Studi-Retter in der Krise

Nahezu 27.000 Studierende haben sich freiwillig als Helfer in der Coronakrise gemeldet. Sie sitzen in Corona-Callcentern und untersuchen Infizierte zuhause.

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Medizinstudierende in blauer Arbeitskleidung und Mund-Nasenschutz bereiten sich auf eine Fahrt zu SARS-CoV-Infizierten vor (Coronataxi). Sie stehen vor einem Gebäude der Universitätsklinik Heidelberg

Jakob Besold musste nicht nachdenken, als er den Aufruf des Gesundheitsamtes Rhein-Neckar Anfang März las. Das Amt stellte sich damals auf einen großen Ansturm an SARS-CoV-2-Patienten ein und benötigte Hilfe. Studierende sollten sich freiwillig melden. Besold studiert Medizin im 12. Semester an der Universität Heidelberg. Im Herbst steht das Examen bevor. Seine Doktorarbeit über die Entstehung des Schmerzgedächtnisses bei bestimmten Patienten ruht, weil das Labor aufgrund des Lockdowns geschlossen ist. „Ich kann mehr Gutes tun, als es ein Risiko für mich ist“, sagt er. Außerdem „arbeite ich gerne am Menschen“. Deshalb trug er sich für den „Außendienst“ ein. Was das heißt, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber der 25-Jährige ist kein ängstlicher Mensch. In seiner Freizeit klettert er gerne mit Freunden oder saust mit dem Mountainbike die Steilhänge des Königstuhls im Odenwald hinab.

Die kommissarische Ärztliche Direktorin Uta Merle der Klinik für Gastroenterologie, Infektionen, Vergiftungen an der Universitätsklinik Heidelberg hat gemeinsam mit Kollegen eine Idee, die später weltweit bekannt wird: Sie möchte in Heidelberg ein Coronataxisystem einführen. Die Fahrer sollen die Infizierten zuhause untersuchen und so die Krankenhäuser entlasten. Covid-19 kann zwischen dem siebten und elften Tag nach der Infektion kippen. Den Kranken geht es dann mitunter rapide schlechter. Manche müssen ins Krankenhaus. Das Gesundheitsamt Rhein-Neckar möchte das Taxisystem so schnell wie möglich in die Tat umsetzen. Besold wird der erste Student, der Coronataxi fährt. Er hilft, die ambulante Versorgung aufzubauen, während die Pandemie auf ihren vorläufigen Höhepunkt zusteuert.

Im Coronataxi zu den Infizierten

Besold erinnert sich nicht mehr an seinen ersten Patienten. So viele sind es schon gewesen. Aber er entsinnt sich der erstaunten und neugierigen Blicke der Menschen, besonders anfangs, wenn er aus dem Auto stieg, in den weißen Schutzanzug schlüpfte und sein Gesicht hinter einem Vollschutzvisier und einer FFP2-Maske verbarg. Mit Gummihandschuhen bis über das Handgelenk drückte er die Türklingel des Infizierten. Noch nie hat er in dieser ehrfurchteinflößenden Montur gesteckt. „Zu Beginn war ich schon ein bisschen aufgeregt.“ Niemand wusste schließlich, ob die Schutzausrüstung wirklich vor Ansteckung bewahrt. Auch Besold hat von verstorbenem medizinischem Personal in China und Italien gelesen.

Wenn Deutschland bisher mit wirtschaftlichen und sozialen Blessuren einigermaßen glimpflich durch die Coronakrise gekommen ist, gibt es dafür vielschichtige Ursachen, die weit über das Abstandhalten hinausgehen. Ein Grund, weshalb Bürger im Corona-Callcenter überhaupt jemanden erreichen und weshalb Testzentren in den Städten betrieben werden können, sind nahezu 27.000 Studierende, die sich freiwillig meldeten. „Sie halfen und helfen in den Gesundheitsämtern, in Krankenhäusern, auch in Pflegeeinrichtungen und Praxen der größeren Städte“, berichtet Corinne Dölling vom Medizinischen Fakultätentag.

