Haben alle Menschen, die das Robert-Koch-Institut als „genesen“ zählt, Covid-19 wirklich überstanden?

Viele PatientInnen, die in der Statistik als genesen gelten, sind von „Long Covid“ betroffen und leiden für Wochen oder Monate an der Krankheit

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Das Symbolfoto stellt einen Patienten auf der Intensivstation eines Krankenhauses dar. Ein Monitor stellt Informationen über seinen Gesundheitszustand dar.

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Kurze Antwort

Viele Menschen, die das Robert-Koch-Institut in seiner Statistik als „genesen“ zählt, haben Covid-19 nicht wirklich überstanden. Es handelt sich bei den Zahlen des RKI nämlich nur um eine pauschale Schätzung des Krankheitsverlaufs, nicht um eine Berechnung auf der Grundlage von Arztberichten. Die Belege und Studien mehren sich, dass ein erheblicher Teil der Menschen, die mit dem Virus SARS-Cov-2 infiziert waren, mit längerfristigen gesundheitlichen Problemen konfrontiert ist. Dazu zählen Herzerkrankungen, kognitive Störungen, Blutgerinnungsstörungen und Erschöpfungszustände. Die pauschale Behauptung des RKI, alle Erkrankten seien nach einer kurzen Zeit genesen, ist daher falsch und verharmlost die Krankheit. Eine korrekte Formulierung in der Statistik wäre „nicht mehr infektiös.“

Erklärung

Es ist inzwischen medizinisch anerkannt, dass Covid-19 nicht mit der Phase der akuten Infektion beendet sein muss. Ein erheblicher Teil der Betroffenen hat über Wochen und Monate ernsthafte Probleme. Die US-amerikanischen Centers for Disease Control an Prevention haben im Herbst 2020 eine umfassende Liste Problemen des sogenannten „Long Covid" vorgelegt. Dazu zählen als häufige Probleme Erschöpfungszustände, Kurzatmigkeit, Husten, Brustschmerzen und Gelenkschmerzen. Zudem könnten kognitive Probleme („brain fog“ genannt), Depressionen, Kopf- und Muskelschmerzen, Fieberschübe und Herzrasen auftreten. Seltener träten Herzmuskelentzündungen, Lungen- und Nierenprobleme, Hautausschläge, fortgesetzte Einschränkungen des Geruchs- und Geschmackssinns, Schlafprobleme und weitere psychische Probleme wie Angststörungen auf.

Long Covid sei „ein reales und ziemlich verbreitetes Phänomen“, sagte der führende US-amerikanische Corona-Experte Anthony S. Fauci Anfang Dezember 2020 bei einer Tagung.

Die Webseite des Robert-Koch-Instituts zur Corona-Pandemie bietet aber einen anderen Eindruck. Dort ist in einer grün gefärbten Rubrik von „Covid-19-Genesenen” die Rede. Der Webseite zufolge ist derzeit der allergrößte Teil der Menschen, die sich mit Sars-CoV-2 infiziert haben, nicht mehr daran erkrankt. Doch das ist eine Schätzzahl und nicht, wie es in manchen Medienberichten hieß, eine Zahl der „nachweislich Genesenen". Die Angabe gründet nämlich nicht auf Berichten von Krankenhäusern und Ärzten darüber, dass PatientInnen wieder vollständig von Covid-19 genesen sind und kein „Long Covid“ haben. Vielmehr geht das RKI von pauschalen Fristen aus, nach denen ein Erkrankter die Krankheit überwunden haben sollte. Das dient dazu, den Verlauf der Epidemie grob abzuschätzen, vor allem hinsichtlich der Frage, wie viele Menschen noch ansteckend sind. Die sich daraus ergebende Zahl gibt aber keine Informationen über die individuellen Verläufe.

„Je nach Verfügbarkeit werden in Abhängigkeit von Erkrankungsbeginn beziehungsweise Meldedatum feste Zeitintervalle addiert, wobei angenommen wird, dass der Großteil der Personen in diesem Zeitraum bereits wieder genesen ist“, teilte das RKI auf Anfrage von RiffReporter mit. Anlass für die Anfrage vom Mai 2020 war ein Bericht im Science Magazine über Langzeitfolgen von Covid-19.

Viele Covid-19-PatientInnen haben die Krankheit nicht schon nach zwei Wochen überstanden

Menschen, die nicht zur Behandlung stationär ins Krankenhaus müssen, gelten der Zählmethode des RKI zufolge pauschal 14 Tage nach Erkrankungsbeginn als genesen. Bei Menschen, bei denen kein Erkrankungsbeginn bekannt ist, werden ab dem Meldedatum der Krankheit 14 Tage addiert, bis sie entsprechend eingestuft werden.

Menschen, die zur Behandlung stationär ins Krankenhaus müssen, auch solche mit Behandlung auf der Intensivstation, gelten 7 Tage nach ihrer Entlassung als genesen. Liegen zum Datum der Einweisung ins Krankenhaus keine Informationen vor, werden auf Erkrankungsbeginn oder Meldedatum 28 Tage addiert.

Das RKI begründete diese pauschalen Fristen im Frühjahr 2020 zunächst mit dem aktuellen Wissen über die Krankheit. So hat die Weltgesundheitsorganisation Daten aus China ausgewertet: Bei milden bis mittelschweren Verläufen beträgt die Zeit bis zur Genesung demnach zwei Wochen, in schwereren Fällen drei bis sechs Wochen.

Im Herbst 2020 teilte das RKI auf eine neuerliche Anfrage hin mit, „Genesene“ sei zu verstehen „als Menschen, die die akute Infektion überstanden haben“. Es gebe verschiedene Projekte zu Langzeitfolgen. In die Meldedaten gingen Langzeitfolgen jedoch nicht ein und würden auf diesem Weg nicht systematisch erfasst. Im Dashboard steht in einem weniger gut sichtbaren Bereich: „Da im Einzelfall auch deutlich längere Erkrankungsverläufe möglich sind, bzw. die hier genutzten Informationen nicht bei allen Fällen dem RKI übermittelt werden, sind die so berechneten Daten nur grobe Schätzungen für die Anzahl der Genesenen und sollten daher auch nur unter Berücksichtigung dieser Limitationen verwendet werden." Im RKI-Steckbrief der Krankheit steht, dass an Covid-19 Erkrankte auch Wochen oder Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können. Aber auch das werden deutlich weniger Menschen sehen als die leuchtend grüne und prominent platzierte Zahl der angeblich „Genesenen“.

Mit der Verwendung des Begriffs „Genesene“ widerspricht das RKI der eigenen Definition von Genesung als „zählbarer Abgang aus der Menge der Erkrankten/Betroffenen und Rückkehr in die Bevölkerung unter Risiko“. Denn weder wird aktuell die Zahl der wirklich Gesunden konkret ermittelt noch kann beim sogenannten „Long Covid“ von einem „Abgang aus der Menge der Erkrankten“ gesprochen werden.