Der Scherbenhaufen des Friedrich Merz

Der Kanzlerkandidat der Union ist hohes Risiko gegangen. Er stellt sich als Macher da, der seine Ideen durchsetzt. Zweimal benötigte er die AfD für seine Mehrheiten. Die heutige Abstimmung ging verloren, doch die demokratiefeindliche AfD freut sich über Aufmerksamkeit. Und die Deutschen sind mit den KandidatInnen nicht zufrieden. Warum der Wahlkampf auf eine falsche Bahn geraten ist - ein Kommentar.

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Friedrich Merz als Abgeordneter im Parlament

Dieser Wahlkampf hätte viele Themen haben können, denn zahlreiche Menschen bewerten die Lage Deutschlands als schlecht. Die Wirtschaft wächst nicht mehr, fast drei Millionen Arbeitslose. Die Kosten fürs Wohnen steigen. Die Finanzierung der Renten, des Gesundheitssystems und der Pflegekasse: nicht gesichert. Bahn und Brücken: marode. Die Digitalisierung: verpasst. Jedes Jahr verlassen mehr als 40.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss. Und dann gibt es noch den Krieg in der Ukraine, zu viel Bürokratie, den Streit um die Schuldenbremse und die Bitte um mehr Zusammenhalt in der EU gegen den neuen US-Präsidenten. Hinzu kommt die Klimakrise, die nicht nur Deutschland und unsere Lebensgrundlagen betrifft, sondern den gesamten Planeten. Otmar Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gesellschaft, fordert, die hiesige Forschung endlich wieder an die Weltspitze zu bringen, mit zukunftsträchtigen Themen wie Batterieforschung, Wasserstoff und der Energiewende.

Warum also hat sich Friedrich Merz und seine CDU/CSU für den Aufsehen erregenden Fünf-Punkte-Plan ausgerechnet die MigrantInnen als Thema ausgesucht? Selbst wenn alle Geflüchteten Deutschland verlassen würden, wäre keines der drängenden Probleme gelöst, sondern es entstünden neue, weil Personal fehlt. Die eingesparten Kosten für geflüchtete Menschen sind zu gering, als dass sie Haushaltslöcher stopfen könnten. Deutschland sucht seine Zukunft - und die soll ausgerechnet darin bestehen, dass wir Grenzkontrollen zu den Niederlanden, zu Frankreich und Dänemark einführen? Wer in der Nähe der Grenze wohnt, weiß, dass sich die Kontrollen abseits der zentralen Verkehrswege leicht vermeiden lassen, aber das nur nebenbei.

Migration ein Thema, obwohl Zahlen sinken

Angeblich sind es die Toten von Magdeburg und Aschaffenburg, die den von Merz beschriebenen Zwang zum schnellen Handeln auslösen. Doch rechtfertigen sie einen Aktionismus, wie ihn der Bundestag in dieser Woche durch zwei Anträge der Unionsfraktion erlebte? Aktuelle Zahlen belegen, dass die Zahl der Asylanträge 2024 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 30 Prozent gesunken ist. Die meisten Zuwandernden kommen zudem auf legalem Weg, mit Pässen und Visa oder durch die Personenfreizügigkeit in der EU nach Deutschland. Und hundertprozentige Sicherheit ist ohnehin eine Illusion.

Mit Toten allein sollte man keine Politik begründen. Politik soll Zukunft gestalten. Und wenn schon die Opfer in den Wahlkampf gezogen werden, warum dann nicht auch anderen Gewalttaten und Unfällen Aufmerksamkeit schenken? 2023 starben 360 Frauen und Mädchen durch Gewalt gegen Frauen. Im gleichen Jahr verloren 446 Radfahrende hierzulande bei Verkehrsunfällen ihr Leben.

