Alles andere als ein Randphänomen - Was Lehrkräfte und Eltern gegen Mobbing an Schulen tun können
Mobbing kann noch Jahrzehnte später zu Depressionen oder Angststörungen führen. Wie können Lehrkräfte und Eltern Kinder und Jugendliche schützen?
„Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen. Dann würde ich mit dem Jungen sprechen, der vor dem Spiegel steht und sich überlegt, wie es wäre, tot zu sein.“ Das sagt Norman Wolf, wenn er an Schulen aus seinem Buch „Wenn die Pause zur Hölle wird“ vorliest. Er hat am eigenen Leib erfahren, dass der Kampf gegen Mobbing nicht nur einer gegen Gewalt und Hass ist – sondern auch einer gegen die Einsamkeit.
Und deshalb macht der 31-Jährige mit den Jugendlichen, kurz nachdem er seine eigene Geschichte erzählt hat, eine Übung: Alle Jugendlichen in der Klasse sollen nach unten schauen. „Wer von euch hat schon Mobbing erlebt?“, fragt er. Hände gehen nach oben. Die Schüler und Schülerinnen sollen raten. Wie viele werden es gewesen sein? Vielleicht sechs von 30? Vielleicht mehr? Es sind oft ein Drittel bis die Hälfte. Wenn man weiß, dass man nicht allein darunter leidet, „ist plötzlich das Eis gebrochen“, erzählt Wolf. Einige werden von ihren Erfahrungen erzählen, andere weinen. Aber wer erfährt, dass er nicht allein ist und darüber reden kann, hat den ersten Schritt raus aus dem Strudel aus Gemeinheiten und Ausgrenzung bereits geschafft.
Mobbing ist kein Randphänomen. In Europa ist etwa ein Viertel der Schüler und Schülerinnen vom Hass und der Ausgrenzung betroffen. Einer Umfrage der Barmer Krankenkasse zufolge haben in Deutschland 61 Prozent der Jugendlichen Cybermobbing erlebt.
Wo aber fängt Mobbing an? Und was kann man tun, wenn man es bei seinem Kind beobachtet?
Eine harmlose Streiterei oder schon Mobbing?
Der psychosoziale Berater Norman Wolf erzählt von seinen eigenen Erfahrungen, um Kindern einen Weg zu zeigen. Bei ihm fing es während einer Klassenfahrt an. Eigentlich sei er positiv nervös gewesen, schreibt er in seinem Buch. Vielleicht würde er ja endlich Anschluss finden. Schon beim Beziehen der Betten hatte er seine Mitschüler zum Lachen gebracht. Er erzählte den anderen Jungs, in welches Mädchen er verliebt war. Doch am Morgen darauf zerrten sie ihn aus dem Bett. Wolf wehrte sich, versuchte, Nein zu schreien. Doch die Jugendlichen ließen nicht ab, trugen ihn durch einen Flur und warfen ihn vor die Füße des Mädchens. Sie sah auf ihn herab und sagte: „Ich will nichts von dir.“ Noch nie, so Wolf, habe er sich so geschämt und so klein gefühlt. Der Vorfall war nur der Anfang einer langen, schlimmen Zeit.
Mobbing ist mehr als eine einmalige kleine Streiterei, erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Elpers. Er hat viele Kinder und Jugendliche behandelt und das Buch „Wenn Kinder unter Kindern leiden“ geschrieben. Eine Person müsse über einen längeren Zeitraum, mindestens ein paar Wochen lang, geärgert werden. Das Ziel sei, dem Betroffenen zu schaden und ihn zu isolieren.
Wer wird gemobbt?
Generell trifft Mobbing etwas häufiger Kinder und Jugendliche, die aus schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen stammen, sowie jene, deren Eltern sie weniger unterstützen. Am häufigsten finde Mobbing, sagt Jugendpsychiater Elpers, im frühen Teenageralter, also zwischen dem zehnten und vierzehnten Lebensjahr statt. Es sei ein besonders kritisches Alter, da hier massive Umbrüche zur Pubertät stattfänden: „Während sich die einen Mädchen schminken, spielen die anderen noch mit Puppen.“
In der Pubertät verändern Kinder ihr Verhalten – manche ziehen sich von ihren Eltern zurück oder machen Probleme eher mit sich selbst aus. Zu erkennen, dass sie Opfer von Mobbing werden, ist da schwierig.
