Die Zukunft braucht unsere Hilfe

Rezension von Jonathan Franzens Essayband „Das Ende vom Ende der Welt“

8 Minuten
Hochwasser an der Elbe im Sommer 2013: ein Baum ragt aus dem Wasser.

Klimaschutz sei hoffnungslos, schreibt der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen in einem neuen Essayband. Ihn interessiert nicht, was in 50 Jahren geschieht. Er schützt lieber die Natur, die heute schon bedroht ist. Das ist gut gemeint, aber falsch.

Vor gut einer Woche haben sich die Mitglieder von amnesty international in Stuttgart zur Jahresversammlung getroffen. Zur Debatte stand unter anderem, ob der Verein auch zum Klimawandel arbeiten sollte. Viele junge Mitglieder sind dafür, weil sie in der Klimakrise eine Menschenrechtskrise sehen. Auch der Generalsekretär Kumi Naidoo, der früher Greenpeace geleitet hat, unterstützt das Anliegen: Die Erderwärmung untergrabe die Menschenrechte, daher müsse die Organisation etwas dagegen unternehmen [Q1].

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sind nicht nur die Meinungsfreiheit und das Wahlrecht festgeschrieben, sondern auch das Recht auf einen Lebensstandard, der allen Menschen Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztlicher Versorgung [Q2]. Dieser Lebensstandard und nicht zuletzt das Leben vieler Menschen ist in Gefahr, wenn die Temperaturen steigen und Naturkatastrophen häufiger werden.

Ich erzähle das, um in die Essays des US-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen einzustimmen: Auch er beschäftigt sich mit dem Klimawandel und dem drohenden Leid der Menschen. Vor allem schildert er persönliche Erlebnisse, um seine Botschaft zu untermauern. Diese Botschaft halte ich für verkehrt, und sie ist schon von vielen Rezensenten vor mir kritisiert worden. Franzen selbst schreibt im Rückblick: „Ich bin nicht in sozialen Netzwerken unterwegs, aber meine Freunde berichteten mir, ich würde als alles Mögliche beschimpft, etwa als Spatzenhirn und als Klimawandelleugner.“ Doch gerade, wenn einem etwas völlig klar zu sein scheint, lohnt es sich, über die Gründe nachzudenken.

Ein Mittel gegen die Hoffnungslosigkeit

Als amnesty-Mitglied habe ich während der Jahresversammlung mein Wohnzimmer für Übernachtungsgäste zur Verfügung gestellt, und mit einem meiner Gäste dort über den Klimawandel diskutiert. Er sagte, es gebe schon so viele politische Gefangene und Folteropfer, um die sich der Verein kümmern müsse. Mit dem Klimaschutz als zusätzlichem Thema würde man sich verzetteln. Mein Gast nannte mir auch ein einleuchtendes ethisches Prinzip: Er versuche dort zu helfen, wo die Not am größten sei. Er buchstabierte das Prinzip nicht aus, aber die Argumentation schien mir klar zu sein: Bei einem politischen Gefangenen, der zu Unrecht im Gefängnis sitzt, ist die Not groß. Ihn freizubekommen ist ein ehrenwertes Ziel. Doch wem ist geholfen, wenn ich auf ein Steak oder eine Autofahrt verzichte und so meine CO2-Bilanz verbessere?

Auf ähnliche Weise, wenn auch etwas obskurer, argumentiert Jonathan Franzen. In seinem Essay „Das Ende vom Ende der Welt“, das einem neuen Sammelband seinen Titel gibt [Q3], erzählt er die Geschichte seines verstorbenen Onkels Walt und dessen Frau Fran – und parallel dazu die Geschichte einer Antarktis-Kreuzfahrt mit seinem Bruder Tom. Die beiden Geschichten hängen zusammen, weil Franzen die Kreuzfahrt aus der Erbschaft seines Onkels bezahlt hat.

Es gibt auch eine inhaltliche Parallele: Die Kreuzfahrt ist so eintönig wie die Ehe des Onkels, die nur durch den frühen Tod der einzigen Tochter zusammengehalten wurde. Der lebenslustige Walt hat sich nie getraut, seine verbitterte Frau zu verlassen, doch er bewahrte sich seinen Mut. Ebenso gab es auf Franzens dreiwöchiger Antarktis-Expedition keinen Ausweg, aber wenigstens ein bisschen Erregung: neben der Sichtung eines Kaiser-Pinguins erwähnt Franzen die Bridge-Spiele, in denen seine Partnerinnen zu fluchen wussten. „Lass mich mein Blatt spielen, du Scheißer“, zitiert er eine von ihnen.

