Warum hat die ökologische Idee nicht längst politisch mehr Macht?

Laut Umfragen landet die Klimakrise in Deutschland nur auf Platz 3 der wichtigsten Themen für die Europawahl. Ist das nicht erstaunlich? Warum hat die ökologische Idee politisch so wenig Durchschlagskraft? Der Soziologe Nikolaj Schultz hat Erklärungen.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
8 Minuten
Während eines Klimaprotests werden handgemalte Schilder hochgehalten. Auf dem Schild in der Mitte des Fotos steht auf Englisch: Wofür wir stehen ist das worauf wir stehen. Dazu ein gemalter Planet.

Die ökologische Doppelkrise ist überall. Artensterben und Erderhitzung sind in unser aller Alltag angekommen. Wassermassen und Wassermangel, Temperaturrekorde und Opferzahlen bestimmen die Nachrichten. Und auch in Deutschland spüren immer mehr Menschen am eigenen Leib, wie sehr ihre pure Existenz mit dem ökologischen Gleichgewicht verknüpft ist.

Gleichzeitig entfaltet die größte planetarische Krise politisch nur begrenzte Durchschlagskraft. Das ist überall in Europa so. Grüne Parteien sind zwar in sechs europäischen Regierungen vertreten – Deutschland, Österreich, Finnland, Irland, Belgien und Luxemburg – und bilden mit 71 Abgeordneten im Europaparlament die viertgrößte Fraktion. Aber Umfragen sagen voraus, dass sie bei der kommenden Europawahl an Zustimmung verlieren werden. Die ökologische Agenda ist politisch auf dem absteigenden Ast.

Nationalstaaten, etablierte und rechte Parteien versuchen, den Green Deal der EU anzugreifen. Große Parteien wenden sich überall in Europa von ökologischen Ideen ab – ganz anders als bei der letzten Europawahl 2019, als die Klimakrise für die meisten Menschen das wichtigste Thema war und die Parteien sich reihenweise auf die Fahnen schrieben, die Natur schützen zu wollen. Damals waren Millionen Menschen in ganz Europa auf den Straßen und kämpften vor allem Freitags für ihre Zukunft. Inzwischen halten mehr Menschen Migration und Kriege für wichtiger – und scheinen nicht zu sehen, dass diese Themen direkt mit den ökologischen Krisen zusammenhängen.

Wie passt das zusammen? Warum sind grüne Parteien nicht längst die stärkste politische Kraft unserer Zeit – überall in Europa: dem Erdteil, der sich gerade am schnellsten erhitzt? Warum lassen sich Menschen nicht durch eine politische Idee begeistern, die das Überleben auf der Erde sicherstellen will? Diese Fragen beschäftigen den Soziologen Nikolaj Schultz schon länger.

Seine Arbeit und die seines 2023 verstorbenen Mentors, des Soziologen Bruno Latour, kommt zu dem Ergebnis, dass den ökologischen Bewegungen noch etwas Entscheidendes fehlt: Klassenbewusstsein. Drei Aspekte sind für diesen Befund besonders entscheidend:

Darin liegt aber ihr größtes übersehenes Potenzial. Konflikte sind viel stärker in der Lage, deutlich mehr Menschen zu mobilisieren als Einigkeit.

Nikolaj Schultz

Wenn wir uns mehr Einigkeit in ökologischen Bewegungen wünschen, braucht es eine klare Konfliktlinie zwischen dem Wir und den Anderen. Dazu gehört ein Narrativ, das in der Lage ist, Menschen zu mobilisieren, damit sie für die Sache streiten.

Nikolaj Schultz

Das ist zu langweilig. Und Dauerpanik ermüdet.

Nikolaj Schultz

Fehlendes Charisma kann fatal sein. Man muss wissen, wie man Menschen berührt.

Nikolaj Schultz

Eigentlich fehlt die Zeit dafür, sich um ein starkes Wir, ein leidenschaftliches Narrativ und den Kulturkampf jetzt zu kümmern. Aber Bruno Latour meinte, dass man sich gerade dann Zeit nehmen muss, wenn sie fehlt.

Nikolaj Schultz

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