Medikament lindert Folgen von Vernachlässigung

Werden neugeborene Ratten abgelehnt, vernachlässigen sie später oft auch ihren eigenen Nachwuchs. Forscher fanden jetzt heraus, dass ein epigenetisches Medikament dagegen hilft. Für Menschen ist es zwar ungeeignet, profitieren könnten sie von der Erkenntnis trotzdem.

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Eine Rattenmutter mit ihrem Wurf.

Michael Meaney lacht: „In meiner Heimat gibt es tatsächlich Clubs von Müttern, die ihre Babys lecken. Ich meine, so richtig ablecken, mit ihrer Zunge ablecken.“ Der Biopsychologe von der McGill University in Montréal, Kanada, ist an dieser absurden Mode nicht ganz unschuldig. Es waren seine berühmten Experimente mit Ratten aus den frühen 2000er Jahren, die zeigten, wie wichtig das Gefühl von Geborgenheit für das spätere Leben neugeborener Säugetiere sein kann, und welche molekularbiologischen Prozesse diesem Effekt zugrunde liegen.

Zumindest in den Grundzügen lassen sich viele von Meaneys Erkenntnissen auf den Menschen übertragen. Das sollte allerdings nicht so unreflektiert geschehen, wie im Fall der babyableckenden kanadischen Mütter. Menschen sind nun mal keine Ratten. Wir vermitteln unseren Kindern eine positive, feste und stabile Bindung nicht, indem wir unentwegt ihr „Fell“ pflegen, wie es Nagetiere tun. Wir kuscheln, tragen, wiegen, streicheln und stillen das Kind, reden und singen mit ihm, suchen den Blickkontakt und bieten Sicherheit und Geborgenheit, wenn es nach einem Ausflug in die große weite Welt danach verlangt.

Anders als bei Ratten kümmern sich bei uns natürlich auch nicht nur die Mütter um den Nachwuchs. Zu dem Aufbau einer sicheren Bindung tragen Väter, Großeltern oder andere Bezugspersonen ebenfalls bei. Wenn die Bindung gelingt, erhöhen wir die Chancen, dass unsere Kinder später im Leben besonders widerstandsfähig sind gegen Stresskrankheiten aller Art – von Depressionen über Angst- und Schlafstörungen bis zu Stoffwechsel- oder Herz-Kreislauf-Krankheiten und vermutlich sogar Krebs.

Dennoch eignen sich Nagetiere hervorragend als Modell, wenn es um die grundlegende Erforschung der frühkindlichen Prägung geht. Das haben nicht nur die Studien von Michael Meaneys Team gezeigt, sondern zahlreiche Arbeiten, die viele seiner Kolleg*innen aus aller Welt in den vergangenen Jahren publizierten.

Jetzt liefern die Hirnforscherinnen und Psychologinnen Samantha Keller, Tiffany Doherty und Tania Roth von der University of Delaware in Newark, USA, ein beeindruckendes neues Beispiel. Es gelang ihnen, negative psychosoziale Folgen, die eine frühkindliche Vernachlässigung bei erwachsenen Ratten hatte, mit Hilfe eines epigenetischen Medikaments rückgängig zu machen [1].

In einem bestimmten Hirnareal veränderte sich die Epigenetik

Ein paradoxer Effekt

Eine traurige Frau, die alleine in einem leeren Raum auf dem Boden kauert
Depressionen gehören zu den häufigsten und wichtigsten Stresskrankheiten.

Den Teufelskreis durchbrechen

Der berühmte Impuls des Michael Meaney

Unerwünschte Effekte bei gewöhnlichen Ratten

Vater und Mutter gehen mit Ihrer Tochter spazieren. Man sieht sie von hinten
Eine stabile Eltern-Kind-Bindung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder später im Leben eine hohe Resilienz entwickeln.

Und der Mensch?

