Großes Radtheater in München: Die Pinakothek der Moderne zeigt bahnbrechende Fahrrad-Kreationen

Das Designmuseum erweist dem weltweit wichtigsten 1-Personen-Vehikel sinnliche Reverenz. Weil die Schau zu wenig erklärt, ist ratsam, mit Katalog zu lustwandeln. Und zu drei Erklär-Skizzen zu scrollen, die in diesem Beitrag erstmals online stehen.

7 Minuten
Ein Sesselartiger Sattel sitzt da, wo bei heutigen Rädern der Gepäckträger montiert ist. Für die Füße gibt es drei Antriebspositionen unterhalb des stark gen Sattel geneigten Lenkers.

Ob Biolove (Kopenhagen 2011), Antonov(Kiew 1997) oder das Kettenlos(Frankfurt 1903): Absolut verführerisch wirkt, was die Pinakothek der Moderne im Untergeschoss aufgefahren hat. Sofort mag man in der Neuen Sammlung eines jener 70 kultigen Zweiräder besteigen, die die Evolution des sportlich, emotional und politisch heute so bedeutsamen Vehikels abbilden (15 Fahrrad-Fotos in diesem Beitrag).

Das Problem der bayerischen Schau ist: Sie erklärt so gut wie nichts. Ausreichend wäre, neben all den Kulträdern einige textliche oder grafische „Bauteile“ zu zeigen, um der Ausstellung neben materiellem und ideellem auch intellektuellen Glanz zu verleihen. Trotzdem ist das Rad-Panoptikum ein Muss für alle Bike-Fans.

„Im Fokus liegt die Gestaltung und nicht Kulturgeschichte dieses Fortbewegungsmittels“, heißt es im Textintro zur Fahrraddesign-Ausstellung. Ein proaktiver Kniff, um Kritik abzupuffern?

Sich geschichtlichen Einordnungen zu verweigern, lässt sich vielleicht als Warnung auffassen nach dem Motto „Du wirst staunen – Dich aber selbst ums Verstehen kümmern müssen!“. Besser wäre, man würde mit ausführlicheren Erklärungen im Museum an die Hand genommen.

Als Minimum hätten womöglich drei textlich umschriebene Grafiken gereicht, wie sie vor sechs Jahren das Technoseum Mannheim konzipierte. Diese Grafiken stehen – die Münchener Schau online ergänzend – im unteren Abschnitt des vorliegenden Beitrags.

Die drei genannten Objekte lagern in einer Art Riesenregal, sind von hinten beleuchtet und erscheinen für Betrachtende schwarz.
Formschöne Gebrauchsobjekte am Eingang zur „Neuen Sammlung“: Colani-Rennrad neben Sharp-Fernseher und Dyson-Handstaubsauger (unten links).
Blick ins Halbrund der Ausstellung  „Das Fahrrad – Kultobjekt – Designobjekt“ mit etlichen Vehikeln.
Optionen unausgereizt in der „Bike-Arena“: Im Halbrund stehen die Räder quasi auf Theaterrängen. Und auf der Bühne, zu der die Treppe am Bildrand führt? Dort prangt nur eine schnöde Notausgangs-Tür. Hätte man die nicht gleichsam „über-explizit“ in die Ausstellung integrieren können?
Schwarzes Rennrad mit überdickem Rahmen und gelbem Lenkerband und Aufdruck „Lotus Sport“.
Nahezu Außerirdisches aus Norfolk/UK: Vor 30 Jahren designten Ingenieure von Lotus Cars Ltd. diesen Boliden, der nach der britischen Entwicklungsserie im südafrikanischen Aerodyne Space Center produziert wurde. Dass als Vorlage fürs „Lotus Sport 110“ (1996: Stundenweltrekord) das berühmte, von Mike Burrows entwickelte Bahnrad „Lotus 108“ diente (1992 in Barcelona reüssiert habend), erfährt man nur aus dem Katalog. — Mehr Lotus-ähnliche Exoten in der Bilderstrecke am Ende des Beitrags tinyurl.com/M1-Kultraeder.
Unter einem Board mit drei Plakaten der Pinakothek der Moderne reihen sich nebeneinander die Kataloge.
Zu den vier Museen der Pinakothek der Moderne gehört „Die Neue Sammlung“, bis September 2024 Schauplatz von „Das Fahrrad – Kultobjekt – Designobjekt“. Unverzichtbar zum Verständnis der Ausstellung ist der (zweisprachige) Katalog. Er ist auf dem Foto fünffach zu sehen, umfasst 350 Seiten und kostet 34,90 Euro.
Ein zugleich altertümlich und vertraut wirkendes Herrenrad mit kleiner dreieckiger Rahmentasche.
Angesichts fehlender Begleittexte helfen nur Katalog plus Internet: War das 1893er Spalding-Stahl-Rad aus Chicago eines der ersten Zweiräder mit heute üblicher Rahmengeometrie? In der Ausstellung ist es das Älteste mit Rauten-Rahmen. Was hinter diesem Design steckt und wann Rauten-Rahmen aufkamen, steht im zweiten Teil vorliegenden Beitrags – ebenso wie zur Historie dieses Exponats.
Detailaufnahme von Lenker und Querstange des goldglänzenden Fahrrads, die eine Flügelschraube zum Zusammenklappen trägt.
Würde man das Designrad der Modefirma Trussardi aus dem Jahr 1981 mit anderen Augen sehen im Wissen darum, dass – ebenso wie viele Wirkprinzipien in der Humanmedizin – militärische Entwicklungen Pate standen für die Massenproduktion solcher Klappräder? Vorbild war das ebenfalls in der Pinakothek gezeigte „Airborne“, das „Birmingham Small Arms“ 1940 zur effizienten Kriegsführung britischer Fallschirmspringer entwickelte.
Ausblick in das Rund der Ausstellung mit drei alten Zweirädern im Vordergrund.
Wer angesichts dürftiger Erklärungen im Untergeschoss der Pinakothek den Katalog vermisst, kann immerhin kostenfrei aufs BayernWLAN zugreifen. Laut Kurator Josef Strasser gibt es aber bald eine Art „Fahrradkult-App“ für die Schau. Deren Exponate Nummer 1 bis 3 zeigt vorliegende Aufnahme (Kurzinfos zu den Vehikeln in der Webadresse – dazu „Bild in neuem Tab“ öffnen).
Hochmodernes schwarzes Hinterrad, an dem eine unkonventionelle Kunststoffkette in Richtung Vorderrad führt.
Hinterteil des jüngsten Exponats, das in der ausgestellten Variante nicht im Katalog steht. Aufgenommen ist ein „new01bike“. Es besteht aus Polycarbonat und wurde 2022 per 3D-Druck in der Schweiz hergestellt.
Ockerfarbenes Damenrad mit Rockschutz hinten.
Überraschendes offenbart manchmal schon ein kurzer Steckbrief, bei diesem Exponat oben links: Rahmen aus Bambus sind keine ganz moderne Erfindung, sondern reüssierten – wie bei diesem österreichischem Fahrrad – bereits 1898! Laut Ausstellungskatalog „warb die Londoner Bamboo Cycle Company damit, dass ihre Räder 'besser als Stahl' und 'vom Adel favorisiert' seien“.

