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Deutschland und die Mittelschicht: Wer gehört dazu? Wie verändert das die Debatte um Arm und Reich?
Wer gehört noch zur Mittelschicht? Möglichst viele, denn viele Menschen wollen nicht reich sein
Die neue Bundesregierung will die Mittelschicht entlasten. Alle benutzen diesen Begriff, jeder will zur Mittelschicht gehören. Doch kaum einer weiß genau, wer damit gemeint ist. Der Streit über die Zuordnung tobt. Wer festlegt, wer zur Mittelschicht gehört, entscheidet auch, wie über finanzielle Ungleichheit und die Umverteilung von Geld diskutiert wird. Ein Kommentar.

Wenn in Deutschland über die Verteilung von Armut und Reichtum gesprochen wird, rückt immer wieder ein Begriff in den Fokus: die Mittelschicht. Zur Mittelschicht dazuzugehören, ist ein unausgesprochenes Lebensziel vieler Menschen. Dahinter steht der Wunsch, etwa so viel Geld zur Verfügung zu haben, wie der Durchschnitt der Bevölkerung, am liebsten noch ein klein wenig mehr. Diese finanzielle Basis sorgt für das angenehme Lebensgefühl, sich etwas mehr leisten zu können als andere Teile der Gesellschaft. Der Absturz aus der Mittelschicht hingegen bedeutet Armut.. Davor fürchten sich viele.
Die Mittelschicht ist beliebt und umworben
PolitikerInnen bemühen sich gern um das Wohlergehen der Mittelschicht. Im gemeinsamen Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD heißt es: „Wir werden die breite Mittelschicht durch eine Einkommensteuerreform entlasten.“ Die Begriffe „reich“ oder „Reichtum“ tauchen dagegen in den 402 Zeilen des Dokuments ebenso wenig auf wie „arm“ oder „Armut“.
Wer also gehört zu dieser umworbenen und begehrten Mittelschicht?
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat in dieser Woche versucht, diese Frage zu beantworten. Die WirtschaftswissenschaftlerInnen haben das monatliche Haushaltsnettoeinkommen analysiert. Das Ergebnis lässt aufhorchen, denn Reichtum scheint nicht weit verbreitet zu sein. Das IW stuft nur vier Prozent der Bevölkerung als „relativ Reiche“ ein. Sie stehen an der Spitze der Einkommensverteilung. Direkt danach beginnt für das IW bereits die Mittelschicht, sortiert in drei weitere Kategorien: die obere Mittelschicht, die Mitte im engen Sinne und die untere Mittelschicht.
In einer Pressemitteilung verknüpft das Institut die Zahlen mit Ergebnissen aus Umfragen. „Dass nur vier Prozent der Bevölkerung “reich„ sind, deckt sich nicht mit der Wahrnehmung der Menschen in Deutschland. Frühere Befragungen zeigen, dass der geschätzte Anteil einkommensreicher Menschen bei 25 Prozent liegt“, berichtet das IW.
Wird Reichtum falsch wahrgenommen?
Einfacher formuliert: Viele der Befragten kennen sich mit Reichtum nicht so gut aus. Sie glauben, dass Menschen reich sind, obwohl diese doch „nur“ zur oberen Mittelschicht gehören. Selbst die Gutverdienenden haben Probleme zu erkennen, wer als reich eingestuft wird. „Reich sind in der eigenen Wahrnehmung zumeist die anderen“, sagt Studienautorin Judith Niehues. „Dass man als Paar ohne Kinder mit einem gemeinsamen Einkommen von mehr als 8.670 Euro im Monat zu den einkommensreichsten vier Prozent der Bevölkerung zählt, überrascht viele.“ Dabei hat das IW die Reichtumsgrenze schon etwas üppiger definiert als andere Forschergruppen.
Wer über Reichtum und Armut in Deutschland sprechen möchte, der benötigt zunächst einen Mittelwert. Denn Armut und Reichtum sind nicht als fixe Größen definiert, sie beziehen sich immer auf das, was andere haben. Die Wissenschaft hat einen Weg gefunden, diesen Durchschnitt bundesweit zu ermitteln. Sie kann das Einkommen durch Arbeit und anderen Quellen berechnen, das gerade in der Mitte liegt, den Median. Die eine Hälfte der Bevölkerung hat mehr, die andere Hälfte weniger. Abgaben an Staat und Sozialversicherung sind in der Berechnung bereits abgezogen, Miete, Eigenheim und die Haushaltsgröße berücksichtigt.. Im Jahr 2022 betrug dieses monatliche Medianeinkommen in der IW-Studie für einen Alleinstehenden 2312 Euro. Für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren waren es 4850 Euro.