Cover der Essay-Sammlung „Das Ende vom Ende der Welt“ von Jonathan Franzen
Cover der Essay-Sammlung „Das Ende vom Ende der Welt“ von Jonathan Franzen

Franzen gefällt die Derbheit, ebenso wie er seinen Onkel Walt ins Herz geschlossen hat, weil der das Leben liebte. Das Essay endet mit einer Szene aus einem Seniorendomizil, in dem Walt die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, nachdem seine Frau in ein Pflegeheim gekommen war: „Ich sehe ihn vor mir“, schreibt Franzen, „in Südflorida am Klavier, wo er sein breites Grinsen aufblitzen ließ und die alten Schlager raushaute, zu denen die Witwen aus seiner Apartmentanlage tanzten.“ Diese Lebensfreude ist für Franzen zentral. Er sieht darin einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit: das Ende vom Ende der Welt.

In einem Punkt stimme ich Franzen zu: Es nützt nichts, immer wieder zu beteuern, dass uns noch genug Zeit bleibe für eine Wende im Klimaschutz [Q4]. Doch während ich hoffe, dass es uns gelingt, realistische Klimaziele zu formulieren, um die schlimmsten Klimaschäden zu vermeiden, lässt Franzen alle Hoffnung fahren. Er ist davon überzeugt, dass die Klimakrise sehr schwer zuschlagen wird, und bezeichnet die Erderwärmung als „vielleicht das größte Problem in der Geschichte der Menschheit“. Doch er hält es für aussichtslos, etwas dagegen zu unternehmen: „Die Überhitzung des Planeten ist eine ausgemachte Sache.“ Mit Vernunft komme man nicht weiter, die Hoffnung der Aufklärung breche vor dem Problem des Klimawandels in sich zusammen.

Franzens Botschaft lautet vielmehr: Das Ende der Welt kommt früh genug, kümmert euch einstweilen lieber um das Leben! Schützt Regionen, in denen wilde Tiere und Pflanzen überleben, auch wenn ihr durch eure CO2-Emissionen „die humanitäre Katastrophe geringfügig beschleunigt“. Diese Strategie mache das Leben nicht nur lebenswert, argumentiert Franzen, sondern sie halte auch das eine oder andere Ökosystem intakt für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir durch ein Wunder die schlimmsten Klimaschäden doch noch abwenden.

Wie mein Übernachtungsgast von amnesty international formuliert auch Franzen ein ethisches Prinzip: Da er persönlich nur 0,0000001 Prozent der globalen CO2-Emissionen zu verantworten habe, müsse er künftige Klimaschäden nicht wiedergutmachen, schreibt er im Essay „Rette, was du liebst“. „Ohne Hinweis auf einen konkreten von mir verursachten Schaden ist das intuitiv moralisch Richtige doch hierin zu sehen: das Leben zu leben, das mir geschenkt wurde, ein guter Bürger zu sein, meinen Mitmenschen freundlich zu begegnen und die Natur so gut zu schützen, wie ich kann.“

Diese Argumentation ist von vielen kritisiert worden, etwa von Bill McKibben in der New York Times [Q5]: Wenn Franzen das Klima nicht schützen wolle, solle er wenigsten nicht im Weg stehen, wenn es andere tun, schreibt der Klimaaktivist. Hier sei ein Kampf um Geld und Einfluss im Gange, den der zurückgezogene Schriftsteller gar nicht wahrnehme.

Auch mit den Fakten setzt sich Franzen nicht gründlich auseinander. Sein Lieblingsbeispiel sind die Vögel, die er als Hobby beobachtet: Sie seien weniger vom Temperaturanstieg bedroht als vielmehr vom Verlust ihrer Lebensräume und durch frei herumlaufende Katzen. Hier müsse der Artenschutz ansetzen, argumentiert er. Mein Kollege Thomas Krumenacker hat hingegen an Beispielen gezeigt, dass der Klimawandel durchaus den Vögeln schadet [Q6]. An einer anderen Stelle fordert Franzen indirekt, Kinder in die Welt zu setzen, auch wenn es für das Klima besser sei, das nicht zu tun. Er übernimmt hier kritiklos die These, dass der Verzicht auf Kinder die effektivste Einzelmaßnahme zum Klimaschutz sei. Mein Kollege Christopher Schrader hat untersucht, auf welch wackeligen Füßen diese These steht [Q7].