Merz bedient den Populismus

Der CDU-Chef hat sich aber für ein taktisches Manöver entschieden. Er sucht nach Sündenböcken, nach Menschen, die stellvertretend für schlechte Entwicklungen stehen sollen. Das ist kein Plan für die Zukunft, sondern das typische Muster des Populismus. Er täuscht Lösungen vor und spielt mit Emotionen, die bei denjenigen aufkommen, die sich anderen Menschen überlegen fühlen. Und er will diejenigen fangen, die sich nicht mehr vertreten fühlen oder scheinbar nach mehr Durchsetzungsvermögen und Führung verlangen. Merz präsentiert sich als energisch, als einer, der nicht lange redet, sondern seinen Fünf-Punkte-Plan unter allen Umständen durchsetzt, auch wenn andere demokratische Parteien dagegen sind. Das ist ihm nicht gelungen. Bei der Abstimmung sah alles nach einer knappen Mehrheit aus, doch die DemokratInnen wollten dann doch nicht mit der AfD stimmen.

Merz’ Problem: Die von ihm gewählte Strategie ist schon besetzt. Es ist die Strategie der AfD. Eine Strategie der leeren Versprechungen. Eine Strategie, in der Wahrheit keinen Wert hat, und deren Parolen Rassismus und Ausgrenzung auf die Tagesordnung setzen. AfD-Chefin Alice Weidel hat es deshalb leicht, sich noch besser zu positionieren. Merz habe seine Forderungen zur Begrenzung der Migration bei der AfD abgeschrieben, sagte sie. Und sie wird diesen Satz liebend gern in den kommenden Wochen wiederholen, wenn sie für ihre Partei Stimmen sammelt. Ein perfides Spiel, das Merz in Kauf genommen hat.

Kritik aus den eigenen Reihen an Merz

Merz grundlose Eile, ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag im Bundestag einen Antrag vorzulegen, der auf die Zustimmung der AfD zielt, hat sogar Ex-Kanzlerin Angela Merkel aufgeschreckt. Zu ihren Stärken gehören kurze und leicht verständliche Botschaften. Für Merz hatte Merkel nur ein Wort: Sein Vorgehen sei „falsch“. Zwei Holocaust-Überlebende wollen ihr Bundesverdienstkreuz zurückgeben. Und selbst der Zentralrat der Katholiken, quasi das „C“ in der CDU, ist empört. Und Europa wundert sich mancher, dass ausgerechnet das Land, das am meisten von der EU profitiert auf engstirnige nationale Lösungen setzt.

Friedrich Merz hat das falsche Thema gewählt und falsche Partner in Kauf genommen. Und nichts Zählbares gewonnen. Denn der Beschluss vom Mittwoch ist kein Gesetz, sondern nur eine Entschließung, der die Regierung nicht folgen wird. Der Gesetzentwurf von diesem Freitag hätte der Zustimmung des Bundesrats bedurft, wo er selbst von Unions-Ministerpräsidenten abgelehnt worden wäre. All das hat der CDU-Kanzlerkandidat gewusst. Merz hat den hohen Einsatz für eine politische Luftnummer riskiert und dafür sehenden Auges die Zustimmung einer demokratiefeindlichen Partei akzeptiert.

Kompromisse der Demokraten zählen, nicht die AfD

Mehr noch: Merz hat das Narrativ gestärkt, dass nach dem Scheitern der Ampel-Koalition von der AfD täglich verbreitet wird. Nämlich, dass die demokratischen Parteien abgelöst werden müssen, weil mit ihnen keine Veränderung erreicht werden kann. Merz hat sich klar an die Adresse von SPD und Grünen gerichtet: Wenn ihr nicht wollt, dann eben jemand anders.

Das Narrativ ist übrigens völlig falsch. Viele erfolgreiche Landesregierungen mit demokratischen Parteien in unterschiedlichen Koalitionen zeigen: Kompromisse und gutes Regieren im Sinne von Problemlösung sind politischer Alltag. Genauso soll Demokratie sein und so hat sie sich in Deutschland seit über 70 Jahren bewährt. Merz musste von Ministerpräsidenten aus der eigenen Partei an die Stärke der Demokratie erinnert werden. „Zeigen wir gemeinsam Handlungsfähigkeit aus der demokratischen Mitte“, sagte Hendrik Wüst aus NRW am Donnerstag. Daniel Günther aus Schleswig-Holstein sagte, „wir haben jetzt echt eine historische Verantwortung, vor der wir stehen.“ Berlins Bürgermeister wurde ähnlich deutlich: Der Berliner Senat werde niemals einem Gesetz im Bundesrat zustimmen, das nur in Abhängigkeit von den Stimmen der AfD zustande gekommen sei, so Kai Wegner. Der Parteichef wird von der eigenen Partei beobachtet. Doch die Union hat aus dem Absturz von Armin Laschet gelernt. Sie wird die Demontage ihres Kandidaten nicht noch einmal wiederholen.