Räder und Tretlager sind symbolische Dreh- und Angelpunkte der Gesellschaft. Sie sind Schrittmacher für Verkehrspolitik, aber auch für unsere Einstellung sowie den moralisch und praktisch wertvollen Einfluss der Einzelnen auf Umwelt, Klima und die eigene Gesundheit.

Kompendium Fahrrad-Kultur, RadelnderReporter

Diese drei Abbildungen erklären Rad-Design von der ersten Tretkurbel-Geometrie bis zum heutigen Rautenrahmen

Drei Planskizzen in Schwarzweiß sind grafisch sozusagen gestapelt und bildlich angeschnitten.
Sattel überm Vorder- oder Hinterrad – oder gar mittig? Ein Kurzabriss zur Evolution und zum Design von Fahrrädern
Grafische schwarzweiße Reproduktion eines der ältesten Fahrräder der Welt.
Schema 1 – Veloziped aus dem Jahr 1869, Typus „Michauline“ (Pierre Michaux, Paris): Die Tretkurbel sitzt am Vorderrad, der Sattel mittig.
Schwarzweiß-Schema eines Hochrads.
Schema 2 – Hochrad: Die Tretkurbel lagert unterhalb des/der Fahrenden; aber eine solche Geometrie schmälert die Fahrsicherheit.
Schwarzweiß-Schema eines altertümlichen Fahrrads, das aber bereits die Geometrie heutiger Herrenräder aufweist
Schema 3 – Sicherheits-Niederrad mit Rauten-Rahmen: Die Geometrie dieses 1910 erschaffenen Modells stimmt mit vielen heutigen Fahrrädern überein. Allerdings ist die Abbildung (mit Blick auf einheitliche Betrachtungsweise in diesem Beitrag) vertikal gespiegelt, sodass sich die Kette auf der „falschen“ Seite befindet.

„Kultobjekt – Designobjekt“: 4 Fahrrad-Meilensteine aus der Pinakothek der Moderne, zu sehen bis September 2024

