Extreme Darstellungen dienen der Debatte. Das ist die Aufgabe von Kunst.
Der niederländische Künstler Erik Kessels spricht im Interview über drastische Veränderung der Rolle der Fotografie von einem bewahrenden Medium zu einer schnelllebigen, geteilten Erfahrung. Er betont die Notwendigkeit, im Umgang mit KI klare Ideen zu haben. Außerdem: seine kreative Herangehensweise, die Nutzung persönlicher und gefundener Bilder für Kunstwerke, und die Bedeutung von Leidenschaft und Authentizität in der künstlerischen Arbeit.
Erik Kessels ist ein niederländischer Künstler, Kurator und Kreativdirektor, bekannt vor allem für seine innovative Arbeit im Bereich der Fotografie und Gestaltung. Geboren 1966 in Roermond, hat Kessels sich einen Namen gemacht durch seine unkonventionelle Herangehensweise an Fotografie und seine Fähigkeit, alltägliche Bilder in neue und oft überraschende Kontexte zu setzen. Als Mitbegründer der renommierten Werbeagentur KesselsKramer in Amsterdam hat er eine Vielzahl von preisgekrönten Kampagnen geleitet und dabei seinen einzigartigen Stil geprägt.
Kessels' Arbeit zeichnet sich durch einen spielerischen und oft humorvollen Umgang mit gefundenen Fotografien aus, die er in neuen Kontexten präsentiert, um deren ursprüngliche Bedeutung zu hinterfragen und neue Geschichten zu erzählen. Seine Ausstellungen und Publikationen, wie die berühmte „In Almost Every Picture“-Serie, haben weltweit Beachtung gefunden. Darüber hinaus hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, die seine Projekte und Ansichten zur zeitgenössischen Fotografie dokumentieren.
Herr Kessels, dieBedeutung von Bildernerlebt einen Wandel – das machen Sie durch Ihre Arbeit deutlich. Welche Bedeutung würden Sie heute der Fotografie beimessen?
Erik Kessels: Gegenüber der Zeit der analogen Fotografie hat sich die Bedeutung des Bildes komplett gewandelt. Etwa achtzig Jahre lang haben wir Familienalben gemacht. Die waren sehr privat, gemacht für nur wenige Betrachter. Vielleicht zehn Personen sahen sich so ein Album an, verteilt über das ganze Leben. Heute leben wir in der Zeit der Bilderflut. Die Menschen sehen heute vor dem Mittagessen schon mehr Bilder als Menschen im achtzehnten Jahrhundert in ihrem ganzen Leben. Das Foto ist heutzutage nicht mehr da, um es aufzubewahren. Es ist da, um geteilt zu werden. Das bedeutet, ihre Lebensdauer ist viel geringer.
Wie ordnen Sie das ein?
Kessels: Egal, ob das gut oder schlecht ist, das ist heute die Rolle der Fotografie. Ein Foto zu machen ist heute so normal wie in die Hände zu klatschen. Mit der analogen Kamera passte man wirklich einen Moment ab. Es benötigte Zeit, um ein Bild zu machen. Heute bemerken die Leute das ja nicht einmal mehr.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Krativität vollends von meiner Stimmung abhängig ist. In Ihrer Arbeit geht es viel um Humor. Wie schafft man es, ein Leben lang lustig zu sein?
Kessels: Mir geht es wie jedem anderen auch manchmal schlecht. Aber um etwas mit extremen Gefühlen zum Ausdruck zu bringen, musst du dafür gemacht sein. Wenn du sehr negativ oder frustriert bist, sind das nicht die besten Voraussetzungen für kreatives Arbeiten.
Ist es heute nicht leichter, witzige Bilder mit Künstlicher Intelligenz zu generieren?
Kessels: Gerade im Umgang mit KI musst du vorab genau wissen, was du willst. Du brauchst eine klare Idee, musst wissen, womit du die KI fütterst. Die KI funktioniert wie ein Tool, das Anweisungen entgegennimmt. Dann halluziniert es. Wenn du eine starke Idee hast, kann es funktionieren. Aber 99 von 100 Leuten werden davon nicht profitieren. Die meisten verwenden KI mit großen Augen, weil sie davon fasziniert sind, wie schnell und fantastisch das ist. Mit „fantastisch“ meine ich, dass das Werkzeug der KI jeden beeindrucken kann. Dies ist die erste Reaktion darauf. Wenn man der KI irgendetwas vorgibt, entstehen Bilder und Texte ohne jegliche Bedeutung. Ich nenne das „statistische Halluzinationen“. Du brauchst auch bei diesem Tool den persönlichen Input, damit etwas Sinnvolles herauskommt.