Warum sich Menschen engagieren

Doch in dieser Rezension möchte ich auf einen anderen Kritikpunkt hinaus. Ich möchte fragen, was von den beiden ethischen Prinzipien zu halten ist, die ich zitiert habe. Sie ähneln sich, weil beide die greifbare Not um einen herum in den Vordergrund stellen. Meinen Übernachtungsgast motiviert das Prinzip zum Einsatz für die Menschenrechte, weil ihn das Unrecht wütend macht. Franzen wiederum motiviert das Prinzip zum Artenschutz, weil er damit die Vögel retten kann, die er liebt. Doch obwohl beide Prinzipien gut gemeint sind, lassen sie eine wichtige Perspektive außer Acht: die Perspektive der künftigen Generationen.

Franzen beginnt damit, dass sein persönlicher Beitrag zum Temperaturanstieg minimal sei. Das stimmt natürlich, doch die Verantwortung bemisst sich nicht allein an persönlicher Schuld. Mein Übernachtungsgast von amnesty international setzt sich freiwillig für die Menschenrechte ein – einfach weil er sich in der Lage sieht, etwas Gutes zu tun. In ähnlicher Weise könnten die Industrienationen handeln: Sie sind technologisch und wirtschaftlich fähig, schwächeren Ländern zu helfen – auch daraus kann Verantwortung entstehen. Der Beitrag eines einzelnen Bürgers mag so gering sein wie der Effekt eines einzelnen amnesty-Appellbriefs, doch wenn viele Menschen an einem Strang ziehen, können sie Großes bewirken.

Lassen wir also die persönliche Schuld außen vor und fragen, ob es genügt, seinen Mitmenschen freundlich zu begegnen, wie es Franzen behauptet. Aus seiner Sicht ergibt Klimaschutz nur Sinn, wenn Menschen (oder Tiere oder Pflanzen) betroffen sind, die ihm etwas bedeuten. Das klingt egoistisch, doch so sind Menschen als soziale Wesen tatsächlich gestrickt: Uns sind unsere Mitmenschen näher als Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Daraus dürfen wir aber nicht folgern, dass dieses Verhalten das richtige wäre. Das Leid künftiger Generationen sollte uns genauso viel bedeuten wie das Leid, das wir heute auf der Welt sehen. Wir sollten die künftig Lebenden nicht aus der ethischen Gleichung ausklammern, bloß weil wir sie nicht kennen und daher auch nicht lieben können.

Helfen, wo die Not am größten ist

Der Philosoph Dieter Birnbacher macht das in seinem Buch „Klimaethik“ an den Menschenrechten deutlich [Q8]: Sie sichern allen Menschen ein Mindestmaß an Rechten zu, unter deren Schutz sie sich die Grundbedürfnisse des Lebens erfüllen können. Das reicht vom Dach über dem Kopf bis zur Teilhabe an politischen Entscheidungen. Diese Grundbedürfnisse, argumentiert Birnbacher, dürften auch in Zukunft dieselben sein. „Daher sollten den künftig Lebenden auch dieselben Rechte zukommen wie den gegenwärtig Lebenden.“

Wenn künftig aber Menschen nach Dürren oder Überschwemmungen ihre Heimat verlassen müssen, dann sind sie auch Opfer unserer Klimapolitik. Es wird zwar nicht möglich sein, eine direkte kausale Linie von der politischen Entscheidung der Gegenwart zur Naturkatastrophe der Zukunft zu ziehen. Aber die allgemeinen Auswirkungen der Klimapolitik werden sichtbar, vielleicht sogar quantifizierbar sein. Und das bedeutet für Birnbacher: „Eine Klimapolitik, die zukünftige Menschen dazu zwingt, Zuflucht in klimatisch weniger belasteten und ökonomisch bessergestellten Ländern zu suchen, ist moralisch nicht weniger bedenklich als eine Klimapolitik, die vergleichbare Belastungen Landsleuten auferlegt.“

Im Unterschied zu Franzens Beschränkung auf die Rechtschaffenheit gefällt mir das Prinzip meines Übernachtungsgasts: Er will helfen, wo die Not am größten ist. Ich bette dieses Prinzip aber in eine andere Argumentation ein: Weil die Klimakrise die Lage der Menschenrechte verschärfen wird, verpflichtet uns dieses Prinzip zum Klimaschutz. Die Zukunft braucht unsere Hilfe – sogar mehr als die Gegenwart.

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