer zu verbrennen“. Belege dafür gibt der Autor keine.

Kaum ein Wort zu eigenen Rolle

Zum klaren Feindbild erklärt Hendrik Streeck dagegen ganz allgemein „die Wissenschaftsjournalisten“. Weil Vertreter aus ihren Reihen Streecks Thesen häufig kritisierten, kommt seine sonst demonstrierte Liberalität plötzlich an ihre Grenzen. Sie kippt sogar ins Autoritäre, wenn der Autor fordert, Wissenschaftsjournalisten dürften wissenschaftliche Ergebnisse lediglich kommunizieren und einordnen. Bei der Bewertung sollten sie sich aber „heraushalten“, schreibt er, und fügt hinzu: „Auch hier besteht Handlungsbedarf“. Gelüstet ihm etwa nach Zensur, nur weil es ihm nicht passt, dass fachlich versierte Journalisten ihn deutlich kritischer beurteilten als Talkshow-Redaktionen?

Am ärgerlichsten an „Nachbeben“ ist, wie Streeck seine eigene Rolle verklärt – dort, wo er selbst problematischer Akteur war oder in seinen Einschätzungen falsch gelegen hat. Ein aufrichtiger Wissenschaftler hätte das Buch zum Anlass genommen, auch eigene Irrtümer darzustellen.

Etwa ganz am Anfang der Pandemie, als Christian Drosten bereits deutlich vor dem Kommenden warnte, Streeck aber auf Twitter verharmloste. Sein erster Tweet zum Thema aus dem Januar 2020 lautete: „Nach den bisherigen Daten ist die #influenza dieses Jahr eine größere Gefahr als das neue #coronavirus. Die meisten Menschen scheinen nur milde Symptome zu haben.“ Einige Wochen später schob er nach: „Es sollte Mut machen, dass trotz der bisher fast 100 #SARSCoV2 Infektionen in Deutschland, wir nur selten schwere Verläufe sehen und keine Todesfälle zu beklagen haben. Unsere Einschätzung des Virus ist richtig gewesen.“

Eine lange Liste auch seiner späteren Irrtümer – etwa zur Herdenimmunität – hätte ein ganzes Kapitel darüber füllen können, warum Fehler und ständiges Lernen zur Wissenschaft gehören und wie man damit umgeht. Streecks Umgang hingegen ist wenig souverän, denn er verschweigt das alles. Die beiden Tweets hat er inzwischen gelöscht.

Mehrfach kritisiert der Autor, dass andere vorschnelle Folgerungen aus unreifen Daten gezogen hätten. Unerwähnt und unreflektiert bleibt hingegen, dass er selbst vorläufige, noch nicht begutachtete Daten aus dem kleinen Untersuchungsgebiet um Gangelt im Kreis Heinsberg in Stellung gebracht hat, um an der Seite des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) in einer Pressekonferenz in der Düsseldorfer Staatskanzlei eine umgehende bundesweite Rücknahme des Lockdowns zu fordern.

Long Covid kommt nur am Rand vor

Während Streeck heute kritisiert, dass Christian Drostens Einschätzungen als Meinung der Wissenschaft als solcher aufgenommen wurden, versuchte er sich selbst Ende 2020 genau in dieser Rolle: „Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie“ hieß das Dokument, das er medienwirksam als einer der Hauptautoren vorlegte – ohne jedes Mandat dafür.

Zudem enthält Streecks Buch sachliche Fehler. Den, dass der Marsch von Querdenkern auf den Reichstag bei ihm Bestürzung ausgelöst hätten, „da er an die Bilder der Stürmung des US-Capitols nach der Abwahl von Donald Trump erinnert“, kann man übergehen. Der Sturm auf den Reichstag war 2020, der aufs Capitol erst 2021. Ins Auge stechen aber irreführende Aussagen wie die, dass in Schleswig-Holstein „theoretisch jedem Covid-19-Infizierten ein Intensivbett“ zur Verfügung hätte stehen können, „ohne die Kapazitäten zu überschreiten“.

Das Traurigste an „Nachbeben“ ist allerdings, wie Hendrik Streeck über das Leid der Menschen hinweggeht, die von Covid betroffen waren oder sind. Die trotz aller Maßnahmen immense Zahl der Toten blendet er weitgehend aus, sie ist ihm lediglich eine statistische Nebenbetrachtung wert. Im Vorwort reißt er an, dass in Deutschland eine Million Menschen von Long Covid betroffen seien. Danach spielen diese bis heute teils schwer kranken Menschen im Buch keine größere Rolle mehr. Streeck unterstellt ihnen sogar, ihre Symptome seien vielleicht Ergebnis „unnötiger Ängste“ vor dem Virus. Dabei liegen in Hülle und Fülle Studien über krankmachende körperliche Mechanismen des Virus vor. Da überrascht es nicht, dass das Buch auch, was die heutige Versorgung von Long-Covid-Patienten betrifft, keinerlei Lehren bietet.

So detailreich die Schilderungen sind, sie führen fast immer in dieselbe Sackgasse von „Nichts Genaues weiß man nicht“. Klarheit strebt das Buch gar nicht erst an. Hendrik Streeck will wohl eher den Nährboden für seine politische Karriere bereiten und sich in alle Richtungen der Debatte als „Versöhner“ in Szene setzen, um Lob und Anerkennung einzusammeln. Insgesamt ist „Nachbeben“ für Leserinnen und Leser, die sich einen Kompass für die Vorbereitung auf die nächste Pandemie erwarten, eine große Enttäuschung.

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