2023 muss Deutschland zeigen, ob es die Verkehrswende will
Mobilität ist eines der großen Themen für 2023. Das 49-Euro-Ticket kommt, aber sonst steckt die Verkehrswende an vielen Stellen fest: Wie geht es weiter mit Tempolimit, Gebühren für Parkplätze, mehr Platz für Radwege? Hinzu kommt die Klimakrise: Der Verkehrssektor hat auch 2022 die Klimaziele verfehlt. Eine Analyse
Wenn Moderatoren derzeit Klimaforscher zum Interview bitten, fallen aktuell deutliche Worte. Mojib Latif regte sich am Sonntag bei Anne Will über die Untätigkeit beim Klimaschutz auf. „Wir wollen uns von gar nichts verabschieden“, klagte der Professor, der am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung arbeitet. Diese Haltung sei nicht mehr akzeptabel. „Wir müssen endlich mal hart sein“, forderte der Meteorologe. Vier Tage vorher explodierte Niklas Höhne, Gründer des NewClimate-Instituts in Köln, im Heute Journal. „Wir müssten komplett umsteuern, in einen Notfallmodus geraten und nicht mehr diese halbherzigen Kompromisse machen“, sagte der Physiker.
Die Reaktionen darauf sind heftig. So musste sich Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber von der CDU-Landtagsabgeordneten Saskia Ludwig als „Ökofaschist“ beschimpfen lassen, nur weil er die Einführung eines Budgets von drei Tonnen CO2 pro Jahr und Person empfohlen hatte. „Es geht darum, dass sie uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben haben“, giftete die Potsdamer Abgeordnete. Ludwig hat ihren Tweet mittlerweile gelöscht, hält Schellnhubers Vorschlag aber weiterhin für den falschen Weg, er sei sogar „gefährlich“.
Deutschland verfehlt Klimaziele
Diese Auseinandersetzungen sind ein Vorgeschmack dessen, was uns 2023 erwartet. Die Klimadebatte wird lauter werden, und der Verkehr im Mittelpunkt stehen. Deutschland hat 2022 seine Klimaziele verfehlt. Nach einer vorläufigen Bilanz des Thinktanks Agora Energiewende sind die CO2-Emissionen nicht gesunken. Deutschland produzierte 761 Millionen Tonnen Treibhausgas und damit fast genauso viel wie 2021. Schuld sei der verstärkte Einsatz von Kohlekraftwerken durch die Gaskrise infolge des Angriffskrieges auf die Ukraine. Das mag eine plausible Erklärung sein, doch der Klimawandel lässt sich von guten Entschuldigungen nicht bremsen. Obwohl Kohlekraftwerke reaktiviert werden mussten, konnten der Energiesektor und die viel gescholtene Industrie den Berechnungen zufolge die gesteckten Ziele erfüllen.
Auto: Freiheit oder gescheiterte Klimapolitik
Das chronische Problem der deutschen Klimapolitik bleibt der Verkehrssektor, der für etwa 20 Prozent der Emissionen verantwortlich ist. Das Auto ist längst zu einem extremen Symbol geworden: Für die einen steht es für die Freiheit der persönlichen Entscheidung und des gewollten Luxus, für die anderen ist es das Abbild einer gescheiterten Klima- und Mobilitätspolitik. Irgendwo dazwischen bewegen sich all diejenigen, die es täglich nutzen müssen, obwohl sie vielleicht gar nicht Autofahren wollen.
Diese Polarisierung verhindert lösungsorientierte Diskussionen, die Provokationen wachsen mit der Enttäuschung über den Stillstand in der Verkehrspolitik. Nun kleben sich Klimaaktivisten auf Autobahnen fest und werden danach als Terroristen und Kriminelle beschimpft. Diese Art der Proteste wird sich fortsetzen, der Autoverkehr ist ein leichtes Ziel für kreativen Widerstand. Allerdings diskutiert das Land mehr darüber, welche Form des Protestes noch akzeptabel ist als über das eigentliche Problem – die Lösung der Klimakrise. Das war bei den Fridays-for-Future-Demonstrationen ganz ähnlich. Sie wurden oft darauf reduziert, ob Schüler und Schülerinnen dafür den Unterricht schwänzen dürfen. Doch wir müssen nicht über Klimaaktivismus diskutieren, sondern die Treibhausgasemissionen senken – und der Verkehr spielt dabei eine zentrale Rolle.