Viele Studierende melden sich als Helfer

Schon Anfang März richteten die Medizinischen Fakultäten der Hochschulen Internetplattformen ein, auf denen sich Studierende mit ihren Erfahrungen und Einsatzwünschen als freiwillige Helfer melden konnten. Bis Anfang April registrierten sich in vielen Städten über 17.000 Studierende. Vielerorts liegt die Zahl der Gemeldeten sogar höher als die Zahl der Immatrikulierten im Fach Medizin. „Auch verwandte Studiengänge wie Pflegewissenschaftler und Tiermediziner trugen sich im Zuge dieser beispiellosen Bewegung ein“, erklärt Dölling. In einem weiteren Portal der Bundesvertretung der Medizinstudierenden konnten sich Studierende zudem für andere Einsatzorte als ihren Studienort bewerben. Schließlich verbrachten nicht alle den Lockdown am Standort der geschlossenen Hochschule. Auf dieser Webseite sind nochmals 10.000 Personen registriert. Zwar sind Doppelzählungen nicht ausgeschlossen. Aber in Summe haben sich damit bis zu 27.000 studentische Helfer gemeldet.

Was sind das für Menschen, die in der Coronakrise Abstriche von Infizierten nehmen, während sich andere, gerade auch junge Menschen aus Angst vor einer Infektion zuhause abriegeln? Und was wäre ohne diese studentischen Helfer passiert?

Erleichtert und selten verärgert

Die meisten Patienten, die dem vermummten Besold im weißen Ganzkörperschutzanzug die Tür öffnen, staunen über den Anblick – und dann sind sie unglaublich erleichtert, berichtet er. Endlich jemand, mit dem sie ihre Sorgen teilen können. Sie haben viele Fragen. Wie schlimm kann das noch werden? Wie lange geht das noch? Überlebt der Ehemann? Wie damals, ein 53-jähriger Familienvater, immer fit und ohne Fehltage am Arbeitsplatz, lag auf dem Sofa. „Man hörte schon, dass er schwer atmet und es ihm nicht gut geht.“ Die ganze Familie war in Sorge. „Wir kommen jeden Tag vorbei und sobald sein Zustand sich verschlechtert, kommt er sofort ins Krankenhaus“, beruhigte Besold.

Er nimmt Blut ab und misst den Sauerstoffgehalt. Wenn der Wert zu sehr abfällt, ist das ein kritisches Zeichen. Er kontrolliert den Puls und hört die Lunge ab. Ein ärztliches Team am Universitätsklinikum Heidelberg entscheidet aufgrund der Daten und der Anamnese, ob der Patient ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Bis Mitte April sind es 30 Infizierte bei mehr als 450 Hausbesuchen, die über das Coronataxisystem stationär aufgenommen werden. „Die allermeisten erholten sich glücklicherweise zuhause wieder“, erzählt der 25-Jährige.

Nur selten reagieren Menschen entrüstet über seinen Besuch und wollen nicht, dass er mit seiner auffälligen Montur an ihrer Haustür klingelt. „Einzelne machen sich mehr Gedanken darüber, dass dann das ganze Dorf über sie spricht“, berichtet er. Besold versucht zu beschwichtigen und zu erklären, warum es ohne Schutzanzug nicht geht. „Sehr selten bleiben Patienten aggressiv. Dann informiere ich die Ärzte in der Klinik. Sie bieten den Betroffenen an, die Besuche bleiben zu lassen.“

Was wäre ohne die Studierenden passiert?

Im April fühlt Besold auf einmal ein Kratzen im Hals. Seine Familie ist beunruhigt. Sie hatte im Vorfeld schon Einwände gegen sein Engagement gehabt: Muss das sein? Ist das nicht zu gefährlich? Nun rufen sie jeden Tag an und bangen um seine Gesundheit. „Ich bin jung und gesund und gehöre nicht zur Risikogruppe“, entgegnet Besold. Aber erleichtert sind doch alle, als das Testergebnis negativ ausfällt. „Bis heute hat sich niemand von uns Coronataxifahrern infiziert“, betont er. Sein Vertrauen in die Schutzausrüstung ist deshalb gewachsen. Er fühlt sich nun sicher hinter den Spezialmaterialien, auch wenn sein Patient ihn heftig anhustet.