Debatte um Brandmauer führt in die Irre

Zur Wahrheit gehört auch, dass die in diesen Tagen so intensiv geführte Debatte über die Brandmauer in die Irre führt. Der Begriff wertet die AfD auf. Die Diskussion erweckt nämlich den Eindruck, als ob hinter der Brandmauer eine Partei stehe, die regierungsfähig sei. Die AfD ist keine ernsthafte Alternative. Mit einer Partei, die Fakten leugnet, gut begründete Analysen ignoriert, die regelmäßig mit Lügen, eigenen Wahrheiten, Hetze und Hass arbeitet, kann keine sinnvolle Politik entstehen. Dieser Weg führt immer in eine Diktatur. Sie beginnt damit, den Feinden der Demokratie die ersten kleinen Zugeständnisse zu machen. Wer erfolgreiche Politik macht und sie gut erklärt, muss nicht über Brandmauern sprechen, weil er keine Hilfe von Rechtsaußen braucht.

Der bessere Wahlkampf beschäftigt sich mit guter Politik. Damit, Probleme zu lösen. Die Vorschläge sollten einer Bewertung durch Fachleute standhalten und sich nicht als Luftnummer entpuppen. Wahlkampf lebt von neuen Ideen und nicht vom muffigen Blick zurück, dass alles schlecht sei. Persönliche Vorwürfe und hasserfüllte Sprache lösen keine Probleme. Ein besserer Wahlkampf macht auch mehr Spaß. Er kann auch dazu führen, dass Menschen ihr Interesse an der Politik wiederfinden, weil es um ihr eigenes Leben und Wohlergehen geht. Davon sind wir - leider - weit entfernt. Das zeigte auch die lautstarke Debatte am Freitag, bei der es über weite Strecken nur um Schuldzuweisungen ging.

Deutsche sind mit den KandidatInnen nicht zufrieden

Friedrich Merz hat den Wahlkampf auf einen Dauerbrenner mit erwartbaren Konflikten reduziert: die Migration. Er hat mit dem Feuer gespielt und der AfD eine Bühne geboten. Wohlwissend, dass andere Probleme eine größere Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit des Landes haben. Die Menschen warten darauf, dass die drängendsten Probleme Deutschlands gelöst werden. Daran sollten sich die WahlkämpferInnen in den verbleibenden Wochen orientieren. Die Liste ist lang - und der Frust groß. Der ARD-DeutschlandTrend meldete gestern, dass es erstmals in der Geschichte der seit 1997 erhobenen Umfrage keinen Kanzlerkandidaten gibt, mit dem mehr Menschen zufrieden sind als unzufrieden. Kein Kandidat erreicht mehr als 29 Prozent Zufriedenheit. Es ist höchste Zeit, darauf zu reagieren.

100.000 Menschen bei einer Demonstration gegen die AfD in Düsseldorf am 27. 01. 2024
Vor ziemlich genau einem Jahr demonstrierten die Menschen in vielen deutschen Städten wie hier in Düsseldorf gegen die AfD. Anlass waren Recherchen der JournalistInnen von Correctiv, die über ein geheimes Treffen von Rechtsradikalen in Potsdam berichteten, bei dem ein Geheimplan zur Vertreibung von AusländerInnen und Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert wurde. Die Empörung erfasste die Zivilgesellschaft und führte zu Demonstrationen, in einer Größenordnung, wie sie Deutschland lange nicht mehr gekannt hatte. Ein Jahr später ist das Wort „Remigration“ kein Thema mehr für Geheimtreffen, sondern wird von AfD-PolitikerInnen offen im Wahlkampf verwendet.
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