Eine riesige Scham
Norman Wolf erlebte, wie sich nach der Klassenfahrt alles verschlimmerte: Andere Jungs bestahlen ihn, schlugen ihm ins Gesicht und kratzten ihm sogar ein Hakenkreuz auf die Stirn. Etwas darüber zu erzählen stand außer Frage. Sein Vater war arbeitslos und alkoholabhängig. Jeden Tag gab es Streit, Schreie und Tränen. Seine Mutter weinte oft, wenn Wolf nach Hause kam. Sie fragte ihn zwar immer wieder, ob alles in Ordnung sei. Doch ihm sei peinlich gewesen, gemobbt zu werden. „Ich wollte nicht nach Hause kommen und erzählen, wie alle auf mir rumhacken“, sagt er. Wolf schob Bauch- oder Kopfschmerzen vor, um nicht in die Schule gehen zu müssen.
Dass Kinder ihren Eltern nicht von ihren Erfahrungen berichten, ist häufig, sagt Psychiater Elpers. Ebenso Klagen über unspezifische Kopf- und Bauchschmerzen. Viele Eltern wüssten nicht, dass es dafür bei Kindern und Jugendlichen oft keine körperliche Ursache gebe. Die unspezifischen Schmerzen seien aber ein Symptom. Deshalb müsse man nachfragen, nicht nur einmal. Manchmal sei es sogar notwendig, mit der Tür ins Haus fallen und direkt zu fragen: „Kann es sein, dass du immer wieder geärgert wirst?“ Manchmal erzähle das Kind dann, was los ist – oder man könne an der Reaktion feststellen, ob es gemobbt wird. Dabei sollten Eltern auf ihr Bauchgefühl als Vater oder Mutter vertrauen.
Wenn nicht frühzeitig etwas gegen Mobbing unternommen wird, kann das weitreichende Folgen haben. Bei Norman Wolf wurden die Bauchschmerzen, die er erst nur simuliert hatte real. Jeden Morgen litt er unter ihnen. Abends konnte er nicht einschlafen. Im Alter von zwölf Jahren dachte er oft an Suizid. Das Einzige, was ihn etwas erleichterte: Nach der Schule hatte er Ruhe, die Quälerei begann erst wieder am nächsten Tag.
Eine neue Gefahr: Cybermobbing
Das war in den Nullerjahren. Heutzutage geht es auch nach der Schule weiter: „Heute nimmst du mit deinem Handy in der Hosentasche das Paket mit nach Hause“, sagt Wolf. Man könne sich nicht einmal zu Hause sicher fühlen. Cybermobbing findet rund um die Uhr statt.
Davon erzählt auch eine Lehrerin an einer Gesamtschule, die anonym bleiben möchte – um ihre Schüler und Schülerinnen zu schützen. An ihrer Schule hätten Jugendliche ein Mädchen auf der Toilette fotografiert, solche Fotos würden häufig rumgeschickt. Manchmal würden sie auch im Status der Mobber auf Whatsapp auftauchen, zusammen mit der Handynummer. „Dann geht der Telefonterror los“, sagt sie. Weitaus häufiger aber seien Beleidigungen oder Ausschluss: „Da sitzen dann zwei Schüler zusammen und schicken eine Sprachnachricht, in der sie sich über die andere Person lustig machen.“ Ein Mädchen an ihrer Schule wurde als Teufel beleidigt, weil sie keiner Religion angehörte.
Eine Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing aus dem Jahr 2022 zeigt, dass sieben von zehn Schülern und Schülerinnen sagen, Cybermobbing habe seit der Corona-Pandemie zugenommen. Am häufigsten seien Beschimpfungen und Beleidigungen, dicht gefolgt von der Verbreitung von Lügen und Gerüchten. Die Folgen reichen von Kopf- oder Magenschmerzen über Konzentrationsprobleme bis hin zu Angstzuständen, Depressionen und Suizidgedanken.
Lebenslange Nachwirkungen
Das Ende der Schulzeit heilt dabei nicht alle Wunden. Für Norman Wolf hörte das Mobbing zwar auf, als die Täter von der Schule gingen. Doch die Sprüche und Schikanen hätten „Narben in seinem Kopf“ hinterlassen: „Als hätte jemand immer wieder auf dieselbe Stelle geschlagen, und irgendwann ist eine Kerbe entstanden.“ Auch heute denke er noch ab und an, dass er minderwertig sei. Es falle es ihm schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Als ihm sein Ex-Freund aus Spaß sein T-Shirt stibitzte, wurde er plötzlich unangemessen wütend. Bis ihm klar wurde: Es hatte ihn daran erinnert, wie ihn seine Mitschüler bestohlen hatten.