Was wäre gewesen, hätten sich nicht binnen weniger Tage 1100 Medizinstudierende in Heidelberg freiwillig gemeldet? Das Taxisystem gibt es namentlich nur dort. Aber wie würden die Städte ohne die Studierenden insbesondere die Kontaktnachverfolgung meistern und ihre Callcenter betreiben? Wo man auch nachfragt, allerorten sitzen an den Telefonen vornehmlich Medizinstudierende der höheren Semester – ob Dresden, Heidelberg oder Freiburg. Stefan Kramer vom Gesundheitsamt Rhein-Neckar rutscht auf die Frage, was ohne die Studierenden passiert wäre, ein gedämpftes Lachen mit einer Spur von Ernst und Ironie heraus: „Wir sind hier 50 Vollzeitkräfte. Zur Hochzeit der Pandemie im März und April hatten wir 100 Studierende als Helfer. Sagen wir so: Wir hätten die Kontaktverfolgung ohne sie nicht umsetzen können.“ Insgesamt halfen in Heidelberg 600 der 1100 Studierenden.

Da sich in den meisten Städten mehr Studierende meldeten, als gebraucht wurden – in Dresden etwa 320 von knapp 1000, gab es dank der vielen Freiwilligen sogar Luft nach oben auf dem bisherigen Höhepunkt der Pandemie. Allerdings gibt Kramer zu bedenken: „Vom Hörensagen weiß ich, dass einige Gesundheitsämter auch Vorbehalte hatten, hoheitliche Aufgaben auf Studierende zu übertragen. Sie wurden deshalb vielleicht nicht überall in dem Umfang abgerufen, wie sie gebraucht worden wären. Wir haben die Studierenden eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben lassen.“

Held oder Helfer?

Warum sich so viele Studierende meldeten, wohingegen sich andere aus Angst abschotteten? Besold wird nachdenklich. Die Bevölkerung zerfalle in zwei Lager, jene, die große Angst vor dem Virus haben, und jene, die es regelrecht verharmlosen. Mittelmaß beobachtet er zu selten. „Vielleicht, wenn man sich wissenschaftlich intensiv mit dem menschlichen Körper befasst, kann man sich einem solchen neuen Erreger eher mit Respekt, aber doch unaufgeregt nähern“, überlegt er. „Und die meisten meiner Kommilitonen und ich, wir studieren Medizin, weil wir Menschen helfen wollen. Es gibt also durchaus diese soziale Ader.“ Nach dem Abitur machte Besold ein freiwilliges soziales Jahr in einem Krankenhaus. Er war Klassen- und Schülersprecher und engagierte sich als Student in der Fachschaft. Aber auch das heroische und sensationelle Moment wirke, gesteht er. Später könne man den eigenen Kindern erzählen, „damals zuzeiten der Coronapandemie, war ich mit dabei und habe mithelfen können.“

Als er sich beim Gesundheitsamt meldete, wurden ihm zunächst eine Aufwandsentschädigung und ein Praktikantenvertrag in Aussicht gestellt. Seit kurzem ist Besold aber als sogenannter Famulant offiziell beim Gesundheitsamt Rhein-Neckar angestellt – zusammen mit derzeit 34 Studierenden.

Die Phase während des Lockdowns war für ihn eine der lehrreichsten Zeiten seines Lebens. „Die Dankbarkeit der Menschen gegenüber mir als Coronataxifahrer ist mit Abstand das Schönste, das ich je erfahren habe“, sagt er, „das Gefühl, wirklich helfen zu können.“ Trotzdem hat auch Besold manches entbehrt. Gewöhnlich spielt er Gitarre und Klarinette in verschiedenen Ensembles und trifft sich mit Freunden. „Eine JAM-Session geht natürlich online. Aber das Digitale ist ein Mittel der Not, nicht meins.“

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