Sie haben einmal ein Bild Ihrer verstorbenen Schwester für ein Kunstwerk verwendet. Hat das als Therapie funktioniert?
Kessels: Ich eigne mir gern Bilder an. Bilder, die normalerweise einen anderen Kontext haben, bringe ich in einen ganz anderen Zusammenhang. Dadurch ändert sich die Bedeutung. Ich habe zweimal eine Arbeit über meine Schwester gemacht, die elf Jahre alt war, als sie starb. Damals war ich neun . Sie kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Als Künstler ist es ein guter Weg, die Dinge der eigenen Vergangenheit zu verwenden. Ein Taxifahrer müsste dafür vielleicht einen anderen Weg finden. Als Künstler kannst du deine Gefühle visuell umsetzen.
Wie machen Sie das?
Kessels: Das habe ich getan, indem ich mir einige Bilder von ihr angeeignet habe, die mein Vater gefilmt hat. In einer anderen Ausstellung habe ich das letzte Bild von ihr gezeigt. Ich nehme ja selbst fast nie Bilder auf. Mein Interesse liegt im Suchen und Finden von Geschichten und darin, den Kontext eines existierenden Bildes zu verändern.
Ein Bekannter von mir hat Probleme damit, sich die eigenen Familienbilder anzusehen. Er erzählte mir, dass ihm einmal Bilder entgegen fielen, als er ein Buch aus dem Regal nahm. Sie erschienen ihm wie Zombies. Bilder wecken somit auch negative Gefühle.
Ich bin wie ein visueller Archäologe. Ich grabe und bringe Dinge an die Oberfläche.
Kessels: Nicht in meinem Fall. Ich besitze eine Sammlung von etwa 15.000 Familienalben. Ich schaue sie mir als Außenstehender drauf und suche darin nach Geschichten. Die können lustig sein, seltsam oder tragisch. Ich sehe mich dann eher als visueller Archäologe. Ich grabe und bringe Dinge an die Oberfläche. Oft zeige ich so, welches Verhalten normale Leute an den Tag legen oder dass die Realität oftmals seltsamer ist als die Fiktion.
In IhrerAusstellung in Düsseldorfsind überdimensionale Bilder aus Familienalben zu sehen. Welche Bilder haben Sie da groß gemacht?
Kessels: Die Gruppenausstellung heißt „Size Matters“. Ich stelle das Familienalbum als Phänomen dar. Die Originalgröße der Alben ist für mich nicht interessant. Manche Bilder mache ich dann riesengroß und hole sie aus ihren Proportionen heraus. Manche lege ich auf einen Teppich, über den man gehen kann. Manche werden als Tapeten gedruckt. Durch diese Methode will ich den Besucher dazu bringen, genauer hinzusehen. Würde ich ein Album in eine Vitrine stellen, wäre es ein Objekt. Wenn ich mit den Alben kommunizieren will, nehme ich Bilder aus dem Kontext und ändere diesen. So werden alte Bilder der neuen Zeit angepasst.
FdF: Sie sind Werber, Foto-Künstler und Redner. Wie wichtig ist Design für Sie?
Kessels: Als jemand, der aus der Werbebranche kommt, habe ich Kommunikation von der Pike auf gelernt. Das sind die Werkzeuge, die ich verwende, und zwar in der richtigen Reihenfolge. Als erstes ist da die Idee. Dann musst du dir darüber klar werden, wie du die Idee vermittelst, welches Storytelling du verwendest. Danach machst du dir Gedanken darüber, wie du die Idee umsetzen kannst. Mit welcher Art von Design. Deswegen ist das Design nie der Ausgangspunkt, obwohl viele Leute das so machen, da es viele Tools gibt, die das ermöglichen. Das finde ich dann immer etwas komisch.
Warum?
Kessels: Wie gesagt: Als erstes brauchst du die Idee. Anders gesagt, du brauchst immer zuerst die Wand, dann erst kannst du sie bemalen. Das Design dient dieser Idee, ersetzt sie aber nicht. Übrigens handhabe ich es oft so, dass ich das Design aus der Hand gebe, wenn ich selbst nicht weiterkomme. Dafür gibt es ja Designer. Du musst nicht alles allein machen.