Gerichte entscheiden über Klimaklagen
Auch die Gerichte beschäftigen sich damit. In den Niederlanden wurde der Staat bereits 2018 per Gerichtsurteil zu mehr Klimaschutz verurteilt, in Deutschland könnten die Verfassungsrichter in diesem Jahr über ähnliche Klagen entscheiden.
Der heftige Streit ums Auto wird von weiteren Faktoren befeuert. Autos benötigen viel Platz, selbst wenn sie nicht zu ihrem eigentlichen Zweck benutzt werden. Dagegen wehren sich vor allem die Bewohner von Städten, die nicht länger bereits sind, kostbare Flächen als Parkplätze herzugeben. Daneben ist Autofahren eine soziale Frage. Vom Ausbau von Straßen und Parkflächen profitieren wohlhabendere Menschen stärker als arme. 23 Prozente der Haushalte besitzen kein Auto, die meisten davon haben einen niedrigen ökonomischen Status. Sie sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Auch wer aus Überzeugung auf Bus und Bahn umsteigt, muss gute Nerven haben. Ist es gerecht, wenn AutofahrerInnen im Winter mit Sitzheizung zur Arbeit fahren und bequem im Parkhaus aussteigen können, während ÖPNV-NutzerInnen durch den Regen von der Haltestelle zum Job stapfen müssen, obwohl sie die bessere Öko-Bilanz haben? Warum wird der Umstieg auf ein Elektrofahrzeug vom Staat belohnt, der völlige Verzicht auf ein Auto jedoch nicht?
Bahnreisende stärker belastet
Fahrgäste von Bus und Bahn können über die Sorge um teureren Sprit nur lachen, denn sie zahlen bereits Jahr für Jahr mehr. Die Ticketpreise stiegen seit 2000 deutlich stärker als die Kosten fürs Auto. Auch die Klage der Auto-Pendler über Staus muss man relativieren. Der Dienstleister Inrix hat ermittelt, dass Pendler im Jahr 2022 durchschnittlich 40 Stunden im Stau standen. Bei 210 Arbeitstagen ergeben sich daraus 5, 7 Minuten pro Tag, diese Verspätung wird bei der Deutschen Bahn noch als pünktlich gewertet. Wenn Medien solche Staumeldungen unreflektiert übernehmen, liefert das einen Impuls für die Forderung nach breiteren Straßen und mehr Autobahnen.
Sozial ungerecht ist auch das so genannte Dienstwagenprivileg, das regelt, wie die private Nutzung eines vom Arbeitgeber gestellten Fahrzeugs steuerlich zu bewerten ist. Viele ExpertInnen sehen darin eine Subvention, die de facto überwiegend einkommensstarken Beschäftigten zugutekommt. Demnach unterstützt der Staat die Autonutzung jährlich mit drei bis fünf Milliarden Euro. Auch hier zeigt sich die vergiftete Atmosphäre der Debatte. Manche KommentatorInnen halten das Wort Dienstwagenprivileg für einen unzutreffenden Kampfbegriff der Öko-Lobby, weil die Fahrenden gar nicht profitieren würden. Tatsächlich fällt der Vorteil je nach Auto, Kilometerleistung und Nutzungsdauer unterschiedlich aus, wie Agora in einer ausführlichen Analyse ermittelt hat. Man kann aber sagen: Die große Mehrzahl der DienstwagenfahrerInnen profitiert. Wenn die Bereitstellung eines Autos finanziell attraktiv ist, fällt der Umstieg auf andere, klimafreundlichere Verkehrsmittel schwer. Daran wird sich aber wohl erstmal nichts ändern. Eine wesentliche Neuausrichtung der Dienstwagenbesteuerung ist im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen.