Dass Mobbing ein Leben lang fortwirkt, zeigen Studien: Eine Auswertung der „British National Child Development Study“ belegt: Wer als Kind Mobbing erlebte, hatte ein hohes Risiko dafür, wenig soziale Beziehungen zu haben oder in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu kommen. Im Alter von 50 Jahren beklagten die gemobbten Teilnehmer der Studie eine schlechtere Lebensqualität als diejenigen, die keine Mobbingerfahrung hatten.
Was kann man gegen Mobbing tun?
Das betroffene Kind könne laut dem Psychiater Elpers in einem „Mobbing-Tagebuch“ notieren, wann und wie es von wem geärgert wird. Das erhöhe die Glaubwürdigkeit, und das Kind käme so „von einer passiven zu einer aktiven Rolle“. Mobbing auszusitzen ist keine gute Idee, sagt Elpers. Auch Ratschläge wie „Überleg doch mal, was du dazu beigetragen hast“ helfen wenig. Vielmehr sollte man dem Kind oder Jugendlichen raten, „offensiv“ zu reagieren, also so schnell wie möglich Lehrer:innen zu informieren. Das habe nichts mit Anschwärzen zu tun.
Und dann? Sollte man etwa die Eltern des Täters oder der Täterin kontaktieren, wenn man merkt, dass das Kind immer von einer Person schikaniert wird? Davon rät der Psychiater ab. Grundsätzlich hätten fast alle Eltern erst mal das Bedürfnis, ihr Kind zu verteidigen. Man müsse sich stattdessen „Verbündete schaffen“. Am besten frage man sein Kind zunächst, welcher Lehrkraft es vertraut. Dann könne man mit dieser das Vorgehen besprechen. Zum Beispiel könne sie sich zunächst mit allen Eltern zusammensetzen. Wenn die Schule wenig tut, sollte man den schulpsychologischen Dienst oder die Schulaufsicht einschalten. Bei Cybermobbing, sagt Elpers, würden Kinder und Jugendliche häufig alleingelassen.
Für die Gesamtschul-Lehrerin ist die digitale Welt ein „Graubereich“, bei dem es hilft, die Eltern mit einzuschalten. Diese sollten „zu einem gewissen Maße“ kontrollieren, was das Kind digital macht – „vor allem wenn es unter 14 ist und rechtlich noch kein Whatsapp benutzen darf“. Den Eltern ihrer Klasse hätte ein Termin mit einer Rechtsanwältin geholfen, die ihnen erklärte, was man tun könne, wenn Fotos oder ein demütigender Post auf Social Media herumgeschickt würden. Im Ernstfall muss der Betreiber der Plattform kontaktiert werden, damit das Foto gelöscht wird. Wäre der komplette Rückzug von der digitalen Welt die Lösung? Elpers, die Lehrerin und Norman Wolf sind sich einig: eher nicht.
Deswegen entwirft die Lehrerin zusammen mit ihren Schülern und Schülerinnen Regeln für den Klassenchat: Zum Beispiel, dass keine Nachrichten mehr nach sechs Uhr abends kommen, von Sprachnachrichten abgesehen wird oder nur etwas mit Bezug zur Schule geschrieben wird.
Politik und Prävention
Norman Wolf kann die Zeit nicht zurückdrehen. Aber er kann versuchen, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, in den Strudel aus Hass und Zweifel zu geraten. „Ich kann meine Geschichte an Schulen erzählen, “ sagt er. Hat er von seinen Erfahrungen berichtet, lässt er die Schüler reden. Die meisten Kinder und Jugendlichen erzählen dann von länger zurückliegenden Erfahrungen, zum Beispiel aus der Grundschule. Auch das kann helfen: „In dem Moment, wo Kinder und Jugendliche sich verwundbar machen, rücken sie ein Stückchen zusammen“, sagt Wolf. Da finge der eine an zu weinen, der andere hole ein Taschentuch raus, und dann gebe es „von links und von rechts eine Umarmung“. Wolf hofft, damit die Kinder und Jugendlichen zu stärken.
Aber nicht nur darüber zu reden, wenn bereits etwas geschehen ist, ist wichtig. Die Politik müsse, fordert Psychiater Michael Elpers, viel mehr in Präventionsarbeit investieren. Bei Initiativen wie dem Medienprojekt Wuppertal könnten die Kinder etwa eigene Filme zum Beispiel über Mobbing drehen. Dies helfe laut Elpers, die Kinder zu sensibilisieren, aber nicht einzelne Täter und Täterinnen an den Pranger zu stellen. Mobbing ist nicht nur das Problem von Eltern, Lehrkräften oder einzelnen Schulen – es muss ein grundlegender Wandel passieren.
Der Artikel ist zunächst im Januar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.