Ein Weibchen des Europäischen Ohrwurms beschützt sein Gelege.
Zusatzinfo Ohrwürmer: Mangelhafte Brutfürsorge hat lebenslange Folgen für den Nachwuchs und führt oft dazu, dass in der nächsten Generation ebenfalls die Brutfürsorge leidet. Dieser Zusammenhang zeigte sich bereits in Experimenten mit vielen Wirbeltieren und gilt nicht selten auch für Menschen. Was Evolutionsbiologen von der Universität Mainz aber im Jahr 2015 publizierten, zeigt, wie universell die Zusammenhänge sind: Selbst Ohrwürmer – im Bild ein Weibchen des Europäischen Ohrwurms und sein Gelege – verändern sich, wenn sich ihre Eltern nicht ausreichend um sie kümmern. Und auch bei ihnen pflanzt sich dieses Verhalten auf weitere Generationen fort. Die harmlosen Insekten sind Nestflüchter. Allerdings passt die Mutter für gewöhnlich auf das Gelege auf und beschützt und füttert später sogar die heranwachsenden Larven. Dieses aufwändige Verhalten muss Vorteile haben, sonst hätte es sich in der Evolution nicht durchgesetzt. Doch das ist zumindest auf den ersten Blick und unter Laborbedingungen, bei denen die Tiere mutterlos aufwachsen, aber jederzeit ausreichend Futter erhalten, nicht der Fall, sagt Jos Kramer, einer der Autoren: „Überraschenderweise sind die Nachkommen sogar größer und haben längere Zangen am Hinterleib. Der Verlust der Mutter ist unter unseren Laborbedingungen positiv.“ Bei Säugern haben vernachlässigte Nachkommen überwiegend Nachteile, und das hatten die Mainzer eigentlich auch bei den Ohrwürmern erwartet. Womöglich soll das stärkere Wachstum aber kompensieren, dass die Tiere weniger gut beschützt sind und in eine besonders harte Umwelt hineinwachsen. Schon vor Jahren gelang Eunice Chin und Kollegen von der kanadischen Trent University ein ähnliches Experiment bei Vögeln: Die Forscher spritzten Stresshormone in die Eier von Staren und zeigten, dass die schlüpfenden Vögel besonders kräftige und große Flügel bekamen. In der Theorie geben gestresste Muttertiere ihren Küken auf diesem Weg eine Botschaft darüber mit, dass die Umwelt derzeit besonders ungemütlich ist. Wenn die Küken groß sind, sollten sie deshalb vielleicht besser davonfliegen und sich neue Reviere suchen. Dabei können kräftige Flügel und Flugmuskeln sicher nutzen. Ohne Bedrohung macht es dagegen mehr Sinn, Energie und Ressourcen zu sparen und gewöhnliche Flügel auszubilden. Auch bei Ohrwürmern müssen also negative Konsequenzen drohen, wenn die Brutfürsorge ausbleibt. Und tatsächlich zeigen sich solche Nachteile in der nächsten Generation: Ohrwürmer, die ohne Mutter aufgewachsen sind „kümmern sich generell schlechter um ihren Nachwuchs, sie füttern weniger und verteidigen ihre Kinder weniger effektiv“, sagt Ko-Autorin Julia Thesing. Unter natürlichen Bedingungen dürfte das ein klarer Nachteil sein, den ja das größere Wachstum vermutlich kompensieren soll. Ein weiteres Resultat klingt auf den ersten Blick kurios, ist aber wissenschaftlich äußerst interessant: Ohrwurm-Pflegemütter, die Jungtiere aus verschiedenen Gelegen beaufsichtigen, kümmern sich um jene Junge besser, deren Eltern von den Großeltern nicht vernachlässigt wurden. Irgendetwas haben diese winzigen Ohrwürmchen von ihren Eltern – denen sie nie begegneten – geerbt, was sie nun anders macht als die anderen Nachkommen. Für Jos Kramer spricht das dafür, dass epigenetische Prägungen verantwortlich für die systematischen Verhaltensunterschiede der Insekten sind. Vielen aktuellen Studien zufolge werden solche epigenetische Prägungen nämlich mitunter auch biologisch vererbt und wirken noch Generationen später nach. (Quelle: Newsletter Epigenetik 01/2016, www.newsletter-epigenetik.de)

Quellen