Elektroauto aber keine Photovoltaik?
Dass die deutsche Autoflotte auf Stromantrieb umgestellt werden soll, ist nur ein scheinbarer Erfolg. Falls es gelingt, dass 2030 die geplanten 15 Millionen E-Autos fahren, werden noch immer 35 Millionen Verbrenner unterwegs sein. Und warum kaufen sich die E-Autobesitzer nicht gleichzeitig eine Photovoltaikanlage für das Garagendach, damit sie wenigstens einen Teil des Stroms ökologisch erzeugen können? Das ist wohl kaum das, was Klimaforscher als komplett umsteuern bezeichnen.
Die Erwartungen, dass das deutschlandweite 49-Euro-Ticket ab Mai die Pendler in Bus und Bahn umsteigen lässt, sind eher gering. Immerhin ist das Ticket für Menschen mit niedrigen Einkommen ein Lichtblick, weil diese nun auch ohne Auto längere Fahrten zurücklegen können. Ein einfaches Ticket von Düsseldorf nach Köln kostet beispielsweise mehr als zwölf Euro, zwei Tagesauflüge machen das Angebot schon rentabel. Dazu muss es günstige Möglichkeiten geben, ein Fahrrad mitzunehmen, um vom Bahnhof schnell zum Ziel zu kommen. sonst sorgt der häufig schlechte Nahverkehr für Frust am Zielort.
49-Euro-Ticket als Wettbewerbsvorteil
Die eigentliche Sensation ist aber die bundesweite Gültigkeit. In Deutschland ist es in kurzer Zeit gelungen, die jahrzehntelang in Beton gegossene Struktur der Verkehrsverbünde mit ihrem Tarifdschungel aufzubrechen. „Damit beseitigen wir einen Wettbewerbsvorteil des Autos“, sagt Bahn-Vorständin Evelyn Palla. Solche Veränderungen benötigt eine Verkehrswende, die ihren Namen verdient.
Doch die deutsche Mobilitätspolitik steckt im Stau. Die CO2-Belastung durch private Pkw ist seit Jahren nicht gesunken. Dabei gibt es längst viele Vorbilder, die Orientierung bieten, wenn eigene Ideen fehlen. Politische Delegationen reisen nach Kopenhagen, Paris, Barcelona, Amsterdam, Utrecht und in andere europäische Städte, um sich anzuschauen, wie die Vielfalt der Verkehrsmittel gefördert werden kann. All diese Städte machen vor, dass moderne Stadtplanung zu mehr Lebensqualität führt – und die Abkehr vom Auto keineswegs zum Einbruch der Wirtschaftskraft führt.
Aber ein deutsches Leuchtturmprojekt fehlt, es ist noch nicht einmal eins in Aussicht.
Wenig Fortschritte bei Mobilität
Hierzulande werden zwar inzwischen fleißíg neue Radwege gebaut. Die Trägheit der Mobilitätswende zeigt sich daran, dass eine einzige neue Verkehrsampel es bis in die Nachrichten schafft: Beispielsweise in Düsseldorf: Auf einem vielbefahrenen Radweg zeigt eine Ampel nun Dauergrün für das Fahrrad, und Autofahrende müssen geduldig warten und Grün anfordern. Sonst ist es in aller Regel andersherum. In Karlsruhe sind zwei Fußgängerampeln mit dieser Idee nachrichtenfähig. Alternative technische Entwicklungen spielen in deutschen Medien dagegen kaum eine Rolle: Beispielsweise das niederländische Start-up Lightyear, das binnen sechs Jahren ein Auto zur Serienreife geführt hat, das dank eingebauter Solarzellen einen Großteil seines Energiebedarfs direkt aus der Sonne speist.