Arm und Reich ist relativ
Was reich oder arm ist, wird an diesen Werten definiert. Reichtum und Armut sind in dieser Betrachtung keine bestimmte Menge Geld auf dem Lohnzettel, sondern der Unterschied zu dem, was der Großteil der Bevölkerung an finanziellen Mitteln zur Verfügung hat. Armutsgefährdete Menschen haben monatlich weniger als 60 Prozent des Medians zur Verfügung. Sie können sich gerade mal den Lebensunterhalt leisten (einige noch nicht einmal das). Reichtum bedeutet, ohne Einschränkungen das zu tun, was man möchte. Denn je mehr Geld Monat für Monat auf dem Konto eingeht, desto größer werden die Freiheiten zur Individualisierung und Differenzierung, die je nach Präferenzen ohne Einschränkungen ausgelebt werden können, was sich in der Ausgabenstruktur widerspiegelt. So hat die Hans-Böckler-Stiftung den Übergang zu Reichtum mal eingeordnet.
Die Mittelschicht lässt sich in diesem Bild als die „Wir-kommen-ganz-gut-zurecht“-Gruppe beschreiben. Zur typischen Mittelschicht gehört nach Ansicht der Wirtschaftswissenschaften, wer mindestens 80 Prozent des Medianeinkommens hat, aber nicht mehr als 150 Prozent. Bezogen auf einen Single also zwischen 1850 und 3470 Euro, für das Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren sind es zwischen 3880 und 7280 Euro. Etwa die Hälfte der Deutschen passen in dieses Muster. Die anderen sind reicher, oder eben ärmer.
Wer gehört noch zur Mittelschicht?
Und damit beginnt der Kampf um die Deutungshoheit beim Begriff Mittelschicht. Denn neben der klassischen Mittelschicht gibt es noch zwei ähnliche Gruppen: die untere Mittelschicht, die noch nicht arm ist. Und die obere Mittelschicht, die noch nicht den Reichen zugeordnet werden soll Das IW dehnt die obere Mittelschicht so weit aus, dass sie noch Menschen mit 250 Prozent des Medians einbezieht.
Im Armuts- und Reichtumsbericht des Bundearbeitsministeriums wird das anders gehandhabt. Dort endet die obere Mittelschicht in einem Modell bei 200 Prozent des Durchschnitts. Wer mehr Geld hat, gehört zu den relativ Reichen. Wählt man das 200-Prozent-Kriterium, dann gelten acht Prozent der Deutschen dem Einkommen nach als reich. Das IW errechnet dagegen nur vier Prozent Reiche.
Die Gruppe der Reichen lässt sich also groß oder klein rechnen. Das verringert Verteilungskämpfe und Diskussionen über die wachsende Schere zwischen Arm und Reich. Armut dagegen ist viel einfacher zu greifen: Ein Mensch hat noch, was er mindestens zum Leben benötigt, aber für neue Kleidung oder eine normale gesellschaftliche Teilhabe fehlt es regelmäßig an Geld. Beim Reichtum verschwimmen dagegen die Grenzen für eine konkrete Einordnung. Bei einer alternativen Definition der „Oberschichtsmerkmale“ könnten durchaus auch noch etwas höhere Schwellenwerte für die Einkommensgrenze zu den „relativ Reichen“ gerechtfertigt werden, sagt IW-Forscherin Judith Niehues. Statt 250 Prozent könnten auch 280 oder 300 Prozent sinnvoll begründet werden.
Merz sieht sich in der gehobenen Mittelschicht
Die Sehr-gut-Verdienenden scheinen sich in der oberen Mittelschicht wohl zu fühlen, sie wollen sich offenbar nicht als reich brandmarken lassen. Der kommende Bundeskanzler Friedrich Merz hat das sehr deutlich gemacht. Er bezeichnete sich 2018 trotz Millionen-Einkünfte als Teil der gehobenen Mittelschicht. Doch die Definition von Reichtum beeinflusst auch die Diskussion um die Verteilung von Armut und Reichtum. Wenn nur ein geringer Anteil der Bevölkerung „arm“ oder „reich“ ist, bleibt Kritik aus.
Aktuell haben finanziell eher besser gestellte Menschen die Deutungshoheit. Sie entscheiden darüber, was zum Mindestbedarf eines armen Menschen gehört und worauf dieser auch verzichten kann. Die Menschen mit mittleren und niedrigem Einkommen sind in der Politik unterrepräsentiert. Es wäre aber interessant zu hören, wie sie Mittelschicht, obere Mittelschicht und Reichtum definieren. Wahrscheinlich ergäbe sich ein anderes Bild zur Armuts- und Reichtumsverteilung in Deutschland. Vom Versprechen, vor allem „die breite Mittelschicht“ zu entlasten, würden in diesem Fall andere Bevölkerungsgruppen profitieren.