Einzelaufnahme des alten Vehikels vor weißem Grund: Das Vorderrad ist etwa doppelt so umfangreich wie das Hinterrad; der Sattel sitzt mittig.
Veloziped nach Schema 1 (Tretkurbelrad): ein noch wenig ergonomischer Vorläufer heutiger Fahrräder aus dem Jahr 1869: Die Kraftübertragung erfolgte bei diesem Eisenrad des Elsässers Eugène Meyer vom mittigen Sattel aufs Vorderrad. Aus Meyers „Tretkurbelrad“ entwickelten sich die Hochräder nach Schema 2 (oben).
Die Räder dieses Eisenrades sind bereits gleich groß; der gefederte Sattel liegt über dem Hinterrad.
Überkreuzte Hauptrohre – daher die Bezeichnung Kreuzrahmen: Die Sattelstütze (leicht geschwungen) liegt mit der Steuerrohr-Hinterachsen-Verstrebung (diagonal von rechts oben nach links unten) über Kreuz in diesem Niederrad, das die Neckarsulmer Strickmaschinen-Fabrik 1888 herstellte. Zwei Jahr zuvor war die Firma in die Fahrradproduktion ein- und 1888 von Hochrädern auf Niederräder umgestiegen. Der unterhalb der erwähnten diagonalen Verstrebung befindliche Kettenspann-Mechanismus nimmt Teile des späteren, moderneren Design quasi vorweg (Rauten-Rahmen. siehe Text und schematische Erläuterungen).
Ein zugleich altertümlich und vertraut wirkendes Herrenrad mit kleiner dreieckiger Rahmentasche.
Sieht schon fast so aus wie ein heutiger Rautenrahmen: Denken Sie sich die unmittelbaren Stücke unter Lenker und Sattel weg, lässt sich geometrisch eine Art schräg liegender Luftdrachen erkennen. Zuzeiten des ersten Rauten-Designs fehlte der kurze Abschnitt am „Drachenkopf“ – klassische Rautenrahmen bestehen aus vier etwa gleich langen Rohren (siehe Schema 3, oben). Das ausgestellte Exemplar stammt aus dem Jahr 1893 und den USA, wo Baseballspieler Spalding mit seiner gleichnamigen Sportfirma infolge des Erwerbs einer Strickmaschinen-Fabrik in die Fahrrad-Produktion eingestiegen war.
Die Rahmengeometrie des aus hellen Aluminium-Streben und fast winzigen schwarzen Rädern zusammengesetzten Klapprads ist nahezu ein Quadrat.
Die Quadratur der Raute: 135 Jahre nach dem allerersten Diamantrahmen kreierte ein deutscher Designer 2020 das „Zoombike“. In diesem Klapprad mit Dreigang-Kettenschaltung vereinen sich Techniken der Auto-, Luft- und Raumfahrtindustrie.

„Kultobjekt – Designobjekt“: 3 Fahrrad-Design-Höhepunkte zwischen 1981 und 2011

Biomorphes Design mit längsovalem Loch im diagonalen Oberrohr, das zu einer Art Platte geformt ist.
„Däne“ von 2011: Das „Biolove Carbon“ der Firma Biomega ist für den Alltag gedacht und besitzt 8-Gang-Nabenschaltung sowie Kardanantrieb. Entworfen hat es der walisische Industriedesigner Ross Lovegrove – berühmt geworden durch den Sony Walkman.
Futuristisches Staßenrennrad, dessen breiter Rahmen und Scheibenräder knallrote Farbe tragen.
„Japaner“ von 1989: Togashi Engineering Ltd. stattete diesen Karbon-Boliden 1989 mit 14-Gang-Schaltung und unterschiedlichen Laufradgrößen aus: vorne 26 und hinten 27 Zoll.
Schmalrohriges Rennrad mit Aero-Lenker, der deutlich tiefer sitzt als der Sattel.
„Italiener“ von 1984: „Zusammen mit Columbus-Ingenieur Paolo Erzegovesi und Rahmenbauer Andrea Pesenti realisierte man eines der schönsten und erfolgreichsten aerodynamischen Rennräder“, heißt es im Ausstellungskatalog. Mit „man“ meint Kurator Josef Straßer die Firma Cinelli, die Antonio Colombo 1978 übernahm. Hergestellt wurde das „Cinelli Laser“ nahe Mailand in Caleppio di Settala.

Das Cinelli Laser gleicht übrigens haarklein einem in der Pinakothek ebenfalls gezeigten Bahnrad aus der ehemaligen DDR – und hat dasselbe Produktionsjahr 1984: „Mit jenem (…) Zeitfahrrad erreichte die Rennrad-Entwicklung dieser Forschungsabteilung ihren Höhepunkt“, vermerkt der Ausstellungskatalog. „Dieser“ meint eine DDR-Spezialabteilung im VEB Kombinat Textilmaschinenbau Karl-Marx-Stadt, die das sogenannte Textima durch Vermeidung von Rohrmuffen zum Leichtgewicht machte: Das Chemnitz-Textima war um 1, 1 Kilogramm leichter als das oben gezeigte Caleppio-Laser.

Dieser Beitrag entstand auf Basis der 2022 ausgelaufenen Förderung durch Neustart Kultur und läuft unter dem Buchstaben K als Eintrag „Kultobjekt Fahrrad: Eine zugleich exquisite wie angreifbare Ausstellung in Münchens Neuer Sammlung“ im exklusiven, laufend fortgesetzten Kultur-Kompendium zu Fahrrad und Radfahren, das auch Literatur zum Thema listet. Der nächste Kompendiumsbeitrag erscheint im Frühjahr 2023, Arbeitstitel: „Reise-Vehikel Fahrrad: Trends und Tipps für Ferntouren“.

Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!