Der Grund dafür ist ebenso einfach wie offensichtlich: Es fehlt der politische Wille für einen echten Wandel und der Druck aus der Bevölkerung ist noch nicht groß genug. Doch viele Lokalpolitiker und Amtsträger in den Landtagen müssen 2023 Farbe bekennen. Die Städte bekommen mehr Befugnisse. Sie können zum Beispiel die Gebühren für Anwohnerparkausweise erhöhen. Politiker in Freiburg haben das getan. Seit April kosten dort Bewohnerparkausweise 240 statt bisher 30 Euro im Jahr, BesitzerInnen größerer Wagen zahlen sogar 480 Euro. Auch Parken für Besucher wird teurer. So will die Stadt die Zahl der Autos in der City begrenzen. In deutschen Ohren klingt das dramatisch, Städte im Ausland sind schon längst weiter. Amsterdam reduziert beispielsweise die Zahl der Parkerlaubnisse alle sechs Monate um 1, 1 Prozent. Trotzdem hat die Stadt auch für Niederländer nicht an Attraktivität verloren.
Anwohnerparken und Parkgebühren teurer
Genauso intensiv werden die Städte die Debatte führen, welchem Verkehrsmittel welche Fläche gewährt wird. Das Auto ist nämlich wegen seines hohen Platzbedarfs zum Parken ein sehr ineffizientes Verkehrsmittel. In Berlin beispielsweise absolvieren Pkw 40 Prozent der Wegekilometer, aber sie benötigen dafür 80 Prozent des öffentlichen Raumes. Um ausreichend Platz für neue Radwege zu haben, müssen Parkplätze wegfallen oder Fahrspuren für Autos umgewidmet werden.
Zudem müssen die Städte entscheiden, wer den Takt in der Stadt vorgibt. Bisher fahren viele Radfahrende von einer roten Ampel zur nächsten, weil die Ampelschaltung den Herzschlag des Autoverkehrs folgt. In Kopenhagen ist das anders, Fahrräder kommen schneller voran als Pkw, ein guter Grund für den Umstieg.
Solche Eingriffe führen zu Widerständen, andererseits trauen sich die Menschen ohne sichere Radwege nicht aufs Rad. Allen kann man es nicht recht machen, wir müssen uns von etwas verabschieden, wie Mojib Latif ganz richtig sagt.
Verkehrspolitiker müssen Farbe bekennen
2023 wird das Jahr, in dem Deutschland mit vielen kleinen und großen Entscheidungen zeigen kann, ob es die Verkehrswende ernst nimmt oder ob sie eine Phrase bleibt. Wird wieder mehr Energie in Debatten investiert als in die Umsetzung? Derzeit streiten beispielsweise Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) um die Beschleunigung von Planungsverfahren. Das Umweltressort pocht darauf, dass vor allem klimaschonende Infrastruktur wie Schienen schneller als bisher geplant und gebaut werden müsse. Verkehrsminister Wissing ist dagegen der Ansicht, dass eine Straße nicht per se klimaschädlich sei.
„Wir müssen jetzt so schnell wie möglich Treibhausgasemissionen reduzieren“, sagt Klimaforscher Niklas Höhne und fordert beispielsweise ein sofortiges Tempolimit. „Es geht darum, ob wir bereit sind als Gesellschaft ambitionierte Klimapolitik zu machen.“ Aus klimapolitischer Sicht könne man sich keine Kompromisse mehr leisten, sagt er. „Ich werde ungeduldig und insbesondere mehr und mehr besorgt ob der nahenden Klimakatastrophe, die wirklich existenzbedrohend ist“, sagt Niklas Höhne. Fakten zur Bedrohung durch den Kohlendioxid-Ausstoß für die Menschheit gibt es genug. Höhne fragt sich, was Wissenschaft noch tun könne. Sein Fazit: „Auf alle Fälle lauter werden, das scheint gerade zu passieren“.