Die Illusion von der Wirklichkeit: Weshalb unser Weltbild eine Inszenierung des Gehirns ist

Wir Menschen glauben, dass wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist. Doch das ist ein Irrtum. Unsere evolutionäre Geschichte, Sinnesorgane, Hirnstrukturen und Gedächtnis erschaffen für uns eine Wirklichkeit, die nur in unserem Kopf existiert – und die in vielerlei Hinsicht geschönt, getrickst und manipuliert ist. Aber diese Illusion hilft uns, zu überleben.

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Die Grafik in Blautönen zeigt das Porträt einer jungen Frau mit geschlossenen Augen, von rechts und von hinten kommt Licht. Der Kopf ist oben von braunen Blättern umhüllt, die wie Herbstlaub von einem Windhauch heruntergepustet zu werden scheinen

Im Jahr 1923 erscheint eine Publikation des französischen Psychiaters Jean Marie Joseph Capgras, mit der er auf einen verblüffenden Fall aufmerksam macht: Eine verheiratete Frau hatte eines Tages ihrem Mann erklärt, er sei gar nicht ihr Gatte, sondern ein Doppelgänger. Etwas später stellte die Dame fest, dass auch mit anderen Menschen in ihrer Umgebung etwas nicht stimmte: Mehrere Mieter in ihrem Haus, der Hausmeister, sogar ihre Kinder, seien entführt und durch genauso aussehende, aber fremde Personen ersetzt worden. Anhand dieser Symptome beschreibt der Psychiater erstmals das später nach ihm benannte Capgras-Syndrom, auch Doppelgänger-Syndrom genannt.

Die Frau, die Wasser als gefrorenen Eiszapfen sah

Zwei weitere, seltsame Fälle beschreibt der US-amerikanische Neurowissenschaftler Vilayanur S. Ramachandran in seinem Buch „Die Frau, die Töne sehen konnte“: Ein Mann vermochte nach einem Schlaganfall plötzlich keine Gesichter mehr zu erkennen – weder das das seiner Frau, noch das eigene. Dabei war seine Sehfähigkeit als solche nicht eingeschränkt: „Ich weiß, dass ich es bin“, sagte er beim Blick in den Spiegel, „Aber es sieht nicht aus wie ich“. Und eine Frau, die ebenfalls einen Schlaganfall erlitten hatte und eine weitgehend normale Sehfähigkeit besaß, vermochte keine Bewegungen mehr wahrzunehmen. Ein fahrendes Auto sah sie als Folge von Standbildern, das strömende Wasser, das sie in ein Glas goss, erschien ihr wie ein gefrorener Eiszapfen.

Die graphische Darstellung zeigt die schwarzen Silhouetten dreier identischer Männer in Hut und Mantel vor bleichgelbem Hintergrund. Die vordere Figur ist deutlich, die beiden rechts und links dahinter sind etwas verschwommen, die ganze Atmosphäre wirkt neblig-mysteriös.
Für manche Menschen scheinen vertraute Personen durch einen mysteriösen Doppelgänger ersetzt worden zu sein – wie die künstlerische Darstellung andeutet. Doch die Ursache liegt in einer Fehlfunktion des Gehirns, Capgras-Syndrom genannt

Hirnforscher können inzwischen erklären, wie solche seltsamen Phänomene zustande kommen. Beim Capgras-Syndrom etwa sind durch Erkrankung oder Unfälle Verbindungen zwischen Strukturen der Sehrinde, die für die Erkennung von Objekten notwendig sind, und der sogenannten Amygdala zerstört. Letztere Hirnstruktur ist für Emotionen zuständig, verbindet etwa angenehme oder unangenehme Gefühle mit einem Objekt. Ist nun die Verbindung zum Sehzentrum unterbrochen, kann das Gehirn zwar ein Gesicht erkennen, dieses aber nicht mehr mit den vertrauten Emotionen verbinden. Die Folge ist, dass – etwa im Fall der von Capgras beschriebenen Frau – der Mann, dem sie gegenüber steht, zwar aussieht wie ihr Gatte, aber keinerlei Emotionen auslöst und ihr daher fremd erscheint. Weil das Gehirn diesen Widerspruch nicht ertragen kann, flüchtet es in die Erklärung, der Mann müsse ausgetauscht worden sein, es müsse sich um einen Doppelgänger handeln.

Die Fälle zeigen, wie fragil unser Bild von der Wirklichkeit ist, wie schnell und erschütternd sich das verändern kann, was wir für die Realität halten. Nur ein kleiner Defekt in den Strukturen unseres Gehirns und plötzlich ist die Welt für die Betroffenen eine komplett andere. Capgras-Syndrom und die Sehstörungen nach Schlaganfällen sind nur drei Beispiele von vielen, die belegen, dass die von uns wahrgenommene Welt nur in unserem Gehirn existiert und sich auf dramatische Weise verändern kann. Doch das geschieht keineswegs nur, wenn in unserem Kopf etwas nicht richtig funktioniert. Sondern auch in unserem völlig normalen Alltag.