An welchem Punkt sehen Sie sich selbst? Mehr Ideen-Geber oder Umsetzer?
Kessels: Ich habe keine Ahnung, wie ich mich sehe. Manchmal werde ich gefragt, was genau ich eigentlich mache, und ich empfinde es als luxuriös, nicht auf eine Sache festgelegt zu sein. In der Werbung war ich Creative Direktor, Art Direktor, Designer, Collector, Kurator und Künstler. Jetzt bin ich Künstler, aber auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Manchmal bin ich mein eigener Manager, Producer oder Selbstdarsteller. Das ändert sich laufend.
Sie haben Bilder von operierten Gesichtern in einem Skatepark ausgestellt. Auf den Boden aufgeklebt, so dass andere darüberfahren konnten. Das hat viel Kritik hervorgerufen – es wurden sogar Unterschriften gesammelt, um das zu verhindern. Sehen sie diese Installation auch als eine öffentliche Zerstörung von Bildern des Individuums?
Kessels: Ich durfte eine öffentliche Arbeit zu einem sozialen Thema gestalten. Ich hatte mir „Schönheitsoperationen“ zum Thema gesetzt. Dabei geht es um Selbstakzeptanz. Während meiner Recherche zum Thema stieß ich darauf, dass die Leute, die sich Operationen unterziehen, immer jünger werden und mit dem Smartphone in der Hand in der Klinik erscheinen und so aussehen wollen wie auf einem Instagram-Filter. Und ich dachte darüber nach, ob nicht die Linien und Falten, die ein jeder von uns im Gesicht hat, Ehrenabzeichen sind. Daran arbeitete ich ein Jahr lang. Die Idee war, 60 Bilder auf den Boden eines Skateparks zu legen, so dass sechs Wochen lang Skater mit ihren Boards darüberfahren könnten. Die Bilder würden dann natürlich altern und wieder Falten bekommen. Bei dem Projekt ging es um viel Geld und die Vorbereitung dauerte lange. Die Idee, über Bilder zu laufen, war bei mir immer ein Teil meiner Arbeitsweise.
Ich sehe die Aufgabe von Kunst darin, durch eine extreme Darstellung eine Debatte über ein Thema auszulösen.
Wie reagieren sie auf den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit?
Kessels: Gegen Ende der Corona-Pandemie protestierten zwei Frauen kurz nach der Eröffnung der Ausstellung gegen die Arbeit. Ihre Forderung war, die Arbeit abzubauen. Ich war sehr offen, auch mit Menschen über meine Arbeit zu diskutieren, wenn sie bei ihnen Hassgefühle hervorruft. So kontaktierte ich die beiden. Doch beide Frauen zogen es vor, anonym zu bleiben. Sie reagierten nicht auf meine Kontaktaufnahme. Ich sehe die Aufgabe von Kunst darin, durch eine extreme Darstellung eine Debatte über ein Thema auszulösen. Am Ende wurde der Skatepark aufgefordert, das Kunstwerk zu entfernen und der soziale Druck wurde so groß, dass den Betreibern gar nichts anderes übrig blieb, weil sie sonst von der Schließung bedroht waren.
Wären Sie ein Fotokünstler, der jetzt anfangen möchteIn welche Richtung würden Sie gehen, wenn Geld keine Rolle spielte?
Kessels: Die Intention, Geld zu verdienen, sollte nie der Startpunkt sein. Mit einer solchen Motivation wirst du als Fotograf nie kreativ werden. Wenn du hingegen kreativ bist, denkst du nicht über das Geld nach. An einem bestimmten Punkt treffen sich diese beiden Bereiche. Wenn du dein Einkommen damit bestreiten willst, musst du viel tun. Wirklich viel. Du musst in ganz unterschiedlichen Feldern unterwegs sein, auf verschiedenen Niveaus. Dabei arbeitest du an den verschiedensten Dingen gleichzeitig. Das ist sehr komplex, aber wenn es mit Leidenschaft gemacht wird, wenn es intuitiv aus dir herausfließt, dann kostet es dich keine Mühe. Du solltest in der Lage sein, ohne Frustration zu arbeiten. Frustgefühle sind der größte Bremser für Kreativität. Leidenschaft und die Liebe für deine Arbeit bringen dich hingegen sehr weit. Vielleicht verdienst du dann auch Geld. Aber bestimmt nicht am Anfang.