Jeder Mensch hat ein Loch in seinem Gesichtsfeld – und bemerkt es nicht

So besitzt jeder Mensch in seinem Auge einen sogenannten „blinden Fleck“. Das ist jene Stelle, an der der Sehnerv in den Augapfel eintritt. Dieser Nerv leitet Informationen, die von den lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut gesammelt werden, ans Gehirn weiter. Der Nerv selbst kann aber keine Lichtreize registrieren und deshalb müssten wir eigentlich dort, wo er in die Netzhaut mündet, ein Loch in unserem Sehfeld haben. Doch unser Gehirn gaukelt uns ein perfektes Gesichtsfeld vor. Auf der Website von Wikipedia zum Thema kann man in zwei einfachen Selbstversuchen testen, wie der blinde Fleck etwas verschwinden lässt oder wie das Gehirn eine Lücke im Gesichtsfeld ergänzt.

Die Grafik zeigt einen Schnitt durchs menschliche Auge: Links Hornhaut, Iris und Linse, dann der Augapfel in orange-rot, der mit der gelb gefärbten Netzhaut ausgekleidet ist. Rechts unten tritt der Sehnerv aus dem Augapfel heraus. Dort befindet sich der gelbe Fleck.
Durch die Linse des Auges fällt Licht auf die Netzhaut und bildet die Außenwelt ab. Doch dort, wo der Sehnerv mündet, kann die Netzhaut kein Licht registrieren und wir müssten eigentlich ein „Loch“ sehen. Unser Gehirn aber greift ein und gaukelt uns eine perfekte Rundumsicht vor
Die Grafik zeigt acht übereinanderliegende Reihen aus sich jeweils abwechselnden schwarzen und weißen Rechtecken.
Kaum zu glauben, aber die übereinanderliegenden Streifen sind alle gleich hoch und verlaufen parallel. Doch die leicht versetzte Anordnung der schwarzen und weißen Rechtecke führt unsere Wahrnehmung in die Irre und lässt die Linien schräg erscheinen
Die einfache Grafik zeigt links und rechts je einen orangen Kreis. Der linke ist von größeren, blaugrauen Kreisen umringt, der rechte von kleineren blaugrauen Kreisen.
Wie unser Auge – beziehungsweise das Gehirn – sich täuschen lässt: Die beiden orangen Kreise sind exakt gleich groß. Doch je nachdem, ob sie von größeren oder kleineren Kreisen umgeben sind, erscheinen sie unterschiedlich – so lässt sich auch die Illusion vom riesigen aufgehenden Mond erklären
Die Grafik zeigt die Form einer gelben Blumenvase vor schwarzem Hintergrund – oder zwei einander zugewandte Gesichter, je nachdem wie das Gehirn das Bild interpretiert
Was sehen Sie auf dem Bild? Je nachdem, mit welchen Erwartungen man darauf schaut, lassen sich eine Blumenvase erkennen oder die Silhouetten von zwei Menschen, die sich anschauen. Die Wirklichkeit ist nicht eindeutig
Vor dunklem Hintergrund ist der strahlend weiß gefiederte Kopf eines Greifvogels von der Seite zu sehen. Der mächtige, gelbe Schnabel ist geöffnet und zeigt nach rechts, ein großes Auge mit gelber Iris und schwarzer Pupille ist zu erkennen.
Vögel sehen die Welt mit anderen Auge als Menschen: Greifvögel etwa – hier ein Weißkopfseeadler – besitzen viel mehr Farbrezeptoren, sehen schärfer und können dreifach mehr Bilder pro Sekunde registrieren, Bewegungen daher wie in Zeitlupe wahrnehmen
Der Kopf einer hellgrünen Schlange ist in Nahaufnahme zu sehen. Die Schnauze ist nach links gerichtet, ihr Auge ist gelb mit einer schlitzförmigen Vertiefung und davor in Richtung Schnauze ist eine runde Vertiefung zu erkennen: Das Grubenorgan.
Manche Schlangen – wie Gumprechts grüne Grubenotter – vermögen Wärmestrahlung (Infrarot) zu sehen. Das leistet das vor dem Auge liegende Grubenorgan. Anhand der Strahlung spüren die Schlangen ihre Beute auf und töten sie mit einem gezielten Giftbiss
Das Foto zeigt neun Reihen mit je 15 winzigen Porträts von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft – insgesamt also 135 Gesichter.
Die meisten Menschen können sich eine riesige Zahl unterschiedlicher Gesichter merken, doch rund zwei Prozent ist das nicht möglich: Sie sind „gesichtsblind“ und müssen sich Bekannte anhand anderer Merkmale wie Stimme, Kleidung oder Gesten merken
Die Illustration zeigt vor einem Dämmerungshimmel mit rot angeleuchteten Wolken die dunkelgraue Silhouette eines Menschenkopfes von der Seite, dessen obere Schädelhälfte in kleine Puzzleteilchen zerfällt, welche in den Himmel fliegen.
Auch unsere Erinnerungen bestimmen, wie wir die Wirklichkeit erleben. Menschen, deren Kurzzeit-Gedächtnis zerstört ist, sind gefangen in der Gegenwart und erleben immer wieder